Tempowahn. Winfried Wolf
id="ulink_1eb43fe0-f614-531e-9a83-eb83bfdb504f">Ramon Chao, Ein Zug aus Eis und Feuer, 19942
Wenn ich Ende der 1950er-Jahre nach der Schule – zunächst der Volkschule in Weißenau und dem Humanistischen Gymnasium in Ravensburg, jeweils in Oberschwaben – mit meinen Freunden in den nahe gelegenen Wald zum Spielen ging, pflegte meine Mutter zu sagen, wir müssten zum »Gebetläuten« nach Hause kommen.3 An den Sonntagen gab es eine halbe Stunde vor Beginn des Hochamtes ein eher schlichtes Gebimmel, das in die Kirche rief. Besonders pünktlich war dieses Geläut nicht; um es in Gang zu setzen, musste der Messner jeweils einen guten Kilometer per Fahrrad zur Kirche radeln und dort eigenhändig an einem dicken Hanfseil ziehen, um den Klöppel in Schwung zu bringen – und bei feierlichen Anlässen sogar die große Hosianna-Glocke bewegen. Allerdings gab es bereits eine große Uhr auf dem 45 Meter hohen Turm der Barockkirche. Diese war weithin sichtbar. Man konnte sie auch von zwei der Klassenzimmer der Volksschule aus gut erkennen; wer ausreichend Mut und gute Noten hatte, konnte gegebenenfalls den Lehrer ermahnen, wenn er am Ende der Unterrichtsstunde die Zeit allzu sehr überzog. Es gab ein Zeitgefühl; doch das war eher vage, die Erinnerung an die Zeit erfolgte sporadisch und auf höchst praktischem Weg. Wir waren noch weit entfernt von der Allgegenwart der Zeit im Zeitalter von Handy, DB-Navigator und »getaktetem« Terminkalender.
Jahrtausendelang lebten die Menschen ohne Zeit oder zumindest ohne ein genaueres Zeitgefühl. Ja, es gab schon immer enorm unterschiedliche Zeitgefühle. Wer auf jemanden oder auf ein Ereignis wartet, vermeint, die Zeit bliebe stehen und die Sekunden würden tropfen. Wer ein freudiges Ereignis erlebt, für den vergeht die Zeit »wie im Fluge«. Eine exakte Zeit – ein spezifisches Zeitmaß – lässt sich aus eigener Geisteskraft oder eigenem Empfinden kaum definieren. Studien zeigen: Menschen können die Aufgabe, ohne Uhr nach exakt einer Stunde einen Knopf zu drücken, nicht erfüllen. Ein jeder und eine jede wählt dabei – mit enormen Abweichungen – einen anderen Zeitpunkt.
Das gesellschaftliche Leben erforderte jahrtausendelang kein genaues Zeitmaß. Und somit gab es keine sprachliche Ausformung für »Zeit« – beziehungsweise der Zeitbegriff wurde in anderer Weise ausgelegt. Das »panta rhei (πάντα ῥεῖ) – alles fließt« des Heraklit setzt den Zeitfluss mit dem Bett eines Stromes gleich. Dabei ging es ihm nicht in erster Linie um Zeit. Schon gar nicht um konkrete Zeitpunkte. Im Gegenteil: Hektik und Tempo sind dem Bild vom Flussbett fremd. Inzwischen ist vom Zeitstrahl die Rede. Im alten Ägypten soll es kein Wort gegeben haben, das so abstrakt und umfassend ist wie unser Begriff Zeit – wohl aber viele Worte, die sich auf die Zeit von etwas und für etwas beziehen und so viel wie »Augenblick«, »Moment« bedeuten und damit »auf einen bestimmten Zeitpunkt eines Ereignisses […] hinweisen, an dem sich dieses am charakteristischsten entfaltet.« Es habe, so Erhard Oeser, eine »grundlegende Spaltung des Zeitbegriffs« gegeben: »Die alten Ägypter hatten zwar schon das Bewusstsein von einer das eigene subjektive Zeiterleben und die eigene Lebenszeit übersteigenden Zeit. Aber diese ›Zeit‹ fiel bei ihnen mit der ewigen Zeitfülle zusammen, außerhalb derer nicht gedacht werden kann und die mythologisch durch den ›Uruboros‹, das Symbol der sich in den Schwanz beißenden Schlange, dargestellt wurde.«4
Es waren staatsähnliche Strukturen, der Handel, Transport und Verkehr und nicht zuletzt Kriege, die ein möglichst genaues Zeitmaß und eine höchstmögliche Geschwindigkeit diktierten. Die Übermittlung eines wichtigen Ereignisses konnte kriegsentscheidend sein. Deswegen war die Geschwindigkeit von Boten – und die gesicherte Übertragung – von strategischer Wichtigkeit. Im Jahr 490 vor Christus galt es den Sieg Athens über die Perser in der Schlacht von Marathon im knapp 40 Kilometer entfernten Athen zu vermelden. Ein Bote soll die Strecke ohne anzuhalten in voller Kampfausrüstung zurückgelegt und in Athen den Sieg verkündet haben, um dann tot zusammenzubrechen. Es dürfte sich um eine Legende handeln. Gesichert ist die Erkenntnis, dass es im antiken Griechenland ein System laufender Boten gab, die in einem relativ festen Zeitmaß Nachrichten überbrachten. Die 240 Kilometer weite Entfernung Athen–Sparta soll ein solcher Hemerodromos in einem Tag zurückgelegt haben.
