Letzte Tage. Matthias Eckoldt
war dabei nicht das Wichtigste. Die zählte vielleicht etwas bei den Amis, wo es für viele Schwarze einfach nur hieß: Box oder stirb. Aber nicht in Deutschland. Hier reichte es nicht, einfach draufzuschlagen und zu hoffen, dass der Gegner einknickte, bevor man mit der eigenen Kraft am Ende war.
»Ihre Boxer sind wütend. Ich hab sie gesehen. Alex geht durchs Blut. Das weiß ich. Der schlägt noch zu, wenn ihm jemand den Kopf weghaut. Das ist ein Boxer! Der hat eine ganz große Zukunft vor sich. Gerade im Halbschwergewicht gibt es kaum etwas Vergleichbares in Europa. Wenn wir ihn richtig aufbauen, kämpft der in ein paar Jahren um einen Weltmeistergürtel!«
Gerade Alex, dachte Toni, Alex sollte ein wütender Boxer sein? Alex hatte einen Schlag, um den ihn jeder Boxer beneidete. Klar. Präzise. Gnadenlos schnell. Wo er einschlug, war für lange Zeit nur Leere. Was aber machte Alex mit seiner schweren Rechten? Er hielt sie zurück. Drei, vier Runden lang arbeitete sie nur für die Deckung. Dann riss plötzlich eine Lücke auf beim Gegner, und Alex ließ sie raus. Auf die Leber. Abtauchen. Die Linke auf die Rippen, die Rechte auf die Nase. Mit dreihundert Kilo. Eins, zwei, drei. Und dann Wegducken, immer wieder wegducken. Selbst wenn der Gegner strauchelte. Wegducken. Bei jedem Training hundert Mal geübt. In diesen Aktionen lag in etwa so viel Wut wie bei einem Golfer, wenn er einlochte. Ein wenig anders war es vielleicht bei Rico.
»Bei Rico bin ich mir nicht so sicher. Er hat auch Wut, keine Frage. Aber ich weiß nicht, ob seine Wut für die ganz große Bühne ausreicht. Was meinen Sie, Toni?«
Rico war talentiert, aber faul. Toni musste ihn ständig triezen, denn er drückte sich, wo er nur konnte. Am Sandsack ließ er ganze Trainingseinheiten aus, wenn Toni nicht hinter ihm stand. Beim Laufen versuchte er abzukürzen. Selbst vor einem Kampf wollte er sich nicht warm machen. Ginge es nach Rico, käme er eine halbe Stunde vor dem ersten Gong in die Kabine, ließe sich die Hände wickeln und versuchte den Gegner möglichst noch in der ersten Runde umzuhauen. Punktsiege bedeuteten für ihn Folter.
»Für Rico lege ich meine Hand ins Feuer! Der Junge macht seinen Weg. Er ist ja gerade erst achtzehn«, hatte Toni geantwortet, damals im Interconti, während Bornemeyer die zweite Tasse Kaffee hinunterkippte. Drei Tassen später kaufte er Alex und Rico und Toni. Die monatlichen Zuwendungen waren so bemessen, dass sie sich auf das Training konzentrieren konnten. Die Börsen sollten sechzig zu vierzig geteilt werden.
Zum Abschied gab er Toni noch eine schwarz glänzende Papiertüte, aus der Schleifen und geringelte Bänder herausquollen.
»Was ganz Feines! Direktimport!« Bornemeyer zwinkerte ihm zu.
Zu Hause schnitt Toni die Bänder durch, riss Folie und Papier auf. Warum musste man im Westen eigentlich alles so umständlich einpacken? Als ob man dem Geschenk nicht recht traute. Oder geschah das nur, um klarzumachen, dass es besonders teuer gewesen war? Toni fand es einfach nur unpraktisch. Die russischen Schriftzeichen auf der Holzkiste ließen ihn aufstöhnen.
Lange genug hatten sie ihn mit dieser Sprache gequält. In der Schule und später dann wieder beim Trainerlehrgang. Aus Verbundenheit mit der Sowjetunion sollte man diese merkwürdigen Buchstaben bimsen. Weil die Russen Deutschland vom Faschismus befreit hatten. Und was war dann mit Englisch und Französisch und Amerikanisch? Toni sagte immer, wenn er ins Stocken geriet, weil sich manche Silbenkombinationen einfach nicht hintereinander sprechen ließen, dass er seine Verbundenheit mit der Sowjetunion eher durch das Boxen zum Ausdruck brachte. Das glaubte ihm natürlich niemand, aber so konnte er zumindest ein bisschen Zeit schinden.
