Vicky Victory. Barbara Sichtermann
»Ich wollt dich zu Bella mitnehmen. Wenn Malte da ist, zocken wir.«
Er zögert. Dann legt er sich die Hand auf die Brust und zieht die Mundwinkel weit runter:
»Du siehst ja selbst, ich muss ins Bett. Janett lässt da nicht mit sich spaßen.«
Und er bittet mich, zwei Briefe für ihn in den Kasten zu werfen.
»Sonst klingelt mich die Sau wieder aus’m Bett«, womit er das Finanzamt meint, genauer eine Sachbearbeiterin mit Namen Schuller, von der er annimmt, sie komme aus dem Osten.
»Reines Sächsisch«, vermerkt er kennerisch. »Warum bloß stellt ein Westberliner Finanzamt Leute ein, die keine Ahnung haben?«.
Als ich mich zum Gehen wende, fragt er mich nach Sonja. dass er meine Freundin bei ihrem Vornamen nennt, berührt mich unangenehm, denn ich kann mich nicht revanchieren. Den Namen Janett brächte ich nie über die Lippen, um keinen Preis. Das schiene mir zu vertraulich bei so einer blöden Person. Sie beim Namen nennen hieße, ihre Tonlage akzeptieren. Ich sollte Veit mal stecken, dass sie nichts für ihn ist. Aber da er krank ist und ich ihn schonen will, sage ich nicht:
»Wie hältst du bloß die Hippe aus?«, sondern: »Sonja geht’s gut.«
»Wann heiratet ihr?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht nächstes Jahr.«
»Warum so spät? Hat sie ’n andern?« Der Gedanke ist mir unsympathisch. Ich nehme das gerührt zur Kenntnis, schlussfolgernd, dass meine Liebe zu Sonja lebt und loht wie eh und je, den Reizen einer gewissen Kassiererin zum Trotz.
»Ich glaube nicht, dass sie ’n andern hat.«
»Hast du sie gefragt?«
»Warum soll ich sie auf Ideen bringen?«
»Auch wieder wahr. - So, und jetzt träufeln. Zehn Tropfen. Schön lange im Mund lassen.«
Das Zeug schmeckt wie schales Bier. Veit zuliebe behalte ich es drin, ziehe stumm ab und spucke die Dosis diskret neben die Fußmatte. Denn ich bin gottlob nicht anfällig.
☆
Ein stilles Wunder: die Sterne. Sie machen mich immer verrückt. Der Mensch ist ein vorkopernikanisches Geschöpf und nicht dazu begabt, astronomische Maße und Gewichte in seiner Vorstellungskraft unterzubringen. Vermutlich sind Computer diejenigen unter den dienstbaren Geistern des technischen Zeitalters, die eine solche Leistung erbringen können. Für die Simulation des Flugs ins All jedenfalls taugen sie unbedingt. Hauptsache, ich muss es nicht machen. So, und nun rein mit euch in die gelbe Box, zuerst du, Liebesbrief an Frau Schuller, Wedding, und dann du, Werbeantwort an die Firma Rotermund, Steglitz, Antik-Möbel, Ankauf und Restauration.
Ich sah mal einen Meteor über den Nachthimmel ziehen. Vielleicht war es auch ein Sputnik. Ich sage mal: ein Meteor. Denn das Ding wurde größer in der Nähe des Horizontes, den ich es nur nicht mehr erreichen sah, weil meine Freunde, die Häuser, sich davor drängten, und wie üblich gleich wieder in Massen. Ich nannte das Gestirn »Igor Eins« und suchte eine Zeit lang verstohlen in Marzahn-Bürknersfelde nach seinen Bruchstücken im Erdenschoß. Offen gestanden suche ich noch immer. Ich spähe die Rinnsteine rauf und runter und schnüffele in der Luft nach schwefeligen Anteilen als Hinweis auf das weitgereiste Steinstück. Von wegen: suchet, so werdet ihr finden. Finden tut man schon, alles mögliche, aber es ist nie das, was man gesucht hat. Schließlich nimmt man vorlieb. In Marzahn fand ich eine Lesebrille ohne Bügel und zwei ungarische Kleinmünzen, und heute Abend, mitten im eindunkelnden Moabit, ist es ein Gutschein für den Friedrichstadt-Palast.
☆
Hier stehe ich mit dem Gutschein in den Fingern, und eh ich mich’s versehe, ist es mein Dasein, das ich halte, mit beiden Händen, wie ein Stück Papier. Es ist am Dasein des Igor Marenge, der im Licht einer Moabiter Straßenlaterne einen Gutschein entziffert, nichts Besonderes, außer dass es meine Existenz ist, die sich hier unter blassen Sternen ihrer Anwartschaft auf Größeres bewusst wird. Sie wünscht sich die glückliche Stunde, Kairos, Erfüllung im Morgengrauen, das Mädchen vom Minipreis und - ja, ein Pud grauen Pulvers. Aber sie kriegt nur einen Gutschein für den Friedrichstadt-Palast, ein Unter-der-Laterne-Stehen, ein angelegentliches Erblicken von Sternschnuppen und ein Bier bei Bella. Sie gibt sich damit nicht zufrieden, sie verachtet solche Kinkerlitzchen, sie will die spannenden Verwicklungen und die unmöglichen Komplikationen, wenn schon nicht als Hauptdarsteller, dann doch als akkreditierter Beobachter.
