Die Poesie des Biers. Jürgen Roth
Dame, an den Tisch. An den Tisch, an den dürfe man sich doch hersetzen, fragte der Mann, ein Kerl, der sich rasch als tanzwütige Granate und fideler Gemütskracher erwies, der zunächst mal eine Haxn einfuhr und dann seine heilig-froh als »schönste Frau der Welt« belobigte Gattin zwischen die immer fetziger herumfegenden Musiker schob und über den Tanzboden schleuderte, wo die beiden ein »La Paloma« hinschwoften, daß dem lieben Gott die Sinne geschwunden wären, während am Nebentisch Kotelettenpaul und dessen Anhang lächelten.
Lebensprall tobte das Appendorfer Stüberl Stunde um Stunde doller und draller, die fesch frisierten Hasardeure des Liedguts ließen Strophen und Refrains, Harmonien und Hooklines stilvoll durcheinanderrauschen und -randalieren, als sei es ihnen gegeben, die Musik neu zu erfinden, und mitten in dieser klingenden Welt der Freude für und für erklommen die »Bergvagabunden« den Gipfel der Begeisterung, die nichts sucht außerhalb ihrer selbst. Im Getöse und Gestampfe, im Gesange und Geschwanke stießen sie aufeinander, die Menschen, und priesen, zur Ehr’ ihrer selbst und der Geselligkeit, die roten Rosen, die roten Lippen, den roten Wein, und da unser Museumsdirektor ein zweites Mal des Dorfhallodris bewunderte, im Gesicht greulich vernarbte Spitzenfrau um die Hüften wirbelte, fand auch der Bürgermeister einen Gefallen gehörig daran, bloß noch den Damen zu gefallen.
Was immer im Dämmer des Bewußtseins versank – am folgenden Morgen beteuerte der Bürgermeister, er habe »nicht nur« seine »ausgeprägten logischen Denkstrukturen beieinander«, nein, er werde obendrein dem von ihm regierten und dirigierten Mittelzentrum einen Innovationskreis verordnen, der durch eine ausgetüftelte Stärken-/Schwächenanalyse die Grundlagen der künftigen Stadtpolitik dahingehend neu bestimme, daß im Hinblick auf konkrete Zielvorgaben das Handlungsfeld der Kneipenpolitik in einem permanenten Innovationsprozeß moderierend, koordinierend und kontrollierend dergestalt neu und innovativ gestaltet werde, daß – gemäß dem Motto »Hinschauen und lernen« – »endlich so ein Laden herkommt«.
Der Taugenichts und der Museumsdirektor nickten, recht grundlegend einverstanden.
Arbeiterfrühling
Im Osten wird es später warm. Wien friert Ende März noch immer. »Su koit woas nu nia«, klagt eine ältere Dame am Stephansplatz. In der geheizten Stube der U-Bahnlinie 4 zählen andere Dinge und Werte. Eine Mittzwanzigerin, die von einem politischen Treffen nach Hause fährt, gibt ihrem Begleiter fast dialektfrei und in voller dialektischer Fahrt zu bedenken: »Weißt du, was mir auf die Nerven geht? Dieser undifferenzierte Antimaterialismus!«
Nimmt man die U 1 Richtung Kagran, erreicht man Teile jener monomorphen Peripherien großer Städte, in denen die Straßen selten gekehrt, die Häuser nicht mehr verputzt und die Menschen nicht mehr der Mode teilhaftig werden. Dort herrscht der Funktionalismus des Lebens, und wenn man auch nostalgisch an eine Epoche denkt, in der das Rote Wien mehr versprach als nur noch mehr höhere, bürgerliche, als nur noch feinere und darob nicht sinnvollere Kultur, die stets eine Herrschaftsvernebelungskultur war, so sieht man sich doch enttäuscht, allerdings voraussehbar enttäuscht.
Die Enttäuschung ist der Anfang aller Aufklärung, und so darf man die Sentimentalität fahrenlassen und an einer der silbern verkleideten U-Bahnstationen aus den achtziger Jahren, am Haltepunkt Alte Donau, den Zug verlassen. Verlassen vom Guten, Wahren und Schönen, führt einen die Arbeiterstrandbadstraße zum aus Gründen des Hochwasserschutzes abgetrennten Arm der grün und smaragdblau funkelnden Donau. Rund um das stehende Gewässer stehen ein paar Ausflugslokale für karg Begüterte (Schnitzel um sechs Euro). Grüne Tretbote ruhen am Gestade, der seeähnliche Fluß öffnet sich weit und schmiegt sich lässig um baumverzierte Halbkleininseln.
Unterhalb der Arbeiterstrandbadstraße hat ein kleines Lokal, eher eine Art Imbiß, schon geöffnet. Das Buffet Alte Donau wird von der Familie Schneider betrieben. An den Außenwänden des Verschlags sind Holzschilder angebracht, die zur »Selbstbedienung« auffordern.
Die ersten Tische, Bänke und Stühle sind rausgebracht worden. Vor dem Eingang sitzt Frau Schneider mit den blauen Fingernägeln und raucht Memphis-Zigaretten, die blauen. Herr Schneider in der Jogginghose sitzt neben ihr und raucht Marlboro. Der Sohn setzt sich dazu, raucht nicht und liest das Fachblatt Fisch & Fang. Nebenan gruppieren sich um einen Holzstehtisch drei Frührentner, nippen an ihren Achtele und reden Vollgültiges.
Meisen zirpen, ein Star pfeift, Mäusebussarde gellen. Die Weiden und Birken wiegen sich im kühlen Wind. Herr Schneider rückt unseren Tisch alle halbe Stunde in die wandernde Sonne, stellt einen frischen Aschenbecher ab und sagt: »Bitte sehr.«
Schneiders Hund, ein französischer, ergrauter Vorstellhund, rennt im Schweinsgalopp auf und ab, das Maul auf- und zuschnappend, als lache er sich das Herