Tempowahn. Winfried Wolf
ziemlich genau bekannt. Der Schmied, der Wagner des Dorfs arbeiteten ja unter seinen Augen; ebenso der Schneider und Schuhmacher, der noch zu meiner Jugendzeit bei unsern rheinischen Bauern der Reihe nach einkehrte und die selbstgefertigten Stoffe zu Kleidern und Schuhen verarbeitete. Der Bauer sowohl wie die Leute, von denen er kaufte, waren selbst Arbeiter, die ausgetauschten Artikel waren die eigenen Produkte, eines jeden. [...] Wie also können sie diese ihre Produkte mit denen andrer arbeitenden Produzenten austauschen anders als im Verhältnis der darauf verwandten Arbeitszeit? [...] Dem Bauer (sind nicht nur) die Arbeitsbedingungen des Handwerkers bekannt, sondern dem Handwerker auch die des Bauern. Denn er ist selbst noch ein Stück Bauer, er hat nicht nur Küchen- und Obstgarten, sondern auch sehr oft ein Stückchen Feld, eine oder zwei Kühe, Schweine, Federvieh usw.14
Es konnte da durchaus sein, dass ein Handwerker, der geschickter, erfahrener, schneller, kunstfertiger war als der Durchschnitt, mehr oder bessere Produkte in derselben Zeit herstellen, und damit auf die Dauer vielleicht wohlhabender als andere werden konnte. Doch es stand ihm auch frei, sich stattdessen mehr Freizeit, mehr Muße zu gönnen oder einer anderen, mehr erfüllenden Art der Beschäftigung nachzugehen. Es gab keinen, der ihm den Takt vorgab. Mit der ursprünglichen Akkumulation und der Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln kam die große Veränderung. Die mittellosen Arbeiterkräfte wurden damit vollständig dem Zeitdiktat der Maschinen – und damit letzten Endes der Produktionsmittelbesitzer – unterworfen, weil sie an den Fabrikbesitzer nichts anderes mehr als ihre Arbeitskraft verkaufen konnten. Mit dieser Veränderung des Arbeitsprozesses erhält die Zeit eine völlig neue Bedeutung. Nun geht es um die Unterwerfung unter das Zeitdiktat, ja unter eine Zeitmaschine. Es lässt sich belegen, dass die Bedeutung der Zeit – der Arbeitszeit und nicht zuletzt des Zeitdiktats – in dem Maß zunimmt, wie sich die Industrielle Revolution herausbildet und der Arbeitsprozess als Teil derselben synchronisiert und nach Zeit getaktet wird.
In Großbritannien bis Ende des 18. Jahrhunderts und im übrigen Europa bis Mitte des 19. Jahrhunderts überwogen die handwerkliche Arbeit und die Heimarbeit. Es gab kleine Werkstätten ohne weitergehende Arbeitsteilung. Und es gab flächendeckend eine enge Verbindung von einfacher Manufaktur und Handwerk einerseits und landwirtschaftlichen Tätigkeiten und bäuerlichem Leben andererseits. Und dies oft in ein und derselben Person beziehungsweise Familie.
Die Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent waren weit rückständiger als diejenigen in England oder auch in Nordamerika. Beispielsweise gab es in ganz Preußen Anfang des 19. Jahrhunderts gerade mal »24.643 massive Häuser von insgesamt 1.454.475 Häusern oder Feuerstellen«, wobei man die große Zahl der zuletzt genannten »Häuser« dann eher mit »Hütten« übersetzen muss.15 Selbst in den Städten überwogen ärmliche Häuser oder Hütten: »Weimar war zu Goethes späterer Zeit erst ein Städtchen mit 8000 Einwohnern, die in 800 Häusern lebten. Die Häuser waren also klein; sie beherbergten höchstens zwei Familien. Einige Häuser waren noch mit Stroh abgedeckt, die meisten mit Schindeln.«16
Selbst in England lebte Anfang des 19. Jahrhunderts die große Mehrheit der Bevölkerung noch auf dem Land; in Deutschland war das ein halbes Jahrhundert später noch der Fall. Und dort, wo es in England zu diesem Zeitpunkt handwerkliche und gewerbliche, also industrielle Arbeit gab, war diese oft noch mit Landwirtschaft verbunden.
