Tempowahn. Winfried Wolf
Seewegen) zu einer qualitativen Beschleunigung. Die Eisenbahnen brachten im Vergleich zu den Pferdefuhrwerken eine Steigerung der Geschwindigkeit um das Zehnfache, wenn wir als durchschnittliche Transportgeschwindigkeiten mit Pferdekraft eine solche von fünf Stundenkilometern und im Fall von Eisenbahnen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts eine solche von fünfzig Stundenkilometern unterstellen.
Das Tempo von Verkehr und Transport wurde noch durch die neue Art der Streckenführung erhöht. Bereits im Kanalbau war versucht worden, natürliche Gegebenheiten zu ignorieren und möglichst kurze Verbindungen zu wählen. Dafür gab es bei dieser Transporttechnologie zwar bereits die notwendigen Mittel (Bau von Schleusen, Tunneln und Aquädukten), allerdings war dafür erst teilweise ein rein technisch bedingter Zwang vorhanden. Bei der neuen Transporttechnologie der Eisenbahnen gab es für die Herstellung möglichst kurzer Verbindungen ebenfalls von Anfang an die entsprechenden Mittel (Tunnel, Brücken, Viadukte, Einschnitte). Nunmehr existierten jedoch für eine direkte Streckenführung auch technische Notwendigkeiten: Eisenbahn-Schleusen oder gar »Schleusenfolgen« (»flights of locks«), um auf kurzer Distanz größere Höhenunterschiede zu überwinden, waren nicht vorstellbar. Eisenbahnen konnten (und können) nur maximale Steigungen von 25 Promille (2,5 Meter auf 1000 Meter) realisieren. Der Charakter des rollenden Materials und die hohen Geschwindigkeiten, mit denen Eisenbahnen betrieben werden, erfordern des Weiteren weite Radien bzw. sie verbieten enge Radien und eine »mäandernde«, stark kurvenreiche Streckenführung, wie sie bei vielen britischen und teilweise auch bei französischen Kanälen noch typisch war. Auf die davon teilweise abweichende Schienen-Streckenführung in Nordamerika kommen wir noch zu sprechen.
Entsprechend unterschieden sich die Eisenbahnnetze qualitativ von den Straßennetzen der damaligen Zeit. Die Eisenbahnen waren, sobald die ersten Teilstücke verbunden wurden und sich ein Netz herausbildete, für den fließenden Verkehr gebaut; sie verbanden nicht, wie dies bis dahin bei den Landstraßen der Fall war, Stadt mit Stadt. Entsprechend lagen die neu erbauten Bahnhöfe zunächst meist am Rande der Städte. Sie wurden später durch die Ausdehnung der Städte wieder in diese »zurückgeholt«. Teilweise entstanden auch neue Bahnhöfe völlig außerhalb der Städte – der Hochgeschwindigkeitsbahnhof Kassel-Wilhelmshöhe spielte in Westdeutschland in den 1980er-Jahren eine entsprechende problematische Vorreiterrolle. Für die Bahnhöfe in den beherrschenden Zentren wurde ein spezifisches Bahnhofsmodell der Entschleunigung entwickelt: Da in diesen Knotenbahnhöfen mehr als 90 Prozent der Fahrgäste ihre Reise beenden oder die Eisenbahnfahrt beginnen (und damit weniger als zehn Prozent die Stadt passieren), gibt es in Europa und in Nordamerika ein paar Hundert Kopfbahnhöfe. Die englischen beziehungsweise französischen Bezeichnungen für diese Art Bahnhof (terminus bzw. gare terminus) sind diesbezüglich treffender: Hier enden und beginnen die meisten Fahrten. Die neueren Versuche des Baus unterirdischer Durchgangsbahnhöfe als Ersatz der Kopfbahnhöfe (wie in den Fällen Stuttgart 21 und des Fernbahntunnels Frankfurt/M.), mit denen solche Kopfbahnhöfe ganz oder teilweise aufgelöst werden, ignorieren die geniale Grundidee dieser Bahnhöfe. Wolfgang Schivelbusch hat dem Thema in seinem wunderbaren Buch »Geschichte der Eisenbahnreise« ein erhellendes Kapitel gewidmet.53
Zwischen Europa und Nordamerika gab es einen wichtigen Unterschied im Eisenbahnbau. In Europa war im 19. Jahrhundert die Arbeitskraft preiswert, Kapital in großem Umfang vorhanden und der Boden in Privatbesitz, also teuer. In Nordamerika dagegen war Arbeit knapp und, soweit es weiße Arbeitskräfte betraf, relativ teuer. Kapital war zunächst knapp und teuer. Preiswert gestaltete sich jedoch der Grund und Boden, da er zu einem großen Teil durch die Gewalt des Faktischen niemand mehr gehörte – er war widerrechtlich angeeignet, geraubt: Die indigene Bevölkerung war in den vorausgegangenen drei Jahrhunderten getötet, vertrieben oder in Reservaten zusammengepfercht worden.
