Alle Lügen hört man sofort. Peter Fuhrmann

Alle Lügen hört man sofort - Peter Fuhrmann


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neben Stockhausens abenteuerlich komplexen Klavierstücken zu präsentieren, seine Präferenzen für Chopin oder Debussy mit der gefürchteten 2. Klaviersonate von Pierre Boulez oder Avantgarde-Stücken seines Freundes Luigi Nono zu konterkarieren. Erst recht mit der Neuen Wiener Schule, vor allem mit Schönberg.

      »Ohne Frage war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in Musik, Literatur und Bildender Kunst außerordentlich produktiv. Danach kann es keinen Grund geben, dieser Kreativität zu entsagen und auf künstlerische Zeugnisse unserer Zeit zu verzichten. Kein Zeichen der Resignation. Vieles begreift sich in der Neuen Musik aus der Bezugsebene Bachs, kompositorisch wie als Wertschätzung. Das war schon früher so. Denken Sie nur an die Skizzen von Beethoven, der, als er die späten Streichquartette arbeitete, eine Komposition auf den Namen Bach schreiben wollte, woraus dann wahrscheinlich das Gegenthema der Großen Fuge opus 133 hervorgegangen ist, das tatsächlich Spuren des Namens Bach aufweist. Oder erinnern Sie sich der Drei Klavierstücke opus 23 von Arnold Schönberg, in denen ähnliche chromatische Motive zu finden sind ... Da es übrigens leider immer weniger Aufführungen von Werken des 20. Jahrhunderts gibt, tragen Interpreten eine hohe Verantwortung oder ein großes Maß an Schuld. Sie müssen den Zugang zu allen Epochen, erst recht zu derjenigen, in der wir leben, überall ermöglichen.«

      Gleichwohl erfüllt einen mit Bedauern, dass Maurizio Pollini, der technisch perfekt und in der Beherrschung des Klaviers schwer zu übertreffen ist, nach der Präsentation des ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers, den er 2008/09 im Münchner Herkulessaal auf CD eingespielt hat, ansonsten aber Abstand davon genommen hat, seine Fans eines Tages mit dem Folge-Teil zu überraschen. So bleibt die damalige Tournee einstweilen ein Unikum wie der gewagte Ausflug ins Reich des Taktstocks, der bei ihm wie bei Dietrich Fischer-Dieskau scheiterte, weil ihm ebenso das zum Dirigieren absolut Notwendige, sozusagen »ein Schuss Scharlatanerie«, wie der Geigenpädagoge Karl Flesch dies einmal freimütig pointierte, sicherlich fehlte. Eine Laune des Schicksals, nicht mehr, die in die Geschichte beider Künstler eingegangen ist. Ein gutes Orchester lässt sich eben nicht mal gerade »spazieren führen«. Da bedarf es anderer Mittel.

      »Der große Unterschied zum Dirigieren,« so hat Maurizio Pollini zum eigenen Kummer erfahren müssen, »liegt in der Tatsache begründet, dass dabei nicht ich den Klang erzeuge, sondern die andern.« Eine wahre, damals bereits nicht zu späte Einsicht.

      Anne-Sophie Mutter

      MEIN IDEAL IST MEIN IDEAL GEBLIEBEN

      Wie eigene Kinder, geraten jugendliche, der breiten Öffentlichkeit noch unbekannte Künstler, ihren Lehrern und fachkundigen Gefährten irgendwann aus den Augen. Beides ist natürlich, nicht ungewöhnlich. Die einen wie die anderen tun sich schwer damit, dass der Weg selbst bei sich aufdrängender berufener Prägung und Entwicklung nicht eben geradlinig verläuft und mit unvorhersehbaren Hindernissen gepflastert ist. Gleichwohl zählt jedoch gerade diese kindliche Lebensphase zum Staunenswertesten, was die Natur der Gattung Mensch vorbehalten hat. Verwundert ist man daher nicht, wenn insbesondere ältere Leute sich immer wieder liebend gern ihrer früh erfahrenen Glücksgefühle erinnern und Tatbestände oft in verklärender, von der Wirklichkeit entrückter Schilderung sehnsuchtsvoll und doch maßlos übertreiben.

      Mysteriös und offen indes bleibt allemal die Frage, warum ungerechterweise ein äußerst kleiner Bruchteil an Erdenbürgern schon im Kindesalter mit einem wahren Füllhorn an Talenten in Erscheinung tritt, das einmalig ist. Das die einen entzückt, zu spontaner Begeisterung hinreißt, andere dagegen, vor allem die lauernde Konkurrenz, schier vor Neid erblassen lässt. Was mag sich der Ewige wohl dabei gedacht haben, einige seiner Geschöpfe auf Erden nach Gutdünken zu bevorzugen, sie mit einem Zauberstab auszustatten.

      Landläufig nennt man sie Wunderkinder. Lebensschicksal und Karriere sind ihnen wie Sonnenauf- und -untergang vorherbestimmt. Im Reich der Musik tummeln sie sich am häufigsten. Vermeintliche und echte. Vor allem in der Zunft der Interpreten, mit der gefährlichen Tendenz, durch die sich zu Tode reitenden Wettbewerbe inflationäre Zustände für den heutigen Nachwuchs zu kreieren.

      Unscharf markiert ist in Sachen Wunderkind durchweg die Frage des Alters. Sie relativiert sich, ist nicht stichhaltig, wenn beispielsweise jemand, der durch exorbitante musikalische Leistungen Aufsehen erregt, noch als Kind oder bereits als reiferer Teenager einzustufen ist. Eine wichtigere Rolle muss notwendig das überragende individuelle Kunstvermögen spielen, die darin früh erkennbare autonome Persönlichkeit. Ohne sie dürfte es ohnehin schwierig genug sein, sich dem exzessiven Anspruch, der sich im Wettbewerb aufdrängt, zu stellen. In der Perfektionsmaschinerie des Medienzeitalters verstärkt sich der Leistungsdruck umso mehr. Die Messlatte liegt immer höher, das Geschäft ist gnadenlos.

      Doch Wunderdinge, unübertreffliche, gab es auch in der Vergangenheit. Wilhelm Kempff, Legende eines deutschstämmigen Pianisten, beherrschte schon als Zehnjähriger das ganze Wohltemperierte Klavier von Bach auswendig und besaß obendrein das seltene Talent, sogar die kompliziertesten Stücke aus jenem Mammutwerk in jede beliebige Tonart zu transponieren. Auch Wilhelm Backhaus, Vladimir Horowitz, Yehudi Menuhin, Glenn Gould, Friedrich Gulda und andere waren in Anbetracht ihrer superben frühen Anläufe gewiss Wunderkinder, keine Stars wie heutzutage, aber von Kopf bis Fuß Ausnahme-Erscheinungen, die einen Sonderstatus genießen und als unverwechselbare Persönlichkeiten mittels Schallplatte das Musikfirmament bis in die unmittelbare Gegenwart hinein hell erstrahlen lassen.

      Auf Anne-Sophie Mutter trifft nahezu alles zu, was in extraordinären Kategorien unterzubringen ist. Ein genuines Wunder der Natur, möchte man meinen, das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht seinesgleichen hatte. Die Welt horchte denn auch neugierig auf, als Herbert von Karajan 1977 dem ziemlich überraschten Publikum bei den Salzburger Pfingstfestspielen die noch etwas pausbäckigfüllig wirkende junge Dame con gentilezza als phänomenale Entdeckung, geradezu als »Jahrhundertbegabung« ankündigte.

      Dabei war sie in Erscheinung und Alter von knapp fünfzehn Jahren damals freilich schon etwas über die Norm fortgeschritten, um mit ihr noch den gängigen Begriff Wunderkind in Verbindung zu bringen. Sei’s drum: mit dem Segen des »Allmächtigen« geriet Anne-Sophie Mutter, als Stargeigerin emporgehoben, schlagartig ins grelle Rampenlicht. Überall wurde sie stürmisch begehrt und als Sensation gefeiert. Fasziniert folgten die Hörer dem Ereignis einer Künstlerin, die höchste musikalische Tugenden verkörperte: hochgradige Sensibilität, abenteuerliche Virtuosität, überragende Technik, seelische Ausdruckstiefe, dramatisch feurigen Impuls, beflügelt durch eine Menge intellektueller Fähigkeiten. Die ihr gleichermaßen angeborene Neugier und Unbefangenheit zeichnet sie vornehmlich auch auf der weniger verfänglichen Ebene der zeitgenössischen Musik als Ausnahme-Künstlerin aus.

      Karl Heinz Ruppel, der 1980, kurz nach seinem achtzigsten Geburtstag, in München verstorbene damalige Doyen der deutschen Musikkritik, hatte mich ziemlich früh auf das Wunderkind aus Wehr, nahe der schweizerischen Grenze, aufmerksam gemacht, als sie wirklich noch in Kinderschuhen steckte und Unterricht bei ihrer Lehrerin Aida Stucki nahm. Lange vorbei.

      Auf meinen väterlichen Freund war im unbestechlichen Urteil immer Verlass gewesen. Klar, denn nach vielerlei anderen Verpflichtungen hatte er seit 1950 hauptberuflich für die Süddeutsche Zeitung berichtet, war also ein Mann von hoher Kenntnis und Erfahrung, kompetent, enorm sicher in Geschmack und geschliffener Formulierung, hochgebildet. Jeder Zoll überdies ein Herr, ohne Frust und Verdruss, vielmehr beglückt und erheitert durch unbändige Lust und Freude am kreativen musikalischen/theatralischen Genuss. Ein Vorbild in der Wahrnehmung, zumal der aus Darmstadt stammende und sein Leben lang mit unüberhörbarem hessischen Akzent redende Publizist seine ersten großen musikalischen Eindrücke noch in der Heimatstadt durch den später zur Weltelite aufsteigenden jungen Generalmusikdirektor Erich Kleiber empfangen hatte. Diese Eindrücke übertrugen sich folgerichtig auf den kühneren, um Vieles tragischeren Erfolgsanstieg und Karriereverlauf seines Sohnes Carlos, dem er nahezu familiär wie künstlerisch stets in allerhöchster Bewunderung zugetan blieb. Ein anderes Kapitel.

      Bevor Anne-Sophie


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