Edward P. Thompson schreibt, dass in Großbritannien viele Menschen »in den frühen Entwicklungsstadien von Gewerbe und Bergwerk mehrere Tätigkeiten gleichzeitig ausführten: Zinngießer aus Cornwall gingen zugleich der Pilchardfischerei nach, Bleibergleute im Norden bestellten einen kleinen Acker, Dorfhandwerker waren sowohl als Maurer als auch als Fuhrhandwerker oder Schreiner tätig; Heimarbeiter verließen zur Erntezeit ihre Arbeit; Kleinbauern aus dem Penninschen Gebirge webten nebenbei.«17
Vergleichbares berichtet Werner Sombart über die Verhältnisse in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts: »Auch dort, wo die wirtschaftliche Tätigkeit schon berufsmäßig für andere ausgeübt wird, also in den für Austausch produzierenden Wirtschaften, finden wir eine viel geringere Differenzierung als etwa heute. [Ende des 19. Jahrhunderts; W. W.] So begegnet uns häufig der Fall […], dass die Handwerker in den kleinen und mittleren Orten nebenbei Landwirtschaft treiben, was freilich heute auch noch häufig (vorkommt). […] So waren beispielsweise die Schiffsleute fast durchgängig kleine Landwirte, die nur im Sommer auf See gingen, wie es der damals ja allein herrschenden Segelschifffahrt entsprach. Aber auch die Berg- und Hüttenarbeiter und die Arbeiter in den Fabriken waren vielfach solche Zwitter von Landwirt und Lohnarbeiter, die oft nur einen Teil des Jahres sich ihrem gewerblichen Berufe widmeten.« Der Autor führt dann eine exakte Statistik für den Landkreis Solingen und die dort lebenden »9718 Familien« auf, in der diese Angaben dahingehend konkretisiert werden, dass in dieser jungen Industriestadt um das Jahr 1835 herum noch gut zwei Drittel der Familien über eine direkte Verbindung zum Land verfügten.18
Diese Art Mischung von Landarbeit und Gewerbe, also die Möglichkeit der jungen Industriearbeiterschaft auf die eigene landwirtschaftliche Tätigkeit und die damit verbundene Subsistenzwirtschaft zurückzugreifen, bot dieser neuen Gesellschaftsschicht vielfach Schutz vor Unternehmerwillkür. Der Zugriff auf die Ware Arbeitskraft war eingeschränkt. Oft war die Arbeitskraft auch noch knapp und das Bauernlegen noch nicht weit genug für die Schaffung einer industriellen Arbeiterschaft – neben einer »Reserve« an Arbeitslosen – entwickelt. Thompson zitiert umfänglich Klagen der Kapitalistenklasse über freche Jung- und Halbproletarier, die sich dem Diktat des Kapitals entzogen, die erfreulich viel bummelten und sich ganze zusätzliche freie Tage herausnahmen:
Auch der blaue Montag wurde ganz allgemein, von wenigen Gewerbezweigen abgesehen, gefeiert: bei Schustern, Schneidern, Kohlearbeitern, Druckern, Töpfern, Webern, Strumpfwirkern, Messerschmieden und in allen kleineren Handwerken. Trotz Vollbeschäftigung in vielen Londoner Gewerben während der Napoleonischen Kriege [1800 bis 1814; W. W.) klagte ein Augenzeuge: »Dem blauen Montag, der in dieser großen Stadt sehr streng eingehalten wird, […] folgt meist noch ein blauer Dienstag.«19
Diese für die ärmeren Schichten und für die arbeitenden Klassen akzeptablen Verhältnisse konnten solange Bestand haben, wie die objektiven Verhältnisse, darunter die zur Anwendung kommenden Arbeitstechniken, und die darauf aufbauenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, dies zuließen. Die tiefgreifenden Veränderungen wurden dann vor allem mit der Erfindung und Einführung moderner Maschinerie bewirkt. Das war auf dem Gebiet der Anfang des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Weberei und späteren Textilindustrie die Spinnmaschine (»spinning mule«), die 1785 in England erfunden und dort ab Anfang des 19. Jahrhunderts in großem Umfang eingesetzt wurde. Fast zeitgleich erfand James Watt die Dampfmaschine (1764); auch sie gelangte in England Anfang des 19. Jahrhunderts massenhaft zum Einsatz, nicht zuletzt zum Antrieb von Spinnmaschinen. Friedrich Engels bilanzierte in seiner berühmten Schrift »Lage der arbeitenden Klasse in England«: »Mit diesen beiden Erfindungen, die seitdem noch jedes Jahr verbessert wurden, war der Sieg der Maschinenarbeit über die Handarbeit in den Hauptzweigen der englischen Industrie entschieden, und die ganze Geschichte dieser letzteren berichtet von nun an nur, wie die Handarbeiter aus einer Position nach der anderen durch die Maschinen vertrieben wurden.«20 Der Sieg der Maschinerie über die Handarbeit war begleitet von vielfältigem Widerstand; Engels schreibt: »Es vergeht keine Woche, ja, fast kein Tag, wo nicht hier oder dort ein Strike vorkommt – bald wegen Lohnkürzung, bald wegen verweigerter Lohnerhöhung, […] bald wegen neuer Maschinerie.«21 In Deutschland mündet die Einführung der neuen Technik 1844 im Aufstand der Weber, von dem Heinrich Heine berichtete: »Im düsteren Auge keine Träne/ Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:/ Deutschland, wir weben dein Leichentuch,/ Wir weben hinein den dreifachen Fluch –/ Wir weben, wir weben!«22
Mit dem Einzug der Maschinerie und der Unterwerfung der Arbeitskräfte unter dieselbe wurde das Zeitdiktat objektiv notwendig – und, bedingt durch die Trennung eines wachsenden Teils der jungen Arbeiterklasse vom Land und von einer Subsistenzwirtschaft – möglich. Die Zeitsouveränität, die es zuvor für größere Teile der arbeitenden Bevölkerung gegeben hatte, war weggefegt. Und dies nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Arbeitstag selbst im Besonderen. Dazu Auszüge aus drei zeitgenössischen Berichten.
(1) Ich war in der Fabrik von Mr. Braid. Dort arbeiteten wir im Sommer, solange