Der gegenüber einem hohen Material- und Arbeitskraftaufwand billigere Raubbau an der Natur führte in den USA zu einem gegenüber Europa stark vereinfachten und billigen Streckenbau. Die nordamerikanischen Eisenbahnstrecken wurden weniger nach dem Prinzip der geraden Linie als nach Art eines Flusslaufs – um Hindernisse herum anstatt hindurch – geführt. Schwellenmaterial war genügend vorhanden, Land kostete so gut wie nichts. Dies heißt allerdings auch, dass die Radien der Schienenkurven enger sind als bei den europäischen Eisenbahnen. Dies stellte eine technische Herausforderung dar, da die in Europa üblichen, mit zwei starren Achsen versehenen Wagen bei dieser Streckenführung aus den Gleisen gesprungen wären. Es kam zur Entwicklung des »Bogie«-Fahrgestells.54 So entwickelten sich zwei höchst unterschiedliche Eisenbahnwagen-Kulturen: In Nordamerika etablierte sich der Durchgangswagen, der faktisch eine Nachbildung der dort seit langem vorherrschenden Fluss- und Kanalfahrt mit Kabinenschiffen darstellte. In Europa war der Abteilwagen vorherrschend. Diese Waggonform reproduzierte die dort vorherrschende Transportform und stellte die auf die Schienen gehobene Kutsche dar. Der Abteilwagen blieb in Europa knapp eineinhalb Jahrhunderte lang die vorherrschende Eisenbahnwagen-Form.
Die privaten Bahnbaugesellschaften erhielten in den USA vom Staat enorme Vergünstigungen, vor allem in Form der »grants«, der Landschenkungen. Dabei vergab der Staat Land, das ihn nichts kostete und das andere reich machte. Dokumentiert ist, dass mittels der Landschenkungen im Zeitraum 1850 bis 1871 rund 210 Millionen Acres oder rund 850.000 Quadratkilometer Grund und Boden in das Eigentum der Eisenbahngesellschaften übergingen. Das entsprach rund 18 Prozent der Fläche des Staatsgebiets im Jahr 1871 und entspricht elf Prozent der Fläche der heutigen USA. Berücksichtigt man frühere Landschenkungen an erste Eisenbahngesellschaften, solche an die privaten Straßenbahngesellschaften und die Tatsache, dass die Kanalgesellschaften ebenfalls mit gewaltigen Landschenkungen bedacht worden waren, dann dürfte binnen weniger Jahrzehnte ein Fünftel bis ein Viertel des Bodens der USA in die Hände einiger weniger privater Kanal- und Bahngesellschaften gelangt sein. Diese Gesellschaften kontrollierten einen großen Teil des fruchtbaren Bodens bzw. des Bodens im Umkreis der Besiedelungen durch die weißen Einwanderer. Eisenbahnen in Privateigentum und Bodenspekulation in großem Maßstab gingen damit bald Hand in Hand – was den Niedergang der US-Eisenbahnen ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts begünstigte.
Der auch heute noch vorherrschende rücksichtlose Umgang mit den natürlichen Ressourcen in den USA hängt eng zusammen mit der Art und Weise, wie sich in Nordamerika die neuen Transportarten Binnenschifffahrt und vor allem Eisenbahnen durchsetzten. Es kommt zu einer spezifischen Ökonomie von »nature for capital«, des Einsatzes von Natur anstelle von Kapital. Ein Jahrhundert lang – in jenem Jahrhundert, in dem sich in dieser Region die neue Nation der Vereinigten Staaten von Amerika herausbildete – wurde die Ideologie genährt, der Preis für den Verbrauch natürlicher Ressourcen tendiere gegen Null und diese natürlichen Ressourcen seien unendlich ersetzbar. Der Begriff »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« beinhaltet die Negation der Maxime der Nachhaltigkeit. Gleichzeitig erfolgte ausgerechnet im Eisenbahnland Nummer eins der Schienenwegebau aus den beschriebenen Gründen auf einem äußerst primitiven Niveau. Da auch Dampfenergie aus Kohle – die es in den USA ausreichend gab – preiswert war und da die auf Kohle und Dampf folgende Energieform der US-Eisenbahnen, Diesel-Kraftstoff, aufgrund großer eigener Ölvorkommen ebenfalls zu niedrigen Preisen genutzt werden konnte, gab es im 20. Jahrhundert kaum einen Stimulus für eine Optimierung des Eisenbahnsystems. Das im 19. Jahrhundert und bis 1910 aufgebaute Eisenbahnstreckennetz, das in seinen Grundzügen sich nicht wesentlich verändert hat, bestand zu einem erheblichen Teil aus viel zu langen – und damit energie- und zeitintensiven – Verbindungen mit gewaltigen Umweg-Verkehren. Zu einer Elektrifizierung kam es nur ausnahmsweise; es gab keinen Sprung in der Energieeffizienz. Damit aber befanden sich die US-amerikanischen Eisenbahnen gerade zu dem Zeitpunkt in einer schwachen Position, als es am Anfang des 20. Jahrhunderts zur Herausforderung durch die aufkommende neue Transporttechnologie des Pkw- und Lkw-Verkehrs kam.
Die Gründe, die für einen zentralisierten Betrieb, für eine gesamtnationale, wenn nicht für eine supranationale Planung und Organisation des Eisenbahnverkehrs sprechen, sind zahlreich und zwingend. Da ist zunächst die Notwendigkeit eines einheitlichen (nationalen oder supranationalen) Fahrplans. Im Gegensatz zum Individualverkehr existiert beim Schienenverkehr eine kaum auflösbare Einheit zwischen Transportmittel und Verkehrsweg. Wird diese Einheit nicht beachtet, existiert kein Fahrplan für den Verkehr, sind Chaos und Unfälle nicht fern. Nun steht dieses Erfordernis im Schienenverkehr in einem offenen Widerspruch