Zanderblut. Wolfgang Wiesmann

Zanderblut - Wolfgang Wiesmann


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      „Wir stehen hier vor einem Scheißproblem“, stöhnte Haverkamp. „Das sind Haare von einem Menschen, wahrscheinlich von einer Frau.“

      „Kann doch auch ein Scherz sein“, wiegelte Teltrup ab.

      „Da macht sich keiner so viel Arbeit für einen so schlechten Scherz. Was, wenn da noch mehr Fische schwimmen, die Post um den Bauch gewickelt haben, mit Fingernägeln, Zähnen oder Ohrläppchen drin?“

      Teltrup behielt die Ruhe.

      „Vielleicht haben die Älteren aus der Jugend den Jungen an der Nase herumgeführt und wir sind nachher die Doofen, weil wir die Nerven verloren haben. Machen wir uns nicht lächerlich.“

      „Ne, ne! Da ist was im Busch. Wir kämpfen gegen Dülmen um die Existenz des Vereins. Hier geht es um alles oder nichts. Dülmen will uns ausstechen und dazu sind denen alle Mittel recht.“

      „Ach was. Ich kenn den Theo Buttgereit aus Dülmen, der würde nie solche Methoden befürworten. Mach die nicht alle schlecht. Wir warten ab und ich mobilisiere einige Kollegen, dass sie morgen am Teich auf Karpfen gehen. Wenn die keinen Zombiefisch mehr fangen, ist die Sache erledigt.“

      „Okay, verschließ die Sachen im Kassenschrank. Falls tatsächlich ein krimineller Akt dahintersteckt, haben wir zumindest unsere Pflicht getan und die Indizien für die Polizei sichergestellt.“

      Samstag am Vereinsteich in Börnste. Der Morgen dieses frühen Herbsttages kündigte schönes Wetter an. Die Nacht war kalt gewesen, fast frostig. Vereinzelt lagen Nebelbänke über den Feldern. Knorrige Eichenstämme ragten mit ihren Kronen aus dem milchigen Dunst heraus. Mani Kempinski versuchte möglichst nah am Tor zur Teichanlage eine Parklücke zu erwischen. Vergebens. Er ärgerte sich über die müßigen Kollegen. Die Büsche und Sträucher links und rechts vom Tor hätten längst gestutzt werden müssen. Frustriert kramte er seine sperrige Ausrüstung aus dem Kofferraum und stiefelte los. Das Abangeln sollte ein Erfolg werden. In ein paar Stunden würde das Vereinsgelände bevölkert sein und später wurden Frauen und Kinder zum Grillen erwartet.

      Plötzlich blieb er erschrocken stehen und tastete seine Parkertaschen ab. Ein Glück, sein Handy hatte er eingesteckt. Das beruhigte ihn, denn er wollte Pörschke jederzeit erreichen können. Die Sache mit dem Ohrring machte ihm zu schaffen. Niemand anderes als er hatte den Ohrring ans Licht befördert. War er vielleicht sogar selber gemeint, eine Geste aus dunkler Vergangenheit, ein schwarzes Loch, von dem er hin und wieder träumte und aus dessen Tiefe seine Mutter nach ihm rief? Die Ohrringe kamen ihm bekannt vor, aber nein, er hatte nichts damit zu tun.

      Er setzte seinen Weg fort. Richtig wach fühlte er sich nicht und die gewohnte Freude auf den Angeltag ließ auf sich warten. Nachts hatte er sich unruhig im Bett gewälzt und war schweißgebadet aufgewacht. Er hatte vom zweiten Ohrring geträumt, der ihn über den Traum hinaus als armseligen Sünder verfolgte. Hatte er den Tod seiner Mutter verschuldet? Hatte er deswegen Frauen schon früh aus seinem Leben gestrichen? Da war eine Wand, die unüberwindlich schien und vor der er zum ersten Mal als Kind gestanden hatte. Längst hatte er sich mit dem Schicksal abgefunden, ewiger Junggeselle zu bleiben, doch hatte sein Hausarzt ihm geraten, sich nicht von der Gesellschaft abzukapseln, da er ohne Partner und mit einem Hobby, das man oft alleine betrieb, vereinsamen könnte. „Man schlittert in eine Psychose, ohne dass man es merkt“, hatte sein Arzt ihn gewarnt, aber Kempinski schenkte dem keine Bedeutung, weil er glaubte, dass Angeln für ihn die beste Therapie sei. Und außerdem lagen Depressionen nicht in der Familie, jedenfalls nicht väterlicherseits.

      Dicke Nebelschwaden krochen aus der Mitte des Teiches empor. Er blieb erneut stehen und sah sich das Spiel der Elemente an. Die Stille hier draußen in der Natur faszinierte ihn. Sie kroch bis tief in seine Seele, aber wenn er nicht aufpasste und sich zu sehr darauf konzentrierte, wurde sie lauter und lauter, bis er sich ablenken musste, um nicht vom Getöse der Stille innerlich zerrissen zu werden. Erst seit einigen Wochen war ihm dieses Phänomen aufgefallen und er fragte sich, ob sich dadurch die Psychose ankündigte, von der sein Arzt gesprochen hatte.

      Er legte seine Utensilien vorsichtig ins nasse Gras, klappe seinen Angelstuhl auf und zündete sich eine Zigarette an. Abschätzend blickte er nach oben. Der Nebel hatte sich verzogen. Auf der glatten Oberfläche des Wassers spiegelte sich das frische Blau des Himmels, als würde es bis tief unten auf den Grund scheinen. Er machte einen weiteren Schritt ans Ufer und plötzlich war ihm, als sähe er dort unten einen roten Edelstein. Er blinzelte und bückte sich nieder. Vielleicht konnte er den leuchtenden Punkt einfangen, ihn sogar mitnehmen. Doch als seine Hand ins Wasser glitt, verschwand der rote Schein. Er stützte sich behäbig im moosigen Grund ab, richtete sich auf und setzte seinen Weg zum Angelplatz fort.

      Er hatte richtig getippt. Es gab einen zweiten Ohrring mit einem Rubin.

      Um zehn Uhr waren alle Angelplätze belegt. Pörschke machte seine Runde um den Teich, weil er es als seine Pflicht ansah, mit allen Mitgliedern kurz ins Gespräch zu kommen. Als er auf Mani Kempinski zuging, steckte er sich eine Zigarette an.

      „Wir haben Glück mit dem Wetter.“

      „Du siehst müde aus“, nuschelte Kempinski.

      „Die Kollegen meinen, dass es um die Mittagszeit besser werden würde mit den Fängen. Bisher haben die meisten nur zaghafte Bisse von Rotaugen. Ein paar Schleien wurden gefangen und Bickhove hat vier Brassen. Was hast du?“

      „Zwei Karpfen ohne Schmuck, wenn du es genau wissen willst.“

      Gegenüber winkte ihnen ein Anglerkollege mit beiden Armen aufgeregt zu. Er konnte nicht rufen. Das hätte die anderen verärgert. Pörschke trat seine Zigarette aus, sah Kempinski alarmiert an und ging zu dem Mann, der bereits seinen Kollegen zur Rechten zu sich gewunken hatte.

      „Was gibt’s?“, fragte Pörschke betont gelassen.

      „Mensch, sieh dir das an. Das glaubst du nicht. In der Schwanzflosse des Karpfens steckt ein Ohrring.“ Pörschke beugte sich über den Fisch. „Tatsächlich, ein Ohrring mit einem blauen Stein. Damenschmuck, wie ich das sehe. Ob den jemand verloren hat? Und dann hat der sich dort festgesetzt?“

      „Was Blöderes konntest du jetzt nicht sagen“, fuhr ihn der Kollege an. „Da hat jemand absichtlich den Ring reingesteckt. Dumme Geschichte. Was meinst du, Willi? Du bist doch Juwelier.“

      Willi entfernte den Ring aus der Flosse und sah ihn sich an.

      „Ein altes Stück. 333er Goldfassung und wahrscheinlich ein echter Saphir. Diese Art Schmuck verlor in den Nachkriegszeiten an Bedeutung. Könnte ein Erbstück sein. Der Karpfen ist höchstens zwei Jahre alt und der Schmuck sieht nicht so aus, als trüge ihn der Fisch schon seit seiner Geburt.“

      Pörschke ließ die Männer reden. Vielleicht ergab sich dadurch die Lösung, nach der er fieberhaft suchte. Der Fänger des Fisches überlegte.

      „Und du meinst, dass der Ring erst kürzlich im Karpfen befestigt wurde? Aber wie ist der Scherzbold an den Karpfen gekommen?“

      „Er hat ihn gefangen, was sonst?“

      „Dann ist das jemand aus dem Verein?“

      „Oder aus einem anderen Verein“, schob Pörschke eilig dazwischen.

      „Warum das?“

      „Die von Haltern wollen uns für dumm verkaufen, halten uns zum Narren.“ Pörschke tat entschlossen. „Wir müssen den Fund geheim halten. Niemand von den Kollegen darf das an die große Glocke hängen, auch kein Wort an die Familie. Gebt das weiter an die Kollegen, die auch einen Karpfen mit Schmuck fangen, aber haltet sonst die Klappe. Die Komiker aus Haltern werden sich wundern, wenn wir zurückschlagen.“

      Willi steckte den Ohrring ein.

      Um die Mittagszeit schien die Sonne pur von einem stahlblauen Himmel herab. Einige Frauen waren gekommen, um ihren Männern einen Snack zu bringen und im Vereinsheim frischen


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