Vicky Victory. Barbara Sichtermann
auch noch wie ’ne Cartoonfigur voll in Frau Busses Scheuereimer …
Wenn der Mensch krank im Bett liegt, bereut er es nicht mehr, verlobt zu sein. Sonja kam sofort und mit ihr kamen Salbe, Trost, zwei amerikanische Romane (meine Lieblingslektüre) und jede Menge Putenschnitzel mit Püree. Den Salat nicht zu vergessen. Ich zog Sonja zu mir auf das Ausziehsofa und flüsterte: Lass uns das Beste draus machen, aus dieser Bettlägerigkeit, und sie sagte: Bitte sehr, und erwartete den ersten Schmerzenslaut. Meine Hüftbeweglichkeit war schier, gleich Null. Juni ist doch besser weggekommen, fand ich, matt an die Liebste geschmiegt. Wozu braucht der Mensch im Bett Hände? Zumal mir Sonja auf beide draufschlug und behauptete, die Putenschnitzel seien durch.
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Heute ist sie bis zum tiefen Abend im Gemeindehaus beschäftigt, meine Sonja, also kann ich unbehelligt auf die Jagd gehen und den Minipreis beschleichen. Ich rutsche sorglos über’s Geländer abwärts, denn ich bin mir meines Gleichgewichtes völlig sicher, und Hauswart Bock, der kann mich mal. Leider schmerzt das Kreuz noch ungemein.
Es ist spätsommerlich mild. Der warme Abendfriede lehrt uns Berliner, das Konzert der Vögel aus dem Verkehrsgesumm herauszuhören und - ja, fast einstimmen zu wollen. Frohgemut schlendere ich zur Darwinstraße rüber, froh und erwartungsvoll, denn heute mach ich es richtig.
Die Hinterfront des Minipreis, die kleinen Fenster und die Glastür, sie schimmern im Ladenschlusszwielicht. Die Werktätigen der Zirkulationssphäre haben ihre Sachen gepackt und treten hervor, um in den Moabiter Feierabend auszuschwärmen. Hier parken des Abteilungsleiters Opel, des Lager-Fuzzis Motorrad und ungefähr ein halbes Dutzend Lieferwagen. Die menschlichen Wesen irren winzig durch diesen Kongress machtvoller Fahrzeuge; man muss achtgeben, dass man keines übersieht, denn sie alle können sich im Schatten der LKW’s entlangdrücken und verflüchtigen. Aber dann - nun danket alle Gott - dringt eine Traube erheiterter Mädchen aus der gläsernen Hintertür, die hängen aneinander, die erzählen sich was und lachen sich scheckig; der ganze Tagesfrust wird hier in Kicherkaskaden ersäuft. Und wie ich näher herantrete, kühn und zielbewusst, verstehe ich sogar, was die eine, die kleine Verwachsene, hervorstößt:
»Nur um zu hupen? Nur um straflos die Hupe durchzudrücken?« Und eine andere quiekt dazwischen:
»Sieht dem Affen ähnlich. Wundert mich überhaupt nicht.«
Und was sagt Loreley?
Denn sie ist auch dabei und mittendrin. Sie lacht, entfesselt, den Kopf im Nacken, ohne Luft, sie hat sich festgelacht und führt die Hand zum Bauch, weil es ihr wehtut.
So hübsch dieser Anblick sich kringelnder Mädchen ist, so froh ich bin, an der richtigen Stelle zu sein und Evelyn-Loreley Rosinski vor mir zu sehen, so ungünstig ist für meine Absichten die Pulk-Form, in der das Frauenvolk sich fortbewegt. Wie komme ich da an eine einzelne heran, wie kann ich meine Blondine aus dem Gewimmel heraus abfangen, ja wie mich überhaupt bemerkbar machen, wo alle durcheinander gackern und Loreley vor lauter Tränen in den Augen und Krämpfen im Zwerchfell überhaupt nichts wahrnimmt?
Schon sind sie an mir vorbei; trotz ihrer humorigen Stimmung haben die Mädels es eilig. Sie schieben und drücken einander vorwärts; die eine verliert ’n Schuh, die andre hebt den Slipper auf und rennt damit weg, alles kreischt, Flüche und Handtaschen wirbeln durch die Luft - wo ist Loreley? Zum Teufel, ihr verdammten Schicksen, wo habt ihr meine Süße hin gescheucht? Ist sie das, da vorn an der Straße, knapp am Kantstein längs spurtend und dem Busfahrer zuwinkend, der eben losfahren will und jetzt charmanterweise die Tür noch mal aufgehen lässt? Nein, das ist sie nicht, aber wo kann sie abgeblieben sein? Die lachenden Supermarktweiber sind auseinandergestoben. In der traulichen Moabiter Dämmerung erkenne ich die Zwergin, wie sie die Darwinstraße überquert, die Dralle, wie sie auf einen Trabi zusteuert und zwei weitere, die untergehakt Richtung Süden davon spazieren, Loreley ist weg. Ein letzter höhnischer Gelächterfetzen weht zu mir herüber, dann ist Stille.