Tausend Jahre später wird in der »Memminger Chronik« über eine systematisierte Nachrichtenübertragung auf Basis von Taxi’schen Posten wie folgt berichtet: »1490 […] In diesem Jahr fiengen die Posten an bestellet zu werden/ auß Befelch Maximiliani I. deß Königs von Oesterreich biß in die Niderland/ und biß nacher Rom. Es lag allweg 5 Meil wegs ein Post von der anderen. Einer war zu Kempten/ einer zu Bleß 3 Stund unter Memmingen/ einer an der Bruck zu Elchingen/ und also fortan/ einer musste alle Stund eine Meil/ das ist zwei Stund weit reiten/ oder es ward ihm am Lohn abgezogen/ und mussten sie reiten Tag und Nacht. Also kam offt in 5 Tagen ein Brieff von hier biß nacher Rom.«5
Die übliche Tagesleistung dieser Taxi’schen Posten lag im Inland bei 120 Kilometern. Auf europäischer Ebene musste das Habsburger Reich in ein Zeitmaß gebracht werden. Dabei wurde die Leistung bewusst niedriger angesetzt, um ein realistisches Maß als Dauerzustand aufrechterhalten zu können und damit ein festes Zeitmaß zu erreichen. In einem 1505 geschlossenen Vertrag zwischen Philipp und Franz von Taxis wurden die folgenden Zeitmaße vereinbart: Brüssel–Paris 44 Stunden im Sommer und 54 Stunden im Winter; Brüssel–Innsbruck fünfeinhalb Tage bzw. sechseinhalb Tage; Brüssel–Granada 15 beziehungsweise 18 Tage.
Die Fähigkeit, aus Zeitgewinn, Zeitkontrolle und einem Briefmonopol ein Geschäft zu machen, verschaffte der Adelsfamilie der Thurn und Taxis einen enormen Reichtum, weswegen der Milliardär Albert von Thurn und Taxis heute zu den hundert reichsten Deutschen zählt. Und während sich die Thurn-und-Taxis-Pferde-Posten mit Tempo 20 Stundenkilometern bewegten, bevorzugt seine Durchlaucht heute die zehn- bis fünfzehnfache Geschwindigkeit: Der Mann fährt Autorennen. Immerhin auf dafür vorgesehenen und für den öffentlichen Verkehr nicht geöffneten Bahnen. Seine Mutter, die Fürstin Gloria von Thurn und Taxis: »Es macht schon wahnsinnig viel Spaß auch mal sehr schnell, mit Tempo 300, über die Autobahn zu fahren. […] Man kann hin und wieder nachts schon mal versuchen, die magische Grenze zu knacken. […] Der Blick klebt dabei auf der Straße. Das ist natürlich schon ein Erlebnis.«6
Doch zurück in entschleunigtere Zeiten und zum Läuten der Glocken. Dies war im gesamten Mittelalter und bis in die Zeit der Industriellen Revolution hinein das übliche Zeitmaß. Andernorts – so in den Tuchdistrikten und in den Gebieten mit Töpferei in England – wurde das Horn eingesetzt, um frühmorgens die Leute zu wecken. Zwar gab es erste mechanische Uhren bereits im 14. Jahrhundert; es handelte sich jedoch in der Regel um Turmuhren, die im öffentlichen Raum die Zeit verkündeten. Mitte des 17. Jahrhunderts verbreiteten sich die Standuhr und erste Taschenuhren. Genauigkeit in der Zeitmessung war noch kaum ein Thema – auch weil nicht im gesellschaftlichen und Arbeitsleben notwendig. Es war dann nicht zufällig die Schifffahrt, in der mechanische Zeitmesser mit präzisem Uhrwerk zum Einsatz gelangten. John Harison, ein Uhrmacher und ehemaliger Schreiner aus Barton-on-Humber (Lincolnshire), perfektionierte 1730 eine Schiffsuhr, von der er sagte, diese »dahin gebracht (zu haben), dass sie genauer geht, als man sich vorstellen kann, wenn man an die große Zahl von Sekunden denkt, die ein Monat hat, und während deren sie um nicht mehr als eine Sekunde abweicht. […] Ich bin mir sicher, dass ich es noch auf die Genauigkeit von 2 oder 3 Sekunden pro Jahr bringen kann.«7
Im ausgehenden 17. Jahrhundert und das gesamte 18. Jahrhundert hindurch war die englische Uhrmacherkunst in Europa hinsichtlich Technik, Präzision und modischer Ausgestaltung führend. Ihre Basis war zunächst eine rein handwerkliche; das Uhrmacherhandwerk ging aus dem Schmiedehandwerk hervor. Im 18. Jahrhundert wurde daraus jedoch ein ansehnlicher Industriezweig, in dem einige Tausend Menschen auf halbindustrieller Ebene arbeiteten: Es gab eine Arbeitsteilung mit vorfabrizierten Zulieferungen aus großen Fabriken. Für 1796 wird als Produktion der englischen Uhrmacher die Zahl von 191.678 Taschenuhren genannt. Ein großer Teil der Uhren ging in den Export.8 Anfang des 19. Jahrhunderts erwuchs dem englischen Uhrenhandwerk eine kontinentale Konkurrenz insbesondere in Form französischer und Schweizer Uhrenhersteller.
Ein gutes halbes Jahrhundert lang waren Taschenuhren ein Luxusgut der Reichen. Der Durchschnittspreis lag so hoch, dass die ständig ablesbare Zeit das Privileg von Adel, Meistern, Fabrikherren und Händlern blieb. Ende des 18. Jahrhunderts wurde aus Luxus Mode und mit der Mode in zunehmender Weise ein Massenprodukt: