Die Poesie des Biers. Jürgen Roth
»die Welt – und was für eine – in einer Nußschale.« – »Im Bürgerhof operierte die Kommandoebene eines Lebensverschönerungsvereines […]. Im Bürgerhof kam ich mir vor wie in einem Paralleluniversum: unendlich nah an der albernen Sinnestäuschung, die von der Menschheit als Leben hingenommen wird, und doch un(an)greifbar und Welten davon entfernt.«
Nicht greifbar und mitten im Leben – jedoch in einem Leben, das mit dem gewöhnlichen, realistisch abschilderbaren ›Leben‹ nichts gemein hat, mit dem Leben der Honoratioren und Dicketuer und »Kaufleute und Lokalpolitiker«, gegen deren herrschende Gegenwart eine Idee des Lebens steht, von deren Finalität Michael Rudolf im Rückblick auf den Abriß des Bürgerhofes etwas preisgibt, und zwar in einer kaum verschlüsselten absurden Figur: »Dem Wirt half dieser bittere Gegenschlag des Daseins wenigstens, den Kampf gegen seinen Selbsterhaltungstrieb zu gewinnen.«
Ich hatte das große Glück, Michael Rudolf 1994 kennenzulernen. Wir hatten bis dahin ein paarmal miteinander korrespondiert und telephoniert, und nun kauerten wir in der Frankfurter Messekoje seines Verlages Weisser Stein, mit dem er – unter beträchtlichem finanziellen Verlust – Autoren wie Gerhard Henschel, Susanne Fischer, Fritz Tietz und Eugen Egner die Tür zur großen Verlagswelt aufstieß.
Wir tranken irgendeinen hessischen Bierrotz und schienen uns zu verstehen. Zwei Jahre später kampierten wir dann in meiner Wohnung und schrieben Bier! Das Lexikon. Michael, der in der Titanic (4/1994) mit einer Parodie auf die Verkostungsliteratur die Blaupause für das schließlich juristisch von allerlei Seiten schwer bombardierte Buch geliefert hatte, war schon damals gesundheitlich angeschlagen – er machte vor allem die höllischen acht Jahre als Brauingenieur und Schichtleiter in der Greizer Schloßbrauerei für seine oftmals marode Verfassung verantwortlich –; aber in den zwei Wochen, in denen wir wie bekloppt zwischen Batterien von Bierflaschen aus aller Welt herumstaksten und nebenher unseren Unsinn in die Tasten klopften, war er nicht selten fast entfesselt ausgelassen. »Mit dir ist gut arbeiten«, sagte er plötzlich eines Abends strahlend, und ich muß gestehen, daß nahezu alles, was von dem Buch bleibt, von Michael stammt – natürlich auch mein Lieblingseintrag: »Beck’s Spitzen-Pilsener – 4,7% Brauerei Beck & Co. Bremen. Eigenartig: schmeckt immer so, wie man sich gerade fühlt, also meistens schlecht.«
Annäherungsweise begriffen habe ich erst Jahre danach, als er schlagartig keinen Schluck mehr vertrug und die peinigenden Schmerzen und multiplen depressiven Beschwerden den manischen Arbeiter zur wiederholten Krankschreibung zwangen, daß in dieser beiläufigen Biernotiz sein ganzes Lebensgefühl ausgedrückt war. Er schrieb trotzdem hartnäckig weiter und ließ ein bewunderungswürdiges Buch auf das nächste folgen: seinen wahrlich »wunderbaren Pilzführer« Hexenei und Krötenstuhl, den Roman Morgenbillich – die ostdeutsche Antwort auf den legendären Arnold Hau von Bernstein, Gernhardt und Waechter –, den in der Öffentlichkeit völlig untergegangenen, grandios albernen Kolportagepolitporno Chefarzt Dr. Fischer im Wechselbad der Gefühle oder die kleine monographische Liebeserklärung an die Artrockband Yes, Round About Jutesack. Michael war ein Genie.
Ich würde gerne von vielem erzählen; es ist hier kein Platz. Nie ist Platz. Ich würde gerne von unseren Forschungsreisen ins Böhmische erzählen, auf denen uns das montypythoneske Metal-Trio Primus erquickte, bis wir vor Vergnügen fast ins Auto kotzten, oder von unseren in jedem Frühjahr anberaumten Biertouren, deren erste in einer komatösen Pkw-Fahrt kulminierte, bei der uns der Allmächtige beigestanden haben dürfte und die wir mit einem Rockkassettenkonzert in meinem Wagen krönten, das die Bewohner des von Michael mehrfach porträtierten Dörfleins Aufseß nie vergessen werden.
Dieser duale Radau- und Klamaukkreis erweiterte sich auf Betreiben Michaels, der den normierten Gesellschaftsmenschen als Pest empfand und die freundschaftliche Geselligkeit über alles schätzte. Bald war ein stabiles Vergnügungsteam gebildet, das standhaft dem »Qualitätspilsener« (Michael) zusprach und es sich ein paar Tage pro Jahr sackrisch gutgehen ließ, inklusive der Kultivierung extraterrestrischer Katerphänomene.