Der Abendwind bläst in das graue Pulver, das hier überall, auf den parkenden Autos und auf dem grünen Kabelverteilerkasten, gegen den ich tief enttäuscht gelehnt stehe, reichlich lagert. Ich nehme eine Prise, atme die von grauem Pulver erfüllte Luft gut durch und warte auf die Offenbarung. Aber mir fällt nur ein: Kommen und Gehen. Und: Heteronome Insemination. Keine großartige Ausbeute.
In solchen Lebenslagen gedenkt man ihrer mit doppelter Zärtlichkeit: der Stammkneipe und des Genies, das sie erfand.
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Ich kreuze die Einsteinstraße, in der Veit Prause wohnt, ein Freund aus meinem ersten Westjahr. Ich lernte ihn an der Bushaltestelle kennen, als bei der BVG gestreikt wurde und die Linie von Moabit nach Süden ausfiel. Veit und ich waren die letzten, die davon erfuhren, was bei den damaligen Minusgraden ein heroisches Versäumnis war. Statt in Dahlem landeten wir in Veits mit schweren alten Möbeln vollgestopfter Hinterhauswohnung und tranken einen Rumtopf, den mein Gastgeber im Steingutkrug auf dem Dach seines mächtigsten Schrankes vorrätig hielt.
Noch nie zuvor war mir ein alkoholisches Getränk in dieser Konzentration bekommen. Ich gewann Veit, als ich ihm erzählte, dass ich alte Sprachen hatte studieren wollen - und Architektur, was er mir erst nicht glaubte, dann hoch anrechnete und mit der Darlegung seiner Jugend in der Pfalz vergalt. Wir blieben am Ende der fünfziger Jahre, mitten in Veits Einschulung, stecken, ziemlich angeheitert. Ausgiebig schilderte mein Freund seine elektrische Eisenbahn, mit der er daheim und zu Weihnachten heute noch spielt. Morgens um acht wollte ich gehen. Aber Veit hielt mich zurück.
»Raus mit der Sprache. Wie bist du über die Mauer? Legal? Mit ’m Schlepper? Durch die Spree geschwommen?«
Und ich erzählte ihm meine Geschichte.
Es tat mir leid um Veit, dass sie nicht dramatisch war, die Geschichte meines Legalverzugs, sondern bloß bürokratisch und entsprechend trocken. Ich überlegte kurz, ob ich eine aufregende Fluchtgeschichte erfinden sollte und setzte sogar dazu an, doch dann begannen die Spatzen in Veits Hof zu palavern, und das Morgenlicht badete seine Buffets und Kommoden in weißen Wellen. Die Stimmung für ein Märchen war dahin.
»Ich hatte einen Antrag gestellt«, begann ich erneut, »und …«
»Warum?« rief Veit. Er zappelte betrunken mit den Armen. »Warum bloß?« - Nach seiner Einschätzung war das Honecker-Regime Anfang der achtziger Jahre noch reformfähig, und oppositionelle Kräfte hätten deshalb, statt in den korrupten Westen auszurücken, lieber zur Stärkung des Sozialismus …
»Lamm Gottes«, seufzte ich.
»Du stammst aus einer katholischen Familie?«
»Ja schon, aber wir waren nicht kirchlich aktiv.«
»Was sagten deine Eltern zu deinem, hick, Ausreisebeschluss?«
»Ich hatte keine Eltern mehr. Meine Mutter ist gestorben, da war ich fünf. Meinen Vater habe ich gar nicht gekannt. Aber mein Opa, der war mir mehr wert als ein ganzes Elternpaar, er war mein Ein und Alles.«
»Du wolltest werden wie er?«
»Natürlich.«
Meine Initiation in die Welt der Schrift und der Gedanken war weniger der Schuleintritt als mein zehnter Geburtstag, zu dem mir Opa seine weinrotgoldene Homer Ausgabe schenkte - sowie seine Bereitschaft, mich alles zu lehren, damit ich dieses Buch verstünde. Und er tat es, jawohl. Aber als ich die Schule Verließ, wurden gerade keine Altphilologen gebraucht und Architekten schon gar nicht. Stattdessen Rechnungsführer für die LPG’s und Ökonomen für die VEB’s. Meine Enttäuschung über dieses Nein zu meinem Lebenszweck wütete wie ein Brand in meinem Ego. Ich war nicht zum Rebellen geboren, aber erst recht nicht zum Buchführer. Und so pfiff ich erstmal auf jegliche Ausbildung. Und vor allem auf die Nationale Volksarmee.
»Oho«, röhrte Veit, »das war nicht gern gesehen, was?«
»Es bedeutete, dass ich praktisch mit einem Bein im Knast steckte.«
»Noch ’n Schluck?«
Es bedeutete,