Tempowahn. Winfried Wolf
befände man sich an einer Zeitenwende, in der »die Zeit rasch vorwärts (rollt), unaufhaltsam, auf rauchenden Dampfwagen«. Dies erkennt Heine vor dem Hintergrund der Inbetriebnahme der »beiden neuen Eisenbahnen, wovon eine nach Orléans, die andere nach Rouen führt«. Und dann beschreibt Heine in wunderbaren Worten das Neue, Aufbrechende wie folgt:
Die ganze Bevölkerung von Paris bildet in diesem Augenblick gleichsam eine Kette, wo einer dem anderen den elektrischen Schlag mitteilt. Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfasst den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloß, dass unsere ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, dass neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich beängstigend. So muss unseren Vätern zumute gewesen sein, als Amerika entdeckt wurde, als die Erfindung des Pulvers sich durch ihre ersten Schüsse ankündigte, als die Buchdruckerei die ersten Aushängebögen des göttlichen Wortes in die Welt schickte. Die Eisenbahnen sind wieder ein solches providencielles Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt. [...] Es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte und unsere Generation darf sich rühmen, dabei gewesen zu sein. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Raum und Zeit sind schwankend geworden.
Wobei hier erst – im Folgenden in Heines Text – das bereits ausgeführte Zitat folgt.
Die Aussage »Hätten wir nur Geld genug, um auch die letztere« – also die Zeit – »anständig zu töten!« wird von Heine bereits in dem Sinne beantwortet, dass bereits viel Geld und wohl auch ausreichend Kapital vorhanden sei, dass also mit diesen Geldsummen und Projekten auch »die Zeit getötet« werden würde. Er geht in seinem Text auf die großen Aktiengesellschaften ein, die die Eisenbahn-Projekte aufgriffen, wobei »Bajazzo auf dem Balkon einer Marktbude das verehrungswürdige Publikum zum Hereintreten« einladen würde – gemeint: das gemeine Volk zur Zeichnung von Aktien und zur Spekulation einladen würde. Nachdem er darauf zu sprechen kommt, welchen Charakter die Vorstände und die Aufsichtsräte der neuen privaten Eisenbahngesellschaften hätten – es befänden sich bekannte »Admiräle und Marineoffiziere« darunter –, und dass sich in diesen neuen Unternehmungen »die herrschende Geldaristokratie« konzentrieren würde, verallgemeinert Heine wie folgt: »Jene Leute (in den Führungskreisen der neuen Eisenbahngesellschaften; WW) werden bald nicht nur das comité de surveillance (Aufsichtsrat; W. W.) der Eisenbahnsozietät, sondern auch das comité de surveillance (Überwachungskomitee; W. W.] unserer ganzen bürgerlichen Gesellschaft bilden, und sie werden es sein, die uns nach Toulon oder Brest schicken«61 – auf dass die Angesprochenen in den dortigen Häfen, im Fall der Pleite der Gesellschaften, »zum Rudern auf den Galeeren verurteilt« werden würden.
44 Tatsächlich fuhr bereits im Februar 1804 ein erster mit Dampfkraft betriebener Eisenbahnzug auf der Hüttenwerksbahn der Firma Merthyr Tydfil in Südwales. Erfinder und Erbauer war Richard Trevithick. Die Erprobung der Eisenbahn erfolgte öffentlich, beladen mit 10 Tonnen Eisen und achtzig Passagieren an Bord. Die Fahrt wurde in den Zeitungen begeistert gefeiert. Es gibt also kaum einen Grund, diese Rekordfahrt klein zu reden und Stevensons 22 Jahre später realisiertem Projekt den Vorzug zu geben. Ausführlich bei: W. Wolf, Eisenbahn und Autowahn, a. a. O., 1992, S. 24 und derselbe, Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns, a. a. O., 1992, S. 31ff.
