Letzte Tage. Matthias Eckoldt

Letzte Tage - Matthias Eckoldt


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will nur eins, Toni. Ich will, dass wir uns richtig verstehen: Die Sache ist bereits entschieden.« Bornemeyer legte Toni die Hand auf den Unterarm. »Und wenn Ihnen das Kopfschmerzen bereitet, können Sie jederzeit aussteigen. Ich habe schon mal eine Vertragsaufhebung vorbereiten lassen.«

      Toni starrte auf das Schriftstück: Einzelne Worte, die keinen Sinn ergaben. Als er seinen Namen las, winkte er ab und schob Bornemeyers Arm von sich.

      »Nehmen Sie nur, Toni. Denken Sie in Ruhe nach! Ihnen stehen alle Möglichkeiten offen.« Als Toni nicht reagierte, faltete Bornemeyer das Blatt zusammen und steckte es ihm in die Hemdtasche.

      »Entscheiden Sie sich! Ich höre morgen von Ihnen. Bis vierundzwanzig Uhr!«, rief er ihm nach.

      Toni zerknüllte den Vertrag. Er würde kämpfen. Runde um Runde. So wie er es immer getan hatte: Leben oder Tod. Bloß nicht auf die Knie gehen! Fragte sich nur, was in seiner Situation Leben hieß, was Tod? Es war alles nicht mehr so einfach wie damals im Ring. Brauchte er etwa ein neues Lebensmotto?

      Toni zielte auf den Papierkorb. Wenn ich treffe, wird alles gut, sagte er sich. Aber noch vor dem Abwurf rief er: »Nein! Gar nichts hängt davon ab! Ist egal, ob ich treffe oder nicht!«

      Dann warf er. Der Papierball fiel auf den Rand und rollte auf den Teppich. Blödsinniger Aberglaube! Was war das überhaupt für ein merkwürdiger Wunsch, dass alles gut werden sollte? Kindern könnte man so einen Traum nachsehen, aber einem Fünfzigjährigen? Toni lachte kopfschüttelnd. Als ob er es nicht besser wüsste: Wenn man einmal entspannt ausatmete, war das wohlige Stöhnen noch nicht verklungen, da ging’s schon wieder ans Einatmen.

      Toni glättete den Aufhebungsvertrag an der Schreibtischkante. Vielleicht konnte er ihm doch noch nützen!

      Im neuen Deutschland wollte Toni mit seinen Boxern zu den Profis wechseln. Sie sollten es mal besser treffen als er. Im Herbst 1974 hatte Toni jeden Gegner in seiner Gewichtsklasse weggeknallt. Er war Landesmeister! Die Siegerehrung sollte am nächsten Morgen stattfinden. Toni klopfte an die Zimmertür eines Funktionärs, der im selben Hotel untergebracht war. Ein Doppelkinn erschien, schüttelte ihm in Morgenmantel, Badelatschen, Socken und Feinrippunterhemd die Hand und kramte eine Urkunde aus seinem Koffer. »Weiter so, Genosse!« Toni nickte und ging. Auf dem Flur kam ihm der Landesmeister im Schwergewicht entgegen. Ihm stand dieselbe Enttäuschung bevor. Da rackerte man täglich, dass die Muskeln brannten, träumte nachts von den Kombinationen, die man in den Sandsack geschlagen hatte, bis einen die Beine nicht mehr hielten, aß seit Jahren nicht nach Appetit, sondern nach Plan, kämpfte sich schließlich durch ein mörderisches Turnier mit vier Begegnungen pro Tag und zum Dank bekam man von diesem Waschlappen ein Blatt Papier in die Hand gedrückt. Eine gottverfluchte Mäusescheiße war das.

      Toni erinnerte sich genau daran, wie er erwartet hatte, dass sich mit diesem ersten Titel etwas änderte, und sei es, dass ihm die Kassiererin im Geschäft zulächelte oder sein Nachbar ihm sagte, dass er ein Bild von ihm auf der Sportseite der Zeitung gesehen hatte, oder ihm die Blumenverkäuferin einfach so eine Aster schenkte. Nichts geschah. Nur Irina freute sich mit ihm. Sie gingen in die Gaststätte, die zu ihrer Wohnsiedlung gehörte. Eine halbe Stunde standen sie an der Tür, dann wurden sie zu einem anderen Paar an den Tisch gesetzt. Sie arbeitete in der Wäscherei, er auf dem Bau. Als Toni sagte, dass er Boxer sei, winkte sein Gegenüber ab: »Durchs Boxen ist noch kein einziges Haus gebaut worden. Du bist ’n kräftiger Kerl. Komm doch zu uns!«

      Toni hoffte, dass seine Frau von seinem Titel bei den DDR-Meisterschaften erzählte. Aber sie schwieg. Was hätte das auch geändert?

      »Oder ihr steigt mal bei uns in den Ring?«

      »Wozu?«, der Bauarbeiter knallte seine gewaltige Pranke auf den Tisch. Die Finger hellgrau vom Beton. »Mit seinen Händen soll man etwas aufbauen und nicht anderen in die Fresse schlagen!«

      Toni kaute stumm an seinem »Steak Letscho«. Irina hatte einen Rinderbraten mit Rot- und Weißkohlsalat vor sich stehen, weil es die »Königsberger Klopse«, die sie in der Regel aß, am heutigen Abend nicht mehr gab. Sie gingen bald. Um fünf Uhr klingelte der Wecker.

