Alle Lügen hört man sofort. Peter Fuhrmann
Journalist erfährt bei manchen Begegnungen oft sogar mehr als er die breite Öffentlichkeit wissen lässt. Von ihm allein hängt es ab, was er in seiner Berichterstattung davon preisgibt. Etwa nicht, dass ein vereinbartes Interview infolge eines plötzlichen Ehekrachs im Künstlerzimmer platzte; dass die Zumutbarkeit ihre Belastungsgrenze überstieg, weil der Maestro, ein Welt-Star, sich im Hotel nur in Hemd, Slip und Sockenhaltern auf ein Gespräch einließ; oder dass ein fürstlicher Konzertmanager samt Orchesterleiter den Kritiker, der anderer Meinung war, mit geballten Fäusten zu einer jubilierenden Konzertbesprechung drängen wollten. Auch sollte man eher die Gnade der Verschwiegenheit walten lassen, wenn bei einem Topkünstler mehrere Ansätze, Besuche und Versuche vergeblich waren, mit ihm einen druckfähigen Dialog zu führen. Eloquenz ist nun mal nicht jedermanns Sache. Über phänomenales Kunstvermögen befindet sie nicht. Denn Sympathie, Nähe oder Distanz werden im Umgang mit großen Persönlichkeiten von anderen Komponenten bestimmt. In ersten Begegnungen entfalten sie sich zuweilen unmittelbar.
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, dass Zuneigung und distanzierter Meinungsaustausch in dieser vielschichtigen und locker gebündelten Auslese einander nicht auszuschließen brauchen.
John Eliot Gardiner
BACHS MUSIK BESITZT ETWAS
SEHR GESUNDES
Einen Typ wie ihn trifft man in der Branche kaum einmal. Er braucht die Musik, sagt er, ebenso notwendig wie den Bauernhof im Südwesten Englands, auf dem er seit langer Zeit eine Öko-Farm mit einer Menge Vieh und Ackerbau betreibt. Diese Vielfalt bringe ihm die nötige Erfrischung in der Kunst. Er sei kein Hobby-Gärtner, sondern ein richtiger Bauer, betont er nachdrücklich. Und er flunkert nicht, wenn er in einem Fernseh-Gespräch, das ich vor Jahren mit ihm während der Festspiele in Salzburg führte, ausplaudert, dass er vorher bereits mit seinen Leuten vor Ort telefonisch einen langen Austausch über die gerade angelaufene Getreideernte und alltägliche Kälbergeburt gehabt habe. »Ich bin sehr glücklich«, bekräftigt er seine Befindlichkeit in unaufgeregter britischer Gelassenheit: »Ich habe eine wunderbare Familie, meinen Bauernhof und meine Musiker.« Was will man mehr. Lässt sich das alles miteinander vereinbaren?
Sir John Eliot Gardiner vermag es zu arrangieren! Er gilt als Ausnahmeerscheinung. Immer weiß er, wovon er spricht und was er sich zutraut. Halbe Sachen liegen ihm ohnehin nicht. 1943 in der Grafschaft Dorset geboren, ist er bodenständig geblieben und hat die eigene Scholle niemals verlassen – von zweckgebundenen Aufenthalten auf dem europäischen Kontinent abgesehen. Zeitweilig fühlt er sich aber auch in seiner Pariser Unterkunft recht behaglich, wenn er sich von langen Gastspielreisen in alle Welt erholt.
Dirigentische Ambitionen schlummerten schon früh in ihm: »Wenn mein Vater seine Schallplatten auflegte, habe ich schon als Kind mitgefuchtelt – mit einem Bleistift, einem Küchenmesser oder auch nur mit den Händen ... In unserer Familie wurde viel musiziert, wenn auch nicht, wie zu vermuten wäre, auf solide professionelle Weise. Meist sangen wir gemeinsam, wie meine Schwester lernte aber auch ich früh (auf Darmsaiten) Geige spielen, später Viola.«
Mit dieser amateurhaften Ausstattung suchte er während der Zeit an der Universität Cambridge, wo er Geschichte und Arabisch studierte, denn auch seinen musikalischen Weg als Autodidakt. Das änderte sich jedoch rasch und in steilem Aufstieg. Gleichsam über Nacht legte er mit der Gründung des Monteverdi-Chores, »einem der technisch und stilistisch besten Kammerchöre Englands« (The Times), und dem 1964 unter dem gleichen Schutzpatron angegliederten Orchester die Wurzeln für den sich international einstellenden triumphalen Erfolg. Das war noch nicht genug: 1978 gründete er das Ensemble English Baroque Soloists und obendrein 1990 das Orchestre Révolutionnaire et Romantique, mit dem er das klassisch-romantische Idiom auf seine Kernideen zurückführt, entschlackt und in Besetzung und Klangbild neustrukturiert aufmischt. Seither hat Gardiner ungeachtet der Gastspiele, die er da und dort mit anderen Formationen bestreitet, für seine eigenen Aktivitäten instrumental und vokal das ideale Umsetzungspotenzial zur Verfügung, das ihm lange vorschwebte und das er für sein ambitiöses musikalisches Wirken zwingend benötigt, um das weitreichende Spektrum zwischen franko-flämischer Vokalpolyphonie und klassischer Moderne abzudecken. In Kirche, Oper und Konzert.
