Vom Imperiengeschäft. Berthold Seliger
(und nichts anderes ist ja ein Ticket) kann nicht zu überhöhten Preisen weiterverkauft werden, denn sie kann gar nicht weiterverkauft werden, sie ist ja an die ID der Nutzer*innen gekoppelt. Und wenn Käufer*innen aus irgendwelchen Gründen ihre Einlaßberechtigung (ihr papierloses Ticket) nicht nutzen können, weil sie zum Beispiel verhindert sind, müssen die Ticketinganbieter gegen eine geringe Gebühr eine Plattform anbieten, auf denen das papierlose Ticket an Interessent*innen zum Originalpreis weiterverkauft werden kann – die ebenfalls mit einer Käufer*innen-ID belegen, daß sie keine kommerziellen Weiterverkäufer*innen sind.
Go paperless, und ihr seid das lästige Secondary-Ticketing-Problem los!
Der amerikanische Philosoph Michael Sandel hat in seinem Buch »Was man für Geld nicht kaufen kann« von einer »Ethik des Schlangestehens« gesprochen: Wer als erster kommt, wird als erster bedient. Wer später kommt, muß sich anstellen und kommt später dran. Es geht, wie man so sagt, »immer der Reihe nach«, und es gehört sich nicht, sich vorzudrängeln. Man könnte sagen, die Schlange macht uns gleich. Oder sie erinnert uns daran, daß wir in einer Demokratie zumindest theoretisch alle gleich sind, daß zu den Idealen der Aufklärung neben »Freiheit« und »Brüderlichkeit« eben auch die »Gleichheit« zählt. Wenn nun aber jemand, der Karten für ein ausverkauftes Konzert erwerben möchte und bereit ist, nicht den ursprünglichen, von Künstlern und Veranstaltern festgelegten, sondern einen beträchtlich überhöhten Eintrittspreis zu zahlen, dann wird die Gleichheit außer Kraft gesetzt. Diejenigen, die sich mit ihrem Geld das Privileg erkaufen wollen und können, die Schlange zu ignorieren und statt derjenigen, die den normalen Eintrittspreis bezahlen, in die Veranstaltung gelangen, sind im Grunde Egoisten, die ihre Ellbogen ausfahren und die sich rücksichtslos und zum Nachteil der anderen vordrängeln. Wollen wir wirklich in einer Welt der Vordrängler leben? In einer Welt, in der sich die mit dem meisten Geld durchsetzen? In der die Gleichheit aller Menschen nur auf dem Papier existiert?
Es gibt ja immer noch Musiker*innen wie auch Veranstalter*innen, denen es nicht egal ist, wie hoch die Eintrittspreise sind. Das Recht auf Preisgestaltung und letztlich auf Gleichbehandlung der Konzertbesucher*innen wird jedoch durch neue Ticketing-Modelle aufgeweicht, die der neoliberalen Wirtschaftsweise und den Möglichkeiten der Digitalisierung abgeschaut worden sind. Zu diesen Modellen gehört das »Dynamic Pricing«, wie wir es zum Beispiel von Fluglinien oder aus der Hotellerie kennen. In der Konzertbranche bedeutet Dynamic Pricing vor allem: Je höher die Nachfrage nach Tickets, desto teurer werden sie. Und je größer die Nachfrage nach einem bestimmten Ticket (z. B. dem vermeintlichen »Best Seat«), desto teurer wird dieser beste Platz. Umgekehrt gilt: Wenn für ein Konzert im Vorverkauf nur wenige Karten abgesetzt werden, könnten die Eintrittspreise billiger werden, um den Verkauf anzukurbeln. Ticketverkauf zu wechselnden Preisen je nach Nachfrage.
Live Nation / Ticketmaster haben allein durch die Praxis des Dynamic Pricing für das Geschäftsjahr 2018 Zuwächse in Höhe von 500 Millionen US-Dollar erwartet. Mit Dynamic Pricing kann man also noch mehr Profit aus den Konzerten herausholen. Dynamic Pricing nutzt dabei die Datensammelwut sowohl der Handelsriesen als auch der Internetplattformen. Letzteren ist zum Beispiel bekannt, mit welcher Hardware ihre Kunden die Seiten ansteuern. Nach einer Recherche des SWR-Magazins Marktcheck bezahlen Apple-Nutzer teilweise höhere Preise für einzelne Produkte, weil sie von den Konzernen als zahlungsstärker eingestuft werden. Auch Amazon hat eingestanden, daß Kunden für Amazon-Produkte zum Teil unterschiedliche Preise zahlen.*
* »Wenn wir das Gefühl haben, es entwickelt sich für den Kunden ein neuer Marktpreis, und das kann bei manchen Produkten mehrmals am Tag sein, reagieren wir darauf.« Ralf Kleber, Deutschland-Chef von Amazon, in: »Amazon-Chef: Wir passen den Preis den Kunden an«, Süddeutsche Zeitung, 1. 11. 2015.
