Tempowahn. Winfried Wolf
dem nördlichen Endpunkt des Trent-and-Mersey-Canal, der acht Jahre zuvor eröffnet worden war. Von hier aus nahm sie eines der Express- oder »fliegenden Boote« von Pickford & Co. Der Fahrpreis von 16 Shilling und 11 Pennies war erheblich billiger als der Preis für eine Fahrkarte Liverpool-London mit der Eisenbahn.
Colin Dexter, Mord am Oxford-Kanal, 198927
Das Rad wurde im vierten, möglicherweise sogar im fünften Jahrtausend vor Christus erfunden. Die Domestizierung von Wildpferden zu Hauspferden fand ungefähr zum gleichen Zeitpunkt statt. Das erste nachweisbare Schiff wird auf 6500 vor Christus datiert; erste Segelschiffe gab es spätestens 1000 vor Christus. Seither und bis ins 17. Jahrhundert gab es keine grundlegenden Verbesserungen der Verkehrstechniken mehr, auch wenn es zu bedeutenden Verfeinerungen und Optimierungen kam. Damit bewegten sich die Menschen über fünf bis sechs Jahrtausende hinweg mit vergleichbar geringen Geschwindigkeiten, gewissermaßen mit Bodenhaftung: zu Fuß, mit einem Ochsenkarren, zu Pferde, mit einem von einem Pferd gezogenen Streitwagen, mit Schiffen mit Ruderern beziehungsweise mit Schiffen mit Segeln. Verwandte Transportarten wie der Marsch mit Elefanten über die Alpen im Zweiten Punischen Krieg im Jahr 218 vor Christus nicht zu vergessen.
Der Zeitaufwand spielte bei diesen Formen von Mobilität eine enorme Rolle; der Widerstand des Raums, der örtlichen Gegebenheiten mit den Tälern, Hügeln, Bergen, Flüssen, Furten, Brücken, ergänzt um die Widrigkeiten der Jahreszeiten und des Wetters, waren bestimmend. Das änderte sich mit der Industrialisierung. Im Rahmen der Industriellen Revolution gab es zwei Transportrevolutionen – diejenige des Kanalbaus und diejenige der Eisenbahnen. Der Bau von Kanälen mit seinem Schwerpunkt im 17. Jahrhundert war der Frühzeit der Industrialisierung angemessen. Relativiert wurde dabei bereits die Erdverbundenheit; das Tempo freilich blieb angemessen und entsprach dort, wo getreidelt wurde, einem gemäßigten Schritt. Das erinnert an die enge Verbindung, die damals noch zwischen Manufaktur und früher Industrie einerseits und Landwirtschaft und Landarbeit andererseits bestand. Anfang des 19. Jahrhunderts änderte sich das Geschehen mit den Eisenbahnen, mit denen das Tempo im Verkehr sprunghaft gesteigert wurde. Heinrich Heine stellte fest, dass mit den Eisenbahnen »die Elementarbegriffe von Zeit und Raum […] schwankend geworden (sind)«.28 Das bezog sich gewissermaßen auf die »gefühlte Raum- und Zeitlosigkeit«. In Wirklichkeit bleiben Raum und Zeit feste Bezugsgrößen. Allerdings sind die neuen, schnellen Gangarten mit einer Bewusstlosigkeit hinsichtlich der Zeit und mit einer Rücksichtslosigkeit gegenüber Natur und Klima verbunden.
Boote und Schiffe auf Flüssen – das gab es seit Jahrtausenden. Optimierungen dieser Transportart in Form von Stauungen und kurzen Durchstichen zwischen Seen und Flüssen ebenfalls. Ägyptische Pharaonen haben vermutlich schon im zweiten Jahrtausend vor Christus eine Verbindung vom Nil zum Roten Meer graben lassen. Gesichert scheint ein solcher Kanalbau um die Zeit 600 vor Christus zu sein. Doch ein System kommunizierender Kanäle und schiffbarer Flüsse entstand in Europa und im Mittelmeerraum erst im späten Mittelalter und am Beginn der Industrialisierung. Dabei hat es in anderen Kulturen und auf anderen Kontinenten ein vergleichbares Kanalzeitalter gegeben – so in Thailand, wo im 16. Jahrhundert ein mehr als 2000 Kilometer langes Kanalnetz (als Klong oder Khlong bezeichnet) geschaffen wurde.
Beim europäischen Kanalbau für eine ausgedehnte Binnenschifffahrt handelt es sich um die größten Investitionen, die bis zu diesem Zeitpunkt in der menschlichen Geschichte in dieser Region getätigt wurden. Es waren – genau wie ein halbes Jahrhundert später bei den Eisenbahnen – säkulare Investitionen, Investitionen mit einer Beständigkeit von hunderten Jahren. Sie veränderten die Landschaft für immer. Die Zehntausenden Menschen, die sie schufen, waren dabei oft kaserniert; vielfach waren es Arbeitskräfte aus dem Ausland, in England vor allem solche aus Irland.
Die Führung der Kanäle erfolgte weitgehend unabhängig von den natürlichen Gegebenheiten, was durch Schleusen, Wassertunnel und große Aquädukte ermöglicht wurde. Die Kanäle brachten, zusammen mit dem weltweiten Seehandel, eine erste Revolutionierung des Verkehrssektors, eine Reduktion der Transportzeiten und damit verbunden eine radikale Reduktion der Transportkosten. Die Zeit, die für den Transport zwischen den großen Wirtschaftszentren aufzubringen war, wurde einerseits durch die gleichmäßige, weil nunmehr fast durchgängig ebenerdige Gangart der Pferde und andererseits durch die Verkürzung der Wegelängen deutlich reduziert.
