Vicky Victory. Barbara Sichtermann

Vicky Victory - Barbara Sichtermann


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ist Bonn!«

      Das haben die andern erwartet, und sie sind nicht einverstanden. Man schüttelt den Kopf (Tom), rauft sich das Brusthaar (Veit) und bläst die Backen auf (Futu). Schließ­lich sagt Tom:

      »Warum nicht gleich der Weltsicherheitsrat!«

      »Eins muss klar sein«, schnarrt die Niemann, »die Verantwortung liegt beim Innenministerium, da beißt die Maus …«

      »Wenn schon, denn schon«, röchelt Veit.

      »Das kannst du doch nicht wegdiskutieren«, sagt Tom, »die Schmierereien von Weißensee sind der weit größere Skandal! Ich meine: das spricht Bände. Vierzig Jahre ruht dieser Friedhof in Würde, dann kommt die Wiedervereini­gung, und die antisemitischen Parolen prasseln nur so auf die historischen Grabmäler …«

      »Immerhin hat die jüdische Gemeinde Mittel, sich zu wehren«, wendet Futu ein. »Aber wer spricht für die Flüchtlinge? Niemand. Nur ein paar Grüne und die GEW.«

      »Was war denn los in Hoyerswerda?« frage ich. Es ist mir etwas peinlich, zuzugeben, dass ich nicht informiert bin. Deshalb füge ich schnell hinzu, ich hätte verletzt im Bett gelegen. Ein Sportunfall.

      »In Hoyerswerda haben Rechtsradikale das Asylanten­heim in Brand gesteckt«, erläutert Veit, während Janett geschmerzt an die Decke starrt. »Ein Kind schwebt in Le­bensgefahr.« Und gestern haben sie hier am Ostkreuz ei­nen Farbigen aus der U-Bahn gestoßen. Der Mann hat das Becken gebrochen.«

      »In der DDR war so was undenkbar«, erklärt Janett.

      Pause. Man wartet auf meine Zustimmung. Aber ich kann dieser Person nicht recht geben, und wenn ich be­streiten müsste, dass sich die Erde dreht. Für den Anfang stelle ich klar:

      »Es gab ja keine Ausländer. Wir - …«

      »Stimmt nicht«, schneidet Janett ein. »Ich denke, du hast da gelebt? Dann hättest du doch mal ’n Vietnamesen sehen müssen. Oder einen Afrikaner. Oder einen Kubaner. Oder einen Russen.«

      »Die Russen waren verhasst«, entgegne ich. »Die ande­ren nicht beliebt. Wie man mit denen umgesprungen ist, das kam natürlich nicht in die Zeitung.«

      »Ach Igor«, stöhnt Veit, »Du und deine subjektive Perspektive.«

      »Vielleicht war es besser so«, brummt Tom. »Manche Idioten überfallen Wehrlose, bloß damit sie in die Zeitung kommen.«

      »Zur Sache«, mahnt Veit. Er hält ein Blatt Papier in die Höhe: »Ich habe hier unsere Optionen aufgelistet.«

      Jetzt, wo sich die ersten unerfreulichen Folgen der Wie­dervereinigung zeigen, hält Veit seine Stunde für gekom­men. Jede neue Arbeitslosenstatistik, jeder frischgebacke­ne Skinhead aus Mecklenburg oder Sachsen-Anhalt, jede Immobilien-Schieberei zugunsten bayrischer Mittelständ­ler oder schwäbischer Bankiers ist Wasser auf seine Mühle. Dieser feinfühlige Bücherwurm kann vor Empörung ko­chen, wenn es um seine Schützlinge geht: die armen Zonis, Opfer zweier deutscher Diktaturen und der geballten Brutalität westlicher Marktwirtschaft. Er ist rot vor Wut und Fieber und hustet in sein Federbett.

      Ich kann mich keineswegs so erregen wie er, was daran liegt, dass ich viel weniger von der Welt erwarte. Veit ist verwundbar, denn er glaubt an das Gute. Wird sein Ver­trauen aber enttäuscht, so entlädt sich sein Frust in schau­rigen Verwünschungen, und die Menschheit, ob in Berlin oder Hoyerswerda, sinkt in seiner Achtung klaftertief, tie­fer als je in der meinen.