      Niemand wollte damals etwas davon wissen, dass er der beste Mittelgewichtsboxer in seinem Land war. Er bekam eine Woche Sonderurlaub, dann gings ab ins nächste Trainingslager. Alles für Ehre und Vaterland.

      Als sich schließlich auch noch das Vaterland wie ein belangloser Traum am Morgen verflüchtigte, musste Toni handeln. Mit dem Rücken in den Seilen. Denn eins war klar: Wenn er nichts unternahm, würde er mit dem Land untergehen, für das er sich einst die Nase hatte platt schlagen lassen. Die Kinder- und Jugendsportschule wurde »abgewickelt«. Das hörte sich zwar nach einem überlegten Verfahren an, hieß für ihn jedoch, dass er bald arbeitslos wäre.

      Doch Toni ging nicht zum Amt, sondern ins Interconti. Es hatte etwas gedauert, bis ihm klar wurde, dass der freundliche Uniformierte am Eingang nicht seinen Ausweis, sondern seinen Mantel haben wollte. Beim Ausziehen blieb der Knopf seines Jacketts im Ärmel hängen und riss das löchrige Futter auf. Toni entschuldigte sich. Wofür eigentlich, fragte er sich später. Dafür, dass seine Sachen plötzlich wirkten, als hätte er sie aus einer Kleidertonne geholt, dafür, dass er noch nie in einem Hotel war, in dem eine einzige Übernachtung mehr kostete als sein verrostetes Auto, mit dem er sich in diese Welt der glänzenden Porsches und breitkrempigen Hüte, der roten Schals und goldenen Krawattennadeln eingeschlichen hatte, in eine Welt, die überhaupt nichts von einem, wie er es war, zu wissen schien?

      Der Portier entschuldigte sich ebenfalls, nuschelte etwas von Wäschedienst und Kleiderservice und verschwand mit Tonis Mantel.

      »Ich nehme einen Kaffee und ein Wasser!«, sagte Bornemeyer. Toni nickte, als die Kellnerin zu ihm sah.

      Bornemeyer war sein Mann, dachte Toni damals. Er hatte schon einen Fernsehtypen kennen gelernt, der etwas mit Boxen zu tun hatte. Ein absoluter Knallkopf. Wollte unbedingt mit ihm Champagner trinken. Boxen und Champagner gehöre im Westen zusammen, hatte er getönt. Aber Toni rührte seit Jahren keinen Alkohol mehr an. Champagner hätte er jedoch auch früher nicht getrunken. Das Zeug schmeckte für ihn einfach nur nach Sodbrennen. Wenn Alkohol, dann richtig. Schnaps und Weinbrand. Nicht vier oder etwa nur zwei Zentiliter, sondern eine ganze Pulle. Sonst konnte man einfach Wasser trinken. Toni hatte seine Chancen im Profigeschäft schwinden sehen. Wenn dieser Angeber nicht einmal kapierte, dass es für Toni verheerend war, Alkohol zu trinken, was würde der dann überhaupt kapieren? Keine guten Karten für eine Zusammenarbeit. Toni wollte nicht andauernd, wenn er sich mit seinem Arbeitgeber traf, nach Gefäßen suchen, in denen er unauffällig Champagner entsorgen konnte, außerdem wollte er von niemandem abhängig sein, der Goldketten trug, einen Ring im Ohrläppchen hatte, unsinnig braun war und idiotisch große Zigarren rauchte.

      Da passte Bornemeyer besser zu ihm. Er hatte sich nur einen Tag nach dem Gespräch mit dem Fernsehtypen gemeldet. Ja, Kaffee und Wasser. Das waren die Grundlagen für ein vernünftiges Gespräch:

      »Wissen Sie, Toni, ich darf Sie doch Toni nennen? Wissen Sie, was mich am Boxen so fasziniert?«

      Das große Geld, dachte Toni, während er höflich seinen Kopf schüttelte.

      »Die Wut! Verstehen Sie? Diese unglaubliche Wut der jungen Kerle, mit der sie aufeinander einschlagen. Wut, die so kaltblütig macht, dass sie einem schwankenden Gegner noch einmal vors Kinn schlagen. Wenn er dann endgültig fällt, versuchen sie die Schläfe zu treffen und den Hinterkopf. Sie wollen in diesem Moment töten. Ein Blutrausch, der sie alle Regeln ihrer Gattung vergessen lässt. Doch das ist noch nicht das Größte, Toni!« Bornemeyer nahm der Kellnerin die Tasse vom Tablett und stürzte den dampfenden Kaffee hinunter. Kein Fluchen. Kein Aufschrei. Nur ein kräftiges Ausatmen, als hätte er sich einer üblen Sache entledigt.

      »Das Größte bei der Sache ist, dass die Jungs Brüder sind. Wie sie sich umarmen, wie sich der Sieger zum Geschlagenen hockt und ihm aufhilft. Das ist das Größte. Die Boxer erschlagen im Rausch ihrer Wut den Bruder, verdammt. Sie schlagen sich in die eigene Fresse, bis sie blutet.«

      Toni nippte an seinem Kaffee.

      »Sind Ihre Boxer wütend?«, fragte Bornemeyer.

      Toni


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