Ach, hätte ich das graue Pulver auf der Hand, was für Einsichten könnt ich daraus kochen! Ja, lach, du nur, du frischgebackener Opel-Fahrer aus Finsterwalde, du bist von derselben Sucht nach Bedeutung und großer Form geplagt wie ich, und wenn du es abstreitest, dann nur, weil du betrunken bist und also deine Wünsche für erfüllt hältst.
Da beginnt die Turmstraße. Da blinkt die Stammkneipe.
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Das »Bella Ciao« ist ein altes Wirtshaus mit getäfelten Wänden und einer unter dunkelbrauner Ölfarbe schwitzenden Decke, aus deren Mitte ein gewaltiger Kronleuchter seine Arme segnend über die Gemeinde breitet. Die Glühbirnen in dieser Lampe gehören zu den schwächsten, vielleicht auch sind es die senffarbenen Pergament-Schirmchen, die jede Helligkeit zurückhalten. Bei »Bella« sind immer alle Lampen an, und trotzdem ist es schummrig. Das sichert dem Ort die Ausstrahlung familiärer Wohnlichkeit, ohne ihm das obligatorische Halbdunkel einer Gaststätte älteren Typs zu missgönnen.
Bei allen Stammgästen schlicht als »Bella« bekannt, wird diese Kneipe nicht, wie man spontan vermutet, von einer Wirtin gleichen Namens geführt, sondern von einem Herrn, genauer gesagt einem Amerikaner Anfang 50, der einst an der FU Theologie studierte und sich dann eines besseren besann: Isaac. Wir alle, die wir die Nächte bei »Bella« beschließen, sind seine Kinder, und er tut für uns mehr, als dass er nur anschreibt. Ich selbst bin - auf dem Papier - fünf Jahre bei ihm Kellner gewesen, ohne dass ich je einen Zapfhahn in der Faust gehabt hätte. Aber ich beziehe legal Arbeitslosengeld und muss - denn für Übersetzer gibt es sowieso null Stellen - dann und wann begründen, warum ich einen Job im Hotel- und Gaststättengewerbe nicht antreten kann.
Ach, Isaac, dein grauer Bart und deine gelben Ziegenaugen sind es: eigentlich, warum ich immer wiederkomme, gar nicht so sehr das Bier. Obwohl es ausgezeichnet ist. Isaac zapft es selbst und lächelt, wenn ein Gast ungeduldig wird, mit seinem linken Mundwinkel in ein Grübchen hinein. »Siebeneinhalb Minuten braucht ein gutgezapftes Pils«, sagt er mit pfleglich bewahrten Resten eines US-Akzentes. Heute herrscht Hochbetrieb. Johanna, die Schankhilfe, ist rot im Gesicht und stimmungsmäßig kurz vor’m Umkippen ins Kurzangebundene. Aber meine Freunde sind alle da und ziemlich munter. Juni hat sich Schorschi Köhler geschnappt, einen bärtigen Typen, der eigentlich nicht zu unserem Stammtisch gehört, aber gern mal mitmischt. Gerade lernt Schorschi, dass Berlin die Stadt der Katakomben ist, ein märkisches Rom sozusagen, denn die Stasi hat Geheimgänge unter der Mauer durchgebuddelt, mannshohe Tunnel mit verputzten Wänden, um ihre Agenten hindurchzuschleusen und vor allem dort die Preziosen vor dem Klassenfeind in Sicherheit zu bringen.
»Was für Preziosen?« fragt Schorschi und drückt sich die Schaumbläschen in seinen Bart.
»Gemälde!« intoniert Juni mit Gusto.
»Echter Barock, aus enteigneten Landsitzen abgeschleppt, tiefgelagert und dann von Zeit zu Zeit zur Aufbesserung der Parteikasse in den internationalen Kunsthandel geschmuggelt. Was glaubt ihr: Haben die ’89 Ruhe gehabt, alle Wertstücke zu bergen? Die einzigen, die Genaues wussten, sitzen jetzt im Knast! Lageplan und Spitzhacke hab ick schon besorgt. Was noch fehlt, is’n Bergmannshelm mit ’ner Latüchte vorne dran. Wer von euch kann so was auftreiben? - Hallo Igor, Leute, einen Stuhl für Igor, komm, rutsch zwischen.« - Und er winkt kollegial mit seiner verbundenen Hand. Als ich Platz nehme, knurrt er kaum hörbar:
»Kein Wort über Niederschönhausen.«
Juni hat seine Kumpels dabei, Schwager Mecki, auf dessen Namen die Kfz-Werkstatt