Gleichwohl hat sich der auch mit scharfem Intellekt ausgestattete Pultstratege nie als fortschrittsbesessener Revoluzzer, erst recht nicht als nostalgisch bemühter Archivar verstanden. Die Auseinandersetzung um die auch wissenschaftlich fundierte Exegese und Sichtweise bedeutet ihm hingegen viel. Gerade die Alte Musik, mit der seine Karriere ihren Anlauf nahm, gab ihm für spätere Epochen, selbst für gelegentlich aufgegriffene moderne Werke, dankbar übernommene interpretatorische Mittel in die Hand. Das bekundet sowohl sein akribisches Korrekturvermögen in Partitur und Orchesterstimmen, wie auch seine nicht weniger exakte Kenntnis in Stilfragen, Klangzusammensetzung, Spielart, Artikulation und Rhythmik. Ohne die Pionierleistungen des Begründers der »Originalklang-Praxis« Nikolaus Harnoncourt auch nur annähernd schmälern zu wollen, hat Gardiner nicht nur damit einen der eigenwilligsten Umdenkungsprozesse im aktuellen Musikbetrieb angestoßen. Dabei käme er niemals auf die Idee, zu behaupten, man müsse etwa Bach heutzutage so interpretieren, wie dieser damals seine Werke gehört hat oder hätte hören wollen. Eine solche Denkweise, meint Gardiner, führe zu purem Nonsens. »Die Musik aus langer Vergangenheit müssen wir nicht spekulativ, vielmehr aus der Fülle zeitnaher Forschungen, Erfahrungen und Emotionalität ins aktuelle Klangbild setzen. Aus der Sicht eines Menschen in seinem eigenen Jahrhundert.«
Schon früh hat der ungemein beflissene Engländer vor allem mit seinen zahlreichen Schallplattenaufnahmen auch hierzulande auf sich aufmerksam gemacht und schnell Fuß gefasst. Am Beginn stand sein sensationelles Debüt bei den Göttinger Händel-Festspielen, deren Leitung ihm bereits 1981 übertragen wurde. »Noch ist Händel nicht rehabilitiert«, hatte John Eliot Gardiner damals den Zuhörern in seiner programmatischen Antrittsrede mit dem Mut eines Bekenners zugerufen und schonungslos angeprangert, um was nicht nur sie im Laufe der Zeit fatalerweise betrogen wurden. »Ich möchte mit meinen Interpretationen Missverständnisse ausräumen«, prophezeite er lautstark. »Mein verdienstvoller Vorgänger hat Händel nicht anders als Beethoven musiziert.« Erst vor wenigen Monaten, äußerte er damals, habe er mit der Dresdner Staatskapelle Werke von Hasse und Gluck dirigiert: »Das Bruckner-Strauss-Syndrom war nicht herauszuschlagen.« Überdies tadelte er auch Karl Böhms Mozartbild. Es sei »eine arge Verfälschung und klinge wie Bruckner. Als schwer korrigierbare Bürde habe es einer ganzen Epoche seinen Stempel aufgeprägt. »Die Orchesterfarben unterscheiden sich in nichts. Böhm ist noch mit dem romantischen Stil des 19. Jahrhunderts aufgewachsen, ich hingegen habe die Musik chronologisch studiert und sehe Mozart auf dem Gipfel einer langen Entwicklung. Ich möchte auf ihn ein absolutes neues Licht werfen.«
Es war also nur eine Frage der Zeit, wann er dieses Vorhaben in die Praxis umsetzen würde. Ein waghalsiges Unterfangen allemal, das ihn die Hamburger »Archiv-Produktion« gleichwohl mit dem Auftrag der Einspielung sämtlicher Klavierkonzerte mit den English Baroque Soloists und Malcolm Bilson (an einem 1977 in den USA nachgebauten Hammerklavier) um die Mitte der 1980-er Jahre mutig und tatkräftig realisieren ließ.
In der kleinen Londoner St. John’s Kirche am Smith Square war ich öfter als Beobachter dabei und hatte Gelegenheit, ihn bei Proben und Einspielungen in seinen Auffassungen und Absichten aufmerksam ins Visier nehmen zu können. Die Zielvorgabe hatte er zuvor ja mit äußerster Dringlichkeit markiert. Auf der Grundlage des originalgetreuen Instrumentariums ging es dabei um die systematische Wiedergewinnung der klassischen Farben und Artikulation, bei der in Gardiners arbeitsintensiver klanglicher Durchsetzung, wie mir vor Ort erschien, offenkundig auch frappierende Ergebnisse ins elektroakustische Medium transferiert wurden. Im Pausengespräch räumte er ein, dass es ihm ohne die beharrliche Vorarbeit mit Händel schwerlich gelingen könne, eine so zwingende Balance zwischen dem unsanft scheppernden Pianoforte, den klappenlosen Holzbläsern, Naturhörnern (ohne Ventile) und Streichern (mit Darmsaiten plus alten Bögen) zu garantieren. In mancherlei Hinsicht befand man sich schließlich damals noch in grauer Pionierzeit.
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