Und die Informatikerin Constanze Kurz hat beschrieben, wie sogenannte »Tracker«, die in Apps auf dem verbreiteten Android-Betriebssystem enthalten sind, ohne daß die Nutzer*innen davon Kenntnis haben, pausenlos »Daten aus den Mobiltelefonen an Unternehmen senden, die Nutzerprofile anlegen und sie meistens Werbekunden anbieten«. Laut einer Studie von Forschern der Universität Oxford haben 90 Prozent aller Apps, die im »Google Play Store« angeboten werden, Tracker eingebaut, und fast alle gehören US-amerikanischen Unternehmen, die diese Nutzerdaten erhalten. Etwa zehn Prozent der Apps senden ihre Trackerdaten nicht nur an US-Firmen, sondern »zusätzlich in andere Länder, in denen Profilfirmen sitzen«. Im Klartext bedeutet das: »Fremde Dritte sitzen massenhaft und unbemerkt in unseren Mobiltelefonen und vermerken unser Verhalten oder unsere politische Gesinnung, um uns später maßgeschneiderte Werbung schicken zu können.«27
Es wäre technisch für CTS Eventim oder Ticketmaster, die über Kundendaten im gigantischen Ausmaß verfügen, ein leichtes, Kunden, die sich über ein Apple-Notebook, ein iPhone oder ein iPad auf ihren Websites einloggen, höhere Ticketpreise abzuverlangen als jenen, die mit einem Aldi-Laptop ihr Portal besuchen. Und man darf getrost davon ausgehen, daß zu den »fremden Dritten«, die in unseren sogenannten Smartphones sitzen, längst auch die Ticketing-Konzerne gehören. Der zusätzliche Vorteil für die Ticketing-Konzerne bei Dynamic-Pricing-Modellen: Die Musiker bekommen von den erhöhten Eintrittspreisen in der Regel nichts mit, die Konzerne müssen diese Zusatzprofite also nicht mit den Musiker*innen teilen (es sei denn, die haben smarte, mit allen Wassern der Digitalwirtschaft gewaschene Manager*innen). Kein Wunder, daß Michael Rapino, CEO von Live Nation, also Chef des weltgrößten Konzertveranstalters und des weltgrößten Ticketinghändlers, ausgesprochener Freund von »Best Sale«-Modellen und ganz allgemein von höheren Eintrittspreisen ist. Rapino tritt dafür ein, Künstler davon zu überzeugen, »bei der Preisgestaltung mehr zu wagen«. Ohnehin seien »Ticketpreise im Durchschnitt noch zu niedrig«. Man müsse lediglich »den Umsatz im eigenen Haus behalten, indem man den Kuchen in viele unterschiedlich große Stücke« schneide. »Besseres, offensiveres Pricing« sei zwar ein kontroverses Thema, doch die Konzertindustrie müsse »Feuer mit Feuer bekämpfen«.28
Hier zeigt sich der Paradigmenwechsel im Konzertgeschäft: Früher war ein Veranstalter glücklich und zufrieden, wenn er eine Halle oder gar ein Stadion zügig ausverkauft hatte, und für die Promoter der alten Schule dürfte das auch heute noch gelten: Man hat ein großes Publikum für die Musiker*innen und Bands gefunden, die man veranstaltet – was will man mehr? Aber die neuen Herren der internationalen Konzertimperien sehen das anders, sie sind bei einem rasch ausverkauften Konzert der Ansicht, daß der Ticketpreis offensichtlich zu günstig war. Sie ziehen den – rein wirtschaftlich gesehen logischen – Schluß, daß man höhere Ticketpreise hätte verlangen und den Profit noch hätte weiter steigern können. Man muß Michael Rapino geradezu dankbar sein für die Offenheit, mit der er sein Geschäftsmodell vertritt.
Klaus-Peter Schulenberg von CTS Eventim dürfte vieles ähnlich sehen und praktizieren, würde sich aber niemals öffentlich so äußern, wie es der Texaner Michael Rapino mit seiner selbstbewußten Cowboy-Attitüde immer wieder tut. Sowohl Ticketmaster als auch CTS Eventim haben mit Seatwave, Get Me In und fanSALE eigene Zweitmarkt-Plattformen für Eintrittskarten an den Start gebracht. »Wenn ein Besucher bereit ist, für ein Ticket 4000 Dollar zu zahlen, dann ist er nicht der Böse, sondern ein engagierter Fan«, ließ Rapino auf der ILMC verlauten. Es komme eben lediglich darauf an, daß man »den Umsatz im eigenen Haus behält«. Klar: Wenn die Tickets auf der konzerneigenen Zweitmarkt-Plattform ein zweites Mal verkauft werden, streichen die Ticketing-Konzerne ein zweites Mal ihre Prozente ein, laut Brancheninsidern im Falle des Zweitverkaufs nochmal 15 bis 20 Prozent. Sie machen doppelten Profit. Sie perfektionieren ihr Imperiengeschäft.
Und zusätzlich können die Ticketanbieter theoretisch selbst Tickets von ihrer Erstverkaufs- in die eigene Zweitmarkts-Plattform verschieben, ohne daß es irgendjemand merkt. Ob sie es wirklich tun, wie immer wieder behauptet wird, läßt sich nicht beweisen, die Tickethändler sind den Konzertveranstaltern ja nur über die auf ihrer ursprünglichen Plattform verkauften Tickets Rechenschaft schuldig. Aber der Toronto Star veröffentlichte im Herbst 2018 ein Video-Interview, indem ein Verantwortlicher bei Ticketmaster zugab, daß seine Firma eine Software namens »TradeDesk« anbietet, die Wiederverkäufern das schnelle Up- und Downloaden von Tickets auf und von Ticketmasters eigener Wiederverkaufsplattform erlaubt, ohne daß Ticketmaster einen besonderen Einblick in diese Aktionen habe oder sie kontrollieren