Alle Lügen hört man sofort. Peter Fuhrmann

Alle Lügen hört man sofort - Peter Fuhrmann


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die man vorher so nicht kannte. Eine auch in unmittelbarer Nähe gewonnene Neuerfahrung, die das konventionelle Produkt weitgehend verwarf und seine mangelhafte, verfälschende romantische Hülle abgestreift hatte. Es war sozusagen die »Innenseite der Außenseite«, die Gardiner hervorkehrte, die Schwerelosigkeit und Reinheit der Figuren, Stimmenverläufe und Harmonien (vor allem in langsamen Sätzen). Überraschende Aufschlüsse ergab dabei nicht zuletzt die unsentimentale, straffe und leichtfüßige Gangart Mozartscher Musik, wie sie wohl der damaligen Zeit – erst recht der Gegenwart – eher zu entsprechen schien. Die in allem waltende philologische Sorgfalt, sich auf teils neuentdeckte oder allgemein verfügbare Autographe stützend und gängige Ausgaben revidierend, war in so enger Kooperation ebenso vorteilhaft wie last, but not least Gardiners hellwaches Musikantentum und minuziöse Detailbesessenheit. Eine bahnbrechende Neuerung mit Folgen. Der überlieferte Zuschnitt der Musik Mozarts »à la Böhm« war damit zwar nicht restlos außer Kurs gesetzt, das Alte sah aber nun wirklich alt aus. Und mancher Künstler, der gängige Abziehbilder produzierte, musste nun gewaltig umlernen.

      Doch nicht Mozart, dessen Standardopern John Eliot Gardiner in Kombination von Theater-Gastspielen und Schallplattenproduktion als letztes Großprojekt bei der Deutschen Grammophongesellschaft erfolgreich realisierte, und auch nicht Beethoven, Schumann, Brahms, Debussy, bis hin zu Operetten stehen im Mittelpunkt von Gardiners künstlerischen Leidenschaften, sondern letztlich, geistig wie religiös betrachtet, auch in tiefster Überzeugung das kompositorische Oeuvre von Johann Sebastian Bach. Seinetwegen nahm er die schwere Bürde auf sich, innerhalb eines Jahres (1999-2000) auf einer Pilgerfahrt zu Bachs (und anderen) Wirkungsstätten (von Weimar bis New York) in 78 Konzerten alle Kantaten aufzuführen. Und da ihm die Hamburger Plattenfirma für die geplanten riskanten Live-Mitschnitte kurzfristig die Beihilfe entzog, sah er sich gezwungen, für deren unfreiwillig lange verzögerte Veröffentlichung eine eigene Firma zu gründen (»Soli Deo Gloria« – SDG), um das fulminante Paket schließlich in eigener Regie herauszubringen. Trotz größter Herausforderungen hat er es nicht bereut. Der Absatz floriert.

      Schon in seiner Kindheit hatte er mit Bachs Musik regen Umgang. Zuhause sei er einfach daran gewöhnt gewesen, dessen Motetten, die er bis heute zum Größten seiner Kompositionsfülle hält, zu singen. »Bachs Musik besitzt etwas sehr Gesundes, sie hat einen außergewöhnlichen, einen heilenden Effekt, mehr als die Musik jedes anderen Komponisten.« Wegen dieser »heilenden« Qualität allein habe er es wagen können, ein ganzes Jahr nur mit Bach zu verbringen. »Bach,« sagte er in einem sehr bemerkenswerten Interview der FAZ, »ist sicherlich der komplexeste Musiker, der je lebte, und zwar durch die schiere Dichte seines musikalischen Denkens und durch die musikalischen Mittel, die ihm zur Verfügung standen, um jede Art von mathematischen und philosophischen Verhältnissen, religiösen, theologischen Untermauerungen des Evangeliums zu erzielen. Aber es geschieht bei ihm nicht als Einschüchterung des Hörers. Er fordert den Interpreten heraus, aber schüchtert ihn nicht ein ... Ich sehe Bach als jenen Komponisten an, der am erfolgreichsten die vertikale und horizontale Struktur verbunden hat, stimulierender als jeder andere große Komponist«. Das ist eine kompetente, zutiefst geläuterte und durch langen Umgang mit dem Objekt genährte Definition des universalen Genius Bach. Keiner hat die Musikgeschichte so geprägt, was alle wissen, die seither diese Kunst betreiben. Insbesondere einer seiner besten Kenner, dem inzwischen zu Recht die neu geschaffene Position eines Stiftungspräsidenten des Leipziger Bach-Archivs übertragen worden ist.

      Denn Sir John Eliot Gardiner hat mit unbeirrtem Streben sein Scherflein dazu beigetragen, dass es in der interpretatorischen Umsetzung heute entschieden klarere Vorstellungen über diese und weitere Perioden der Musik gibt. Nicht nur mit seinem Stammpersonal aus der britischen Hauptstadt ist er den dornigen Weg reformerischer Denkmalpflege gegangen – von 1983 bis 1988 auf fremdem Gehege an der Opéra de Lyon und kurze Zeit (1991-94) als Chef des renommierten NDR-Sinfonieorchesters in Hamburg. Vielmehr hat er sein Ideal im Nachhinein auch bei Ensembles der höchsten Kategorie (Wiener und Berliner Philharmoniker) versucht, ohne hinterlassene Spuren freilich. Denn selbst beim vertrauteren London Symphony Orchestra, mit dem er unlängst Beethoven-Sinfonien und auf einer Gastspielreise 2013 Strawinskys Oedipus Rex und Apollon musagète brillant und zeitkonform musizierte, lässt sich auf Dauer sein rebellisch-drängendes Umformen nicht konservieren. Vielleicht im Verlauf längerer Zeit, wenn sich ihr Geist wandelt. Mit solcherart Überschneidungen muss Sir John einstweilen wohl noch leben, und sei es mit Mozarts Le nozze di Figaro in der üblichen Hausbesetzung am Londoner Opernhaus Covent Garden. »Horses for courses« nennt er das – das passende Pferd für jede Gelegenheit.

      Ohne Umschweife bleibt die Europareise 2012 mit Beethovens Missa solemnis indes allen Menschen, die sie hörten, in tiefster Erinnerung. Als erfahrener und geläuterter Kenner dieses singulären Meisterwerks, das der Komponist seiner nahezu unmenschlich hohen Anforderungen wegen selbst als »l’oeuvre le plus accompli« bezeichnete, neigt man zu der Ansicht, dass es selbst unter den größten Interpreten dazu Vergleichbares bislang nicht gegeben hat. Eine darauf eingeschworenere Gemeinschaft der 40 hochgeschulten Sänger des Monteverdi-Chores und des im authentischen Klang auftrumpfenden Orchestre Révolutionnaire et Romantique nebst Solisten kann man sich danach kaum vorstellen. Dazu entwickelte Gardiner, Anglikaner, schon seit den 1980-er Jahren ein überkonfessionelles eigenes Konzept. Ein kühnes Unterfangen, wenn man bedenkt, dass die Texte, oft in Mittelstimmen und Extremlagen der Soprane, adäquat hörbar gemacht werden müssen, ohne dass sie an Schlagkraft im gesamtdramatischen Duktus einbüßen. »Das sind ganz grundlegende Interpretationsprobleme, die so furchteinflößend bleiben wie eh und je.«

      Bei der Einsicht in diesen kirchenmusikalischen Kosmos kommt dem Chor- und Orchestererzieher zugute, dass er in der bewährten puritanischen Knabenchortradition von Cambridge erzogen wurde. So kannte er bereits die weitreichenden vorbarocken Gesangsrevolutionen, was den vorangegangenen Stardirigenten durch ihr Festhalten an der spätromantischen Überlieferung einfach fehlte. Das in langatmigem Training entwickelte, vokal wie instrumental hochkarätige Ensemble Gardiners trägt mit Beethovens Missa solemnis indessen, auch weit über die sensationellen Interpretationen der Bachschen Motetten, Kantaten, Passionen und der h-Moll- Messe hinaus, schon seit über einem Vierteljahrhundert reifste Früchte. Der Hörer sollte, falls er damit zurechtkommt, die Partitur zur Hand nehmen, um nachvollziehen zu können, wie akribisch jede Note im Ausdruck erarbeitet ist. Allein die fulminante Exaktheit in Rhythmus, Akzent, Intonation und Dynamik lässt da alles Herkömmliche weit hinter sich: von den penibel ausbalancierten Pianissimo-Abstufungen sowie der geradezu tänzerisch leichten Stimmenfortschreitung ganz zu schweigen. Proto-Beispiele wären da die immense Schlussfuge des Credo, die in der Konsequenz von thematischer und kontrapunktischer Artikulation, selbst in extremer Diskantlage, insbesondere in der Verkürzung (Allegro con moto) den Gipfel vokaler Ausführbarkeit erreicht; oder die entsprechende Gloria-Fuge, die für Beethoven-Experten als magische Größe zwischen der zuvor komponierten Hammerklaviersonate und der späteren Großen Fuge rangiert. Sind derlei »mörderische« Partien jemals zuvor elastischer und schlackenloser zu Gehör gebracht worden? Kommen in anderen Aufführungen oder Einspielungen die horizontalen wie vertikalen Klangsubstanzen so exorbitant zur Wirkung wie in Gardiners rundum faszinierender Neuerschließung?

      Als er das Werk zum ersten Mal für die Schallplatte produzierte, spielte der Zufall Geschichte. Das Datum des Live-Mitschnitts in einer Londoner Kirche hat für alle Zeiten Symbolgehalt: 9. November 1989, die Nacht, in der in Berlin die Mauer fiel.

      Dietrich Fischer-Dieskau

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      So ganz unrecht hatte Max Frisch nicht, als er Mitte der 1960-er Jahre bei der Schallplattenaufnahme von Mozarts Don Giovanni unter Karl Böhm im Prager Ständetheater, dem Uraufführungsort, als Zuhörer dabei war und anschließend geäußert haben soll, der Interpret der Titelfigur habe gar nicht wie ein Sänger ausgesehen. Selbst derjenige, dem diese gewiss nicht abwertende Bemerkung galt und der sie prompt der Nachwelt überlieferte, schien amüsiert und konnte über die ungewöhnliche


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