45 Angaben nach: Ralf Roman Rossberg, Geschichte der Eisenbahn, Künzelsau 1977, S. 89 u. 151.
46 Er argumentierte dabei wie folgt: »Die deutschen Eisenbahnen haben bis zum Schluß des Jahres 1910 rund 17 Milliarden Mark gekostet. Rechnen wir davon auf Arbeitslohn nur drei Viertel, so ergäbe das einen Betrag von zwölf bis dreizehn Milliarden Mark. Nehmen wir einen Jahresverdienst von fünf- bis sechshundert Mark im Durchschnitt an (was sehr hoch gegriffen ist …), so würden wir auf eine Arbeitsleistung von rund 25 Millionen Arbeitsjahren oder etwa 7 ½ Milliarden Arbeitstagen kommen. Es hätte also eine Million Arbeitssklaven 25 Jahre lang, 100000 Sklaven hätten zwei und ein halbes Jahrhundert lang zu bauen gehabt. Auf die geschichtliche Zeit berechnet: …!« Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft …, a. a. O., S. 240f.
47 Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft …, a. a. O., S. 242.
48 Gerald Sammet, Das Klassensystem der Beweglichkeit, in: Sonderbeilage der Nürnberger Nachrichten vom 10. 5. 1985.
49 Friedrich List im Staatslexikon von Rotteck Welcker, erschienen 1837. Wiedergegeben in der Einleitung zu Lists maßgeblicher Schrift: Über ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-System, Leipzig o. J., S. 10. (Erstveröffentlichung 1833). Die DDR-Hochschule für Verkehrswesen »Friedrich List« Dresden hatte sich der Wahrung und Weiterentwicklung des Erbes dieses Theoretikers und Praktikers des Schienenverkehrs verschrieben. Der Autor dieses Buches erhielt im Dezember 1989 von dieser Hochschule die (wohl letzte) »Friedrich-List-Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik«.
50 Der Transportpreis pro Tonnenkilometer betrug 1840 16,9 Pfennig; 1900 waren es 3,7 und 1913 3,6 Pfennig. Wird die Inflation berücksichtigt, dann ist die Reduktion nochmals größer. Ausführlich: W. Wolf, Verkehr. Umwelt. Klima, a. a. O., S. 48.
51 In seiner Theorie von der Bodenrente ging der deutsche Nationalökonom J. H. von Thünen (1783−1850) davon aus, dass der Standort der landwirtschaftlichen Produktion entscheidend für die Intensität ist, mit welcher der Boden bearbeitet wird. Je näher eine bestimmte landwirtschaftliche Produktion am Absatzmarkt (Konsumzentrum) ist, desto intensiver wird der Boden bearbeitet, je weiter entfernt davon sie sich befindet, desto niedriger die Bodenkultur. Als Ursache für die so entstehenden »Thünenschen Kreise« werden die hohen Transportkosten (vor dem Aufkommen der Eisenbahnen) gesehen, die ab einer gewissen Entfernung vom Absatzmarkt eine (arbeits- und kapital-)intensive Produktion nicht rentabel erscheinen lassen.
52 Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft …, a. a. O., S. 245.
53 »Eintritt in die Stadt: der Bahnhof«, Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, Frankfurt/M.–Berlin–Wien 1977, a. a. O., S. 152ff.
54 Das Bogie-Fahrgestell, das nach dem Ersten Weltkrieg auch in Europa breitere Anwendung fand, besteht aus zwei starren Achsen, die auf einem Fahrgestell mit sehr engem Abstand zusammengefügt sind, während das Fahrgestell selbst mittels eines Drehzapfens mit dem Wagenchassis verbunden ist. Ein Eisenbahnwaggon verfügt an beiden Enden über je ein Bogie-Fahrgestell, also über vier Achsen. Indem diese Bogie-Fahrgestelle sich unabhängig vom Wagenchassis bewegen, können sie sich dem Kurvenverlauf anpassen; die Waggons können enge Radien beschreiben bzw. lange Waggons können enge Kurven durchlaufen.
55 Bis in die 1860er-Jahre hinein, noch vier Jahrzehnte nach Aufnahme des Linienverkehrs zwischen Stockton und Darlington, existierte zwischen London und dem englischen Norden keine einheitliche Linie. Stattdessen gab es mehrere Parallelbahnen, die sich heftige Konkurrenzkämpfe lieferten. Insgesamt waren zu diesem Zeitpunkt in England über 300 private Eisenbahngesellschaften aktiv.
56 Die sogenannte Normalspur mit 1435 Millimetern,