Interessanterweise wird der Kanalbau als Teil der Industriellen Revolution in den Geschichtsbüchern nicht oder nur am Rande erwähnt. Auch Karl Marx und Friedrich Engels streifen das Thema nur am Rande. Über die Gründe für diese Vernachlässigung mag man spekulieren; zweifellos spielte eine Rolle, dass die späteren Eisenbahnen spektakulärere Wirkung zeigten. Dass die Investitionen in den Eisenbahnbau gemessen an der jeweiligen Wirtschaftsleistung größere als die im Kanalbau waren, darf bezweifelt werden, wenn wir die folgenden Angaben berücksichtigen. Der Kanalbau und die Binnenschifffahrt prägten ein Jahrhundert Wirtschaftsgeschichte von Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts. In Großbritannien entsprach dies weitgehend dem Zeitalter der Industriellen Revolution. In dem Mutterland der Industriellen Revolution traten die Eisenbahnen erst ein Dreivierteljahrhundert nach Beginn der Industriellen Revolution auf den Plan, und sie waren erst hundert Jahre nach den Anfängen der Industriellen Revolution gut genug ausgebaut, um die Kanäle und die Binnenschifffahrt in ihrer Bedeutung überflügeln zu können. Nicht die Eisenbahnen, sondern die Wasserstraßen bildeten in England, Wales und Schottland – und teilweise auch in Irland – die Adern der Industriellen Revolution. Nicht mit den Eisenbahnen gab es das erste groß angelegte »Spekulationsgelüst« und die ersten Aktiengesellschaften, wie Karl Marx schrieb. Sie existierten bereits beim Kanalbau.29
Mit den Kanälen blühte in England und in einer Reihe anderer Länder das Bankgeschäft auf, und in diesem Rahmen trieb die Spekulation ihre ersten fantastischen Blüten. Eine Canal-Mania brach aus. Selbst nach dem Aufkommen der Eisenbahnen blieb die Binnenschifffahrt in England mehr als 100 Jahre, bis Anfang des 20. Jahrhunderts, gegenüber dem Schienenverkehr auf wichtigen Verbindungen konkurrenzfähig. Der wichtigste und profitträchtigste Kanal in England war der Leeds and Liverpool Canal: 116 Meilen lang, exakt 877.616 Pfund Sterling teuer, im Wesentlichen zwischen 1770 und 1790 erbaut. Es handelte sich um eine Bonanza: Bei der Beantragung der Konzession gingen die Konzessionäre und die Regierung von einer erwarteten jährlichen Leistung von 300.000 Tonnenmeilen30 aus. Bei Fertigstellung wurde bereits die achtfache Tonnage (2,5 Millionen Tonnenmeilen) erbracht. Die Company, die diesen Kanal betrieb, eine Aktiengesellschaft, erbrachte folgenden Rekord: »… from 1786−1919 it never failed to make profit«, im beschriebenen Zeitraum von über 130 Jahren warf sie Jahr für Jahr Dividenden ab, und zwar meist 15 bis 20 Prozent.31
Auf dem Höhepunkt der Canal-Mania, Mitte des 19. Jahrhunderts, ging in England der Satz um: Es gibt keine Stadt von Bedeutung, die mehr als zwölf Meilen von dem nächsten Schifffahrtsweg entfernt liegt. 120 Jahre später sollte der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt eine vergleichbare Zielsetzung verkünden – für den Anschluss der westdeutschen Wohnbevölkerung an die nächste Autobahnauffahrt.
Eine »Allgemeine Geschichte der Technik« fasst die sprunghafte Entwicklung des britischen Kanalbaus wie folgt zusammen: »Bis zum Bau der ersten Kanäle betrug die Länge der schiffbaren Wasserwege [und das waren damals vor allem natürliche Wasserwege, also Flüsse, Seen und der Strom Themse; W. W.] in Großbritannien etwa 1500 Kilometer. 100 Jahre später, im Jahr 1850, gab es – noch ohne Irland – 7000 Kilometer Binnenwasserstraßen.«32 Dies entsprach der Länge, die das westdeutsche Autobahnnetz 140 Jahre später, im Jahr 1990, erreichte. In Großbritannien gab es zwei Durchquerungen der gesamten Insel: eine erste, 1777 eröffnete Wasserstraße, den Grand Trunk Canal, der, indem er die Flüsse Trent und Mersey miteinander verband, eine Wasserstraße durch ganz Mittelengland von der Irischen See bis zur Nordsee eröffnete; und eine zweite mitten durch Schottland, welche heute noch in den Sommerloch-Geschichten über »Nessie« Erwähnung findet: der 1822 eröffnete Caledonian Canal, der Loch Ness passiert.
Bei dem britischen Kanalnetz handelt es sich um keinen Sonderfall. Große und technisch hoch entwickelte Kanalnetze, deren Ursprünge teilweise deutlich früher lagen, die jedoch alle am Beginn der Industriellen Revolution massiv ausgebaut und mit moderner Technik versehen wurden, gab es in vielen anderen Ländern, so auf