Ich würde gerne erzählen von einem Abend in Aufseß, an dem wir uns ungeplant und stundenlang ausnahmslos in den allerdümmsten Phrasen unterhielten und dabei lachten, wie vielleicht noch nie gelacht worden war. Oder erzählen würde ich gerne von einem wahnsinnigen Verkostungsnachmittag bei Tucher-Bräu in Fürth, an dem uns der damalige Boß Franz Inselkammer nicht nur sein gesamtes Monstersortiment vortrank, sondern der Welt auch die Sentenz »Biertrinken ist erlebbare Realität« schenkte, die Michael in der Folge wie eine Art Zauberwort immer wieder aufgriff.
»Erlebbare Realität«: Das ist ein Schlüssel für Michaels Werk, im spöttischen und im emphatischen Sinn. An der Realität zu verzweifeln, zugleich verzweifelt zu versuchen, sie zu gewinnen, für sich und gegen die Wirklichkeitsmodellierungen derer, die einem immerzu nachstellen, indem sie einem über ihre Agenturen einhämmern, was man als ›Welt‹ zu akzeptieren habe – von diesen bisweilen grausamen Zwiespalterfahrungen erzählen Michaels melodiöse, grantige, bübisch übermütige, sorgsam krumme Geschichten und Satiren, und diesen Riß zwischen gelungener Welterfahrung, die Michael am Schreibtisch, unter Freunden, in der Familie, in der Rockmusik und in der idyllischen Natur ab und an machen konnte, sowie den unauslotbaren, tiefen Daseinszumutungen hat er, der von seinen Qualen hie und da in Andeutungen sprach, nicht mehr ausgehalten, als er am 2. Februar dieses Jahres um die Mittagszeit das Haus verließ, nur mit einem Rucksack, in dem ein Strick lag.
»Auch nicht angezweifelt werden darf die Dignität einer funkelnd hellgrünen Zitronenfalterraupe beim Schlürfen der Bierpfützen unseres Tisches. Diese Kreatur hatten wir schon in Heckenhof angetroffen, wo sie ihrer Daseinsform weitere Glücksmomente zufügte.« Das steht im letzten Kapitel des Pilsener Urknalls, in der Eloge »No Sleep ’til Nankendorf«. Zugefügte Glücksmomente – ich bin mir sicher, Michael hat dieses Oxymoron, das durch eine kleine Verschiebung, eine winzige Abweichung vom konventionellen Sprachgebrauch (Glücksmomente, die sich fügen o. ä.) entsteht, bewußt gewählt.
Ich habe diese unscheinbare, kunstvoll verhüllte Formulierung erst in diesen Tagen als das wahrgenommen, was sie ist: als bedeutendes Beispiel oder Moment der Poetologie, auf der Michaels Texte aufruhen und die seinen Arbeiten jenen ganz und gar eigentümlichen, barocken, enigmatischen und zugleich luftigen Sound verleiht, jenes spielerische Flair, in dem sich das Dunkle, Bedrohliche, schwer Sagbare in der Posse, im witzigen Kniff, in der Wortverdrehung, im artistischen Jux, in der Pointe vermummt. Wovon man nicht sprechen kann, damit treibe man Schabernack.
Seltener griff Michael zu den Mitteln der uneingeschränkt und notgedrungen brachialen Polemik – zuletzt in seinem Streifzug durch die sprachlichen und allgemeingeistigen Verwüstungen, die der nicht endende Kapitalismus anrichtet (Atmo. Bingo. Credo – Das ABC der Kultdeutschen, Berlin 2007), früher in kulturkritischen Interventionen, die der Band Trost und Unrat (Mainz 2001) versammelt. Das Cover ziert ein Bild von Ernst Kahl, auf dem ein Mann mittleren Alters am Galgen baumelt und von einem Kind als Schaukel benutzt wird, und die »Abrechnungen« und »Grobheiten« berichten von »mottentief im Haarkleid der Mutter Erde verborgen liegen[den] ostdeutsche[n] Kleinstädte[n]«, sie verhöhnen die Religion, das Fernsehen und die Zeitschrift Rolling Stone, für die Michael im WM-Sommer 2006 eine anbetungswürdige Abrechnung mit dem Fußball schrieb, sowie »diese überflüssige Drecksblase« der Musikjournalisten überhaupt, und sie vernichten den Deutschen als Gattungswesen und das von ihm verunstaltete Land, für welche Michael das Arno Schmidtsche Verdikt von der »Faß=Zieh=Nation« verwandte. Dem Buch vorangestellt hatte er ein Motto von Emile Cioran: »Habe ich die Fresse von einem, der hienieden irgendeine Aufgabe hat?«
Auf der vorletzten Seite des Pilsener Urknalls ist ein Photo zu sehen. Drei schwarzgekleidete Gestalten, von hinten aufgenommen (rechts Michael, in der Mitte Ina, links ich), schlendern einen sacht ansteigenden Feldweg in der Fränkischen Schweiz hinauf; am blitzblanken Horizont lagert eine schöne, buschig ausfransende Hecke; die Bildlegende, die Michael daruntergesetzt hat, lautet: »Die Himmelsrichtung.«
Er hat sich in der Fränkischen Schweiz wohlgefühlt; vielleicht war er in diesen versunkenen Tagen auch stundenweise glücklich. Denn geschrieben hat er über unsere jährlichen Ausflüge ins Reich der Weltruhe: »Wiese, Wald und Weide wechseln wie nicht gescheit. Die Nachmittagssonne