Letzte Tage. Matthias Eckoldt

Letzte Tage - Matthias Eckoldt


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ihm klar, dass er sich nicht gegen Rico entscheiden konnte.

      NARBEN

      Irina stand vorm Spiegel im Bad und klebte sich Pads unter die Augen. Zwanzig Minuten mussten sie einwirken, dann war die Haut dort satt und weich. Die Krähenfüße verschwanden für ein paar Stunden. Ihre Haare hatte sie nach hinten gekämmt und zusammengenommen. Die strenge Balletttänzerin, sagte Toni oft, wenn sie diese Frisur trug.

      Rico sah gerade ein Video in seinem Zimmer. In der Regel schlief er dabei ein. Toni war fortgegangen, doch auch wenn er zu Hause geblieben wäre, hätte er sich bald in sein Zimmer verzogen. Irina hatte sich oft gefragt, für wen sie eigentlich ihre Falten glättete, für wen sie die Härchen an den Augenbrauen ausriss, sich das Dekolleté massieren ließ, für wen sie zur Kosmetik und zur Maniküre ging. Für Toni, der nichts außer Boxen im Kopf hatte? Für Rico, den wohl eher die Mädchen in seinem Alter interessierten? Für die Männer auf der Straße, deren nervöse Blicke nirgends haften blieben? Nein! Sie pflegte sich nur für sich selbst, für diesen Moment prickelnder Freude, wenn sie ihr geschminktes Gesicht im Spiegel sah. Dann schaute sie die vierundzwanzigjährige Irina an, frisch verliebt in einen Medizinstudenten. Georg, ihr erster Freund. Es war alles so aufregend damals, selbst noch, wenn er bis nachts über seinen Büchern saß. Dann lag sie auf der Couch in dem kleinen, möblierten Zimmer und freute sich darüber, dass endlich ihr wirkliches Leben begann. Sie hatte sich so lange schon gewünscht, erwachsen zu werden, auf niemanden mehr hören zu müssen, außer auf ihre eigene innere Stimme. Wenn Georg sein Staatsexamen geschafft hatte, wollten sie heiraten.

      Doch dann kam Toni. Stark. Unverschämt. Überwältigend. Irina versuchte gegen ihre Gefühle anzukämpfen, aber eigentlich war es bereits entschieden, als Toni ihr in der Kaufhalle eine Tüte Mehl aufhob, die ihr aus den Händen gerutscht war. Abends lagen Blumen vor ihrer Tür. Ein wild gepflückter Strauß mit Löwenzahn und Grashalmen, dazu ein Zettel, eine Einladung ins Kino in krakeliger Schrift. Als Georg gar nicht eifersüchtig wurde, fragte sie ihn, ob er etwas dagegen habe, wenn sie ausging. Sie erwog es nicht ernsthaft, aber Georg ließ ihr gar keine andere Chance, als er mit den Schultern zuckte und sagte, dass er ohnehin noch lernen müsse.

      An den Film konnte sie sich schon nicht mehr erinnern, als sie aus dem Kino kamen. Kaum war das Licht ausgegangen, hatte Toni einfach seinen Arm um sie gelegt. Er roch gut, und sie konnte diesem Mann, der sich einfach nahm, was er wollte, nicht widerstehen, sie schaffte es gerade noch bis zur Hälfte des Films, seinen Lippen auszuweichen.

      Irina war überrascht, als Georg vor dem Kino stand. Er redete auf sie ein, redete und redete. Nach einer Weile nahm Toni, ohne ein Wort zu sagen, Georg die Brille von der Nase und schlug ein Mal zu. Kurz, trocken, wirkungsvoll. Irina erinnerte sich noch genau, wie sie sich zu ihrem Freund hockte, der sich am Boden krümmte. Sie wollte ihn trösten, musste aber die ganze Zeit mit dem Lachen kämpfen, weil es so komisch aussah, wie Toni die Brille in der Hand hielt und nicht recht wusste, wohin er nun damit sollte. Als die drei sich wieder gegenüberstanden, nahm Georg seine Brille und verschwand. Ein halbes Jahr später gab sie Toni das Jawort.

      Vielleicht, dachte Irina, während sie die Pads abzog, machte sie sich ja doch nach wie vor für Toni schön, damit er noch einmal für sie zuschlug. Nicht dass sie Gewalt mochte, bei den Boxkämpfen legte sie immer ihre gespreizten Finger vor die Augen, um rasch zuziehen zu können, wenn einer der Boxer seinen Gegner traf. Nein, sie sehnte sich nicht nach der Gewalt, sondern nach der Klarheit dieses einen Schlags. Wie viele Worte hätten sie damals vor dem Kino wechseln können, ohne das Geringste zu erreichen. Sie hätten sich in Missverständnissen aufgerieben. Tonis gut gezielten Schlag dagegen konnte man nicht missverstehen. Er sagte klar und deutlich: »Ich bin ab jetzt Irinas Mann, ob dir das passt oder nicht. Du kannst mit mir um sie kämpfen. Aber am Klügsten ist es, du verschwindest einfach!« Mehr gab es dazu auch nicht zu sagen. All das Gerede von Schuld und Besserung und neuer Chance, von Hoffnungen, Leiden und Zukunftsvisionen hatte ihr Toni durch seinen rechten Haken erspart.

      In ihrem Eheleben war nicht alles so einfach zu lösen. Wie oft hatte sie sich gewünscht, Toni würde ihre Probleme mit einem Schlag wegwischen, aber er konnte es nicht. Stattdessen saß er da mit starrem Blick und grübelte vor sich hin. Sie hatte in all den Jahren kein Mittel gefunden, dann noch zu ihm vorzudringen. Ihretwegen hätte er auch mit seinen Fäusten auf den Tisch einschlagen und laut fluchen können. Oder mal Gläser an die Wand schmeißen und ein paar Türen zuschlagen. Damit hätte sie umgehen können, aber nicht mit diesem herzlosen Schweigen, in dem Toni gefangen war. Es machte sie wütend und hilflos zugleich, wenn sie merkte, wie sich Toni in eine andere Welt flüchtete, obwohl er mit ihr im selben Raum saß. Ihr war dann, als ob sie mit einem Fremden zusammenlebte, über dessen Abgründe und Geheimnisse sie nichts wusste.

      Besonders schlimm wurde es, als sie die Kinder- und Jugendsportschule schlossen. Da beachtete Toni sie über mehrere Wochen überhaupt nicht. Wenn sie sich ihm in ihrer Verzweiflung in den Weg stellte, flüsterte er nur »Lass gut sein!« und schob sie beiseite. Wahrscheinlich dachte er, dass sie ihm ohnehin nicht helfen konnte, da sie nichts vom Boxen verstand. Dass es darum nicht ging, begriff er nicht, auch nicht in jenen Phasen, in denen sie gut miteinander auskamen. Vielleicht waren Männer so, dachte Irina, sie sahen immer zuerst das sachliche Problem und versuchten es zu lösen, ohne auf ihre Inneres zu achten. Das machte ja letztlich auch ihre Stärke aus, und die liebte sie an Toni, auch wenn ihn seine ewige Leugnung der Gefühle beinahe schon mal das Leben gekostet hatte. Damals, als er sich mit immer mehr Wodka betäubte, anstatt zuzugeben, dass er eifersüchtig war.

      Nachdem Toni sich das erste Mal ins Delirium getrunken hatte und sie ihn nur mit Mühe aus der Psychiatrie herausbekam, brach sie sofort ihre Affäre ab. Sie riss sich Roland aus dem Herzen. Um Tonis Leben zu retten, sah sie diesen feinsinnigen, betörend schüchternen Mann nie wieder, nicht einmal wenn Toni wochenlang fort war. Sie hatte verstanden, dass Männer wie ihr Boxer einen geschützten Raum brauchten, um ihre Stärke entfalten zu können. Toni musste sich sicher sein, dass seine Frau ihn uneingeschränkt bewunderte. Er konnte nur dann für sie hinaus in die Welt ziehen, wenn sie zu Hause nichts anderes tat, als auf die Nachrichten von seinen Siegen zu warten. Gab es für Toni nur den geringsten Anlass, daran zu zweifeln, fiel er in sich zusammen. Aus dem stolzen Boxer wurde in wenigen Wochen ein erbärmlicher Trinker, eine hilflose Person, die zwei Pfleger abschätzig in einen Krankenwagen schoben.

      Toni hörte erst mit dem Saufen auf, nachdem sie ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass er sie endgültig verlieren würde, wenn er nicht sofort die Finger vom Wodka ließ. Wie ein geschlagener Hund schlich er Tag um Tag zu seiner Therapiegruppe, aber mit jeder Woche, die er ohne Alkohol überlebte, ging Toni aufrechter. Er fing wieder an zu joggen. Als er nach einem halben Jahr die Boxerklasse der Kinder- und Jugendsportschule übernahm, verschwand auch der traurige Zug von Tonis Stirn, und er blinzelte nicht mehr immerfort, wenn er sie anblickte. Mit fröhlich geöffneten Augen mochte sie das Gesicht ihres Mannes sehr. Dann wirkten die schiefe Nase und die Narbe auf seiner Wange verwegen und männlich. Wenn er aber sorgenvoll schaute, färbte sich die Narbe rosa, und Toni sah ungesund, geradezu verängstigt aus.

      Irina warf die Pads in den kleinen Mülleimer im Bad und trug eine beruhigende Nachtcreme auf. Dann ging sie auf Zehenspitzen in Ricos Zimmer. Der Film lief noch. Einer dieser Actionthriller. Ein muskulöser Mann, der an den Schienen eines Hubschraubers hing, ließ sich gerade auf einem Hochhaus absetzen. Sie würde nie verstehen, wie man bei dieser Lautstärke schlafen konnte. Zärtlich löste sie die Fernbedienung aus Ricos rechter Hand und regelte den Ton stufenweise leiser. Als sie einmal die gesamte Anlage einfach ausgeschaltet hatte, war Rico nämlich hochgeschreckt. Jetzt schlief er fest und schnarchte. Es war nicht so ein hartes Altmännerschnarchen wie bei Toni, sondern klang unverbraucht, fast unschuldig. Sie drückte den roten Knopf, das Bild verschwand mit einem Knistern. Dann schob sie Ricos Lippen sanft zusammen und gab ihm einen Kuss. Im Schlaf war er so hinreißend wehrlos. Er knurrte leise, öffnete seinen Mund wieder, schnappte ein paar Mal nach Luft und schnarchte weiter.

      Toni wollte es damals nicht wahrhaben, dass sie keine eigenen Kinder bekommen sollten. Er ließ sich sogar eine Krampfader aus dem Hoden ziehen, weil ihm ein Arzt Hoffnung auf Fruchtbarkeit gemacht hatte. Wahrscheinlich schämte er sich für das, was er für ein Versagen


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