      Ich weiß, ich bin zu milde, ich sollte über Ausschreitun­gen wie die, von denen Veit jetzt spricht, in Entrüstung aufstehen, aber in meiner Brust regt sich nichts, und ich würde mich am liebsten davonstehlen. Doch das emp­fiehlt sich nicht, wenn Veit geladen ist, man riskiert eine Gardinenpredigt. Nachdem er seine »Optionen« verlesen und alle Anschläge und Übergriffe der letzten Wochen auf­gezählt hat, wendet er sich an mich:

      »Wie war das, Igor, gab es in der DDR eine Erziehung zur Völkerverständigung, oder gab es sie nicht?«

      »Es gab eine Erziehung zur Folgsamkeit. Was richtig war, stand vorher fest. Man durfte es nicht selbst herausfinden.«

      »War vielleicht besser so«, bemerkt Tom. »Wenn jeder selbst bestimmen wollte, was richtig ist …«

      »Es gibt eine Sehnsucht«, beharre ich, »über Richtig und Falsch nachzudenken, ohne dass das Ergebnis fest­steht: Diese jungen Skinheads probieren aus, ob Rechts­sein für sie richtig ist …«

      »Jesus«, schnappt die Niemann, »der verteidigt diese Mörder!«

      »Keineswegs. Ich …«

      »Eine Resolution gegen Ausländerfeindlichkeit«, un­terbricht Tom unduldsam, »die den Antisemitismus nicht einbegreift und zwar ausdrücklich …«

      »Alle meine Entchen«, quiekt plötzlich Futu mit Kopf­stimme, »Und was ist mit den Schwulen?«

      »Der Adressat ist Bonn.« Janett haut mit Veits versil­bertem Brieföffner auf Veits empfindlichen Monitor. Der Kranke zerbeißt krachend ein Stück Blockmalz und fuch­telt mit den Armen:

      »Igor, ich versteh dich nicht. Was soll’n wir deiner Mei­nung nach tun? Die Skinheads ruhig ausprobieren lassen, wie es sich anfühlt, rechtsextrem und gefährlich zu sein?«

      »Jahahahu«, lacht Tom. »Was sollen wir tun?«

      Ich bin dran. Shit. Habe über diese Frage noch nicht gründlich nachgedacht. Und jetzt ist dafür keine Zeit. Also sag ich aufs Geratewohl:

      »Da hilft nur eins: Zurückschlagen.«

      »???«

      »Geht rüber nach Ostkreuz, dahin, wo die Typen sich treffen und verpasst ihnen einen Denkzettel.«

      Das war natürlich die falsche Idee. Außer Futu, der laut in die Hände klatscht, sind alle dagegen. Aber ich meine es. Wer zu feige ist, die eigene Rübe hinzuhalten, soll nicht an der Polizei rummeckern. Doch ich komme nicht dazu, meinen Standpunkt klarzumachen. Janett guckt an die Decke, was so viel heißt wie: Wann räumt dieser unquali­fizierte Marenge endlich das Feld?, und Veit reagiert auf den Wink. Er krabbelt aus dem Bett und legt mir die Hand auf die Schulter.

      »Komm mit«, sagt er, »ich geb dir die Tropfen.« Und er führt mich hinaus in die Küche. Schnäuzt sich dabei und niest dann.

      »Weißt du, Igor, ich gönne der Regierung den Schlamas­sel, wenn die Jungs in Hoyerswerda nicht von selbst auf die Idee gekommen wären, hätte man glatt nachhelfen müssen.«

      Veit ist gegen die Wiedervereinigung, er war es von Anfang an. Heute, ein knappes Jahr nach dem Vollzug der Einheit, jammern alle über die Folgen, aber die Sache selbst mag kaum einer ungeschehen machen, auch nicht in Worten, als Wunsch. Veit hat diesen Mut. Er findet, die DDR hätte um ihren Fortbestand kämpfen müssen, anstatt bedin­gungslos zu kapitulieren. Ich verstehe seine Gründe. Er kommt aus dem Pfälzischen, hat das Land, in dem er erzo­gen wurde, nie recht gemocht und sich eingebildet, die kleine mundtote DDR sei tieferer Sympathien würdig. Unsere Debatten über diesen Irrtum haben des öfteren den Tag versinken und wieder aufgrauen sehen, ohne dass er seinen Wahn und ich meine subjektive Perspektive, wie er das nennt, aufgegeben hätte.

      »Die Leute drüben waren vor ’89 nicht besser, Alter«, murmele ich rechthaberisch. »Das glaub man nicht. Die hatten bloß Schiss.«

      Veit aber ist überzeugt von den Charakter verderbenden Auswirkungen des DM-Imperialismus, schwenkt dann über auf die Arbeitslosenversicherung und endet bei sei­nem Kleinkrieg mit dem Weddinger Finanzamt, das von ihm verlangt, er möge seine Tipp-Honorare versteuern, obwohl er das doch nebenbei und illegal macht, um die Stütze nicht zu verlieren. Sein eigener Charakter, bekennt er zwischen zwei Hustenattacken, sei im Begriff, durch Mangel an D-Mark korrumpiert zu werden.

      »Scheißsystem«, sagt er durch die Nase. »Es macht uns alle zu Mammon-Jüngern, wir vergeuden unsere besten Kräfte auf der Jagd nach dem Erfolg, und nichts bleibt übrig für die Menschlichkeit.«

      »Ich jage nicht nach Erfolg«, versetze ich,


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