Die Holzkiste ließ sich nicht öffnen, weil ein rotes Siegel an der Seite klebte. Toni polkte das Wachs ab und klappte den Deckel auf: Eine Flasche Schnaps. Wodka. Auch mit russischen Schriftzeichen: »Stolichnaya Elit Vodka«, stammelte Toni vor sich hin, während er mit dem Zeigefinger die Buchstaben entlangfuhr.
Was sollte er denn damit? Wegschütten würde er ihn nicht, denn das brächte Unglück, aber das Zeug hier in seinem Arbeitszimmer rumstehen zu lassen, das ging auch nicht. Wenn Irina die Pulle entdeckte, gäbe es richtig Ärger. Toni hebelte schließlich mit dem Schraubenzieher eine Leiste vom Türrahmen und stellte den »Direktimport« in den Hohlraum hinein. Gut, dass er es damals beim Einsetzen der Türen nicht so genau genommen hatte, dachte er, als er die Nägel wieder ins Holz schlug. In der Zarge war sein Vorrat sicher. Wozu brauchte er eigentlich einen Vorrat, er war doch weg von dem Zeug. Toni winkte ab und ging in den Heizungsraum, um die Kiste zu verbrennen.
Heute, gut vier Jahre später, zog Toni den Aufhebungsvertrag zwischen Unterarm und Schreibtischplatte hindurch, bis das Papier wieder glatt war. Als die Türklinke heruntergedrückt wurde, faltete er ihn rasch zusammen.
»Hättest uns wenigstens Hallo sagen können!« Irina stand in der Tür. Rico hinter ihr.
»Hallo!«, murmelte Toni.
»Hallo Trainer!«
»Ich muss noch ein bisschen was machen. Wollte euch nicht stören!«
»Wie rücksichtsvoll mein Mann doch ist!« Irina schlenderte durchs Zimmer. Die Haare musste sie frisch gefärbt haben, Toni konnte nicht eine graue Strähne entdecken. Ihre Wangen glühten, als käme sie gerade aus der Sauna. »Und, was fällt dir auf?«
Toni mürrisch: »Weiß nicht. Ein neuer Pullover?«
»Den habe ich seit drei Jahren!«
»Schuhe? Kette? Ohrring?« Toni kam alles neu vor an seiner Frau.
»Guck dir Rico an!« Irina strich ihm durchs Haar.
»Ihre Frau hat mir die Haare geschnitten!«, sagte Rico und wurde rot.
»Du wolltest das doch unbedingt!«
Toni schüttelte den Kopf: »Die Loden sollen richtig runter! Bürstenschnitt. Zwei Millimeter. Höchstens!«
»Findest du nicht auch, dass es richtig gut aussieht?«
»Trainiert Rico für ›Wetten dass?‹ oder für die Europameisterschaft?«
»Europameisterschaft?« Rico stürzte ins Zimmer. »Kriege ich endlich meinen Kampf, Trainer?«
»War nur so dahingesagt, Rico!« Toni schaute zur Zimmerecke.
»Echt?«
»Ja, echt!«
»Was wollte Big Boss denn dann?«, fragte Rico.
»Nichts weiter. Nur ein bisschen über den nächsten Kampf plaudern.«
»Macht er sich Sorgen um Alex?«
»Irgendwie schon«, knurrte Toni.
»Zu Recht. So wie der in letzter Zeit an der Uhr dreht! War doch richtig gut, dass er mal was auf die Lichter gekriegt hat!« Rico setzte sein Basecap auf.
»Zum Plaudern lässt er dich ins Büro kommen?« Irina schaute auf die Sachen, die am Boden lagen.
»Er ist eben auch nervös, nachdem Alex seinen Titel wieder verloren hat.« Toni legte den Aufhebungsvertrag ins oberste Schreibtischfach und schob es zu.
»Konntest du ihn beruhigen?« Irina richtete mit ihrem Fuß die Lampe wieder auf.
»Wen?«
»Na, Bornemeyer!«
»Ach so, jaja!«
»Komm Toni, sag uns, was los ist!«
»Nichts! Alles okay.«
»Du bist ein schlechter Lügner!« Irina nahm Tonis Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Nun sag schon, was du hast!«
»Ich? Nichts! Mir geht’s gut!« Toni drehte seinen Kopf weg.
»Da ist im Moment nichts zu machen.« Irina hob die Schultern. »Komm Rico, wir spielen weiter!«
»Nacht, Trainer!«
»Morgen früh sehen wir uns beim Training. Und zwar pünktlich!«
Beinahe hätte er sich verraten. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Karten gleich auf den Tisch zu packen. Rico die Hände auf die Schultern zu legen