Vicky Victory. Barbara Sichtermann

Vicky Victory - Barbara Sichtermann


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Juni gibt Gas. Sekundenlang zeigt er mir sein Gesicht, in dem die schwarzen Augen flackern.

      »Ja, bremsen muss man können«, sagt er heiser.

      Juni hat selbst einen Hund besessen — und nicht nur besessen, er hat ihn verehrt. Kurt hieß der Terrier. Eines Tages ist er unter ein Auto gerannt, Juni hat ihn verbluten sehen. Er kommt nicht darüber hinweg. Vier Wochen ist es jetzt her, und noch immer kriegt Juni Falten unter den Mundwinkeln, wenn er einen Hund sieht.

      »Du willst Jagdinstinkt haben?« sagte er, als ich kam, um ihn zu trösten. — »Ist doch alles Gerede. Kurt hatte Jagdinstinkt. Er hat den Ratten eingeheizt, dass die Vie­cher Saltos aus’m Stand geschlagen haben, wenn er nur gehustet hat. Ich möchte wissen, was aus dieser Gegend werden soll ohne Kurt.«

      Juni hat seinen vierbeinigen Freund neben der Werk­statt beigesetzt und dabei ein bisschen tiefer ins Erdreich hineingestochen, als es für ein Hundegrab notwendig ge­wesen wäre. Prompt hat er etwas gefunden: eine Schraubmutter und zwei grüne Glasscherben.

      »Sieht nach nichts aus«, räumte er ein, »ist aber ein An­fang. Ein Zeichen. Wenn wir weiterbuddeln, stoßen wir auf eine Silberader.«

      Er hat Kurt in die Grube gelegt, die nagelneue Leine und das Halsband hinterhergeworfen und das Loch zuge­schüttet. Er mochte dann doch nicht mehr nach Silber su­chen und mit seiner Schatzgier Kurts Ruhe stören. Stattdessen schloss er seinen Laden, obwohl es noch nicht fünf war, und ging mit mir in unsere Stammkneipe »Bella Ciao«. Ich habe ihm seinen Lieblingsdrink ausgegeben, um ihn ein bisschen aufzuheitern, aber es hatte keine Wir­kung. Er nahm den Futschi und meinen guten Willen zur Brust und sagte immer wieder: »Der Trabifahrer hat zu spät gebremst« und »Warum hab ich Kurt nicht angeseilt?« und kippelte mit seinem Stuhl, als sei er wild auf noch ein Unglück. Gegen Morgen berichtete ich, dass im Minipreis eine neue Kassiererin …

      »Aber du lässt die Finger von ihr«, drohte ich. »Mit der ist’s mir ernst.«

      Da hat er endlich gelächelt.

      ☆

      »He Juni, wie willst du den Tschaika überhaupt vom Fleck kriegen?«

      »Schon mal was von Abschleppseil gehört?«

      »Aber … da muss doch jemand lenken?«

      »Rat mal, warum du hier neben mir sitzt.«

      »Mann, ich hab keinen Führerschein …«

      »Aber Auto-Scooter biste schon gefahren? Du weißt, was man mit dem Lenkrad macht, wenn man rechts um die Ecke will? O du mein stilles Tal, gäb’s doch ’ne Spritze gegen diesen ewigen Schiss von Igor. Keen Wunder, dass du keine Mark machst.«

      »Juni, wenn ich den Tschaika lenken soll, muss ich reinkommen.«

      »Logisch.«

      »Und du meinst, das Ding steht offen auf der Straße?«

      »He Mann, bist du verbohrt.«

      »Verbohrt oder nicht, das ist Diebstahl.«

      »Nicht, wenn die Polizei den Kahn abschleppt.«

      »Richtig. Aber …«

      »Wir sind von der Polizei.«

      »In Zivil und mitten in der Nacht?«

      »Wenn de mal nach hinten kiekst, siehste zwee Blau­männer, die legen wir an. Das Ganze geht ruckzuck, und keen Ossi wird davon wach.«

      »Egal, für hundert Mäuse ist mir das zu heiß.«

      »Jau, Auto-Scooter-Fahren ist gefährlich, saugefähr­lich.

      »Tut mir leid, Meister, du musst was drauflegen.«

      »Weil du es bist: hundertfünfzig.«

      »Zweihundert.«

      »Blutsauger.«

      Wir brummen durch das schläfrige Reinickendorf, ent­lang der Mauertrasse, neben uns die S-Bahn. Reste von Beton und Stacheldraht türmen sich stellenweise zu wü­sten Gebilden. Ein Zug rauscht vorbei, funkelnd und vertieft in seine Spur. Juni biegt ab nach Niederschönhausen, vorbei am Pankower Friedhof, in den gerade ein Kanin­chen eilig heimkehrt. In diesem ehemaligen SED-Nobilitäten-Viertel ist es still und düster, und meine Bedenken verfliegen. Juni hat recht. Wir müssen ihn nur finden, den russischen Nomenklatura-Waggon, anseilen, aufbrechen, ab geht die Post. Was soll schon passieren?

      »In welcher Straße steht das Ding?«

      »Kuckhoffstraße. - Pass auf, Igor, Strategie. Ich kümme­re mich um den Tschaika, du dich um den Faktor Mensch. Wenn jemand vorbeikommt, der sich wundert, verwickelste ihn in einen kleinen Plausch über die Wende. Das könn’ die mit uns nicht machen und so weiter. Und glotz mir nicht auf die Pfoten, davon krieg ich Ausschlag.«

      Er hält in der Kuckhoffstraße: biedere Zweifamilien­häuser hinter schmalen Vorgärten. Die Straßenbeleuch­tung funktioniert nur hier und da, man sieht nicht viel. Juni und ich verrenken uns fluchend die Glieder, bis wir sie in den knappen Blaumännern verstaut haben, und dann war meiner auf links gedreht! Ich muss nochmal durch die ganze Prozedur. Juni startet den Golf und lässt ihn im Kriechgang durch die Kuckhoffstraße summen. Wir beiden stieren auf die im Lichtkegel links und rechts auf­tauchenden parkenden Wagen: Volvo, Wartburg, Trabi, Lada. Wartburg, Opel, VW, Mercedes.

      »Keine Ahnung, was Leistung heißt und Standard«, brummt Juni und bohrt seinen Blick in die Nacht. »Aber ’n Westauto muss sein, und wenn dafür die Mutti verkooft wird.«

      Plötzlich bremst er und japst. Da seh ich’s auch. Tief­schwarz prangt er unter der Laterne, riesig und fremd wie ein Raumschiff: der Tschaika. Auf seinen Flanken schim­mern kleine Wappen, das mächtige Heck strahlt wie ein Kometenschweif. Es fehlt nur der Trockeneisnebel, dann wäre das die Zeitmaschine aus der vierten Dimension.

      »Donner«, haucht Juni und ich mache: »Oijoijoi!« Andächtig wiegt Juni sein Haupt und wiederholt: »Donner!« Seine dunkle Stimme versteigt sich in bewundernde Koloratur:

      »Hättste das den Russen zugetraut?« Schon hat er’s ei­lig. Rangiert den Golf schräg in die zu kleine Lücke vor dem Tschaika, greift sich sein Werkzeug und öffnet den Schlag: »Los!«

      Er wagt das exotische Schiff nicht mal genauer anzu­gucken, so selig ist er über seinen Fund. Fürchtet wohl, der könnte abheben wie ein Ufo, wenn er ihn scharf ins Auge fasst. Widmet sich erstmal der Anseilerei. Das geht schnell, aber nicht ohne Störung. Wie das eben ist in ruhi­gen Gegenden: Wenn jemand kommt und hält und aus­steigt, fällt er auf - zumindest den Wachhunden. So einer schlägt jetzt an.

      Das gedrungene Zweifamilienhaus rechter Hand wird lebendig. Es grollt und grummelt ein Köter, es murren die Menschenstimmen. Dann wird es still. Die Haustür öffnet sich. Eine dickliche Bewohnerin guckt ruhig zu uns hin. Sie guckt, entschließt sich und naht. Juni drückt mir sei­nen Unterarm ins Kreuz. Das wäre nicht nötig gewesen. Ich weiß, was ich zu tun habe.

      »Na, so spät noch am Werk?« fragt die füllige Dame, die jetzt bis ans Gartentor vorgerückt ist. Hinter ihr erscheint in der Haustür ein etwa fünfzehnjähriger Junge mit Bri­kett-Frisur, der einen Schäferhund am Halsband führt und, das Tier tätschelnd und beschwörend, so tut, als ret­tete er uns gnädig das Leben.

      »Man wird ja nich mehr fertich«, melde ich freund­schaftlich, den Ellenbogen plauschbereit auf den Zaun gestützt. »Wat in den Berliner Straßen so los is heutzuta­ge - Sie glooben’s nich!«

      »Wer hat Sie hergeschickt - wenn man fragen darf?«

      »Die Verkehrswacht. Wir schleppen den janzen Tach Fahrzeuge ab. Jeklaute Autos, falsch jeparkte Autos, TÜV-überfallige Autos, abjemeldete Autos …«

      »Und nu räum’n Se endlich ma hier det Museumsstück beiseite?«

      »Jenau. Wissense, det is nich statthaft, det so’n Fahr­zeug ohne Nummernschild … Det jehört entweder uff’n Schrottplatz oder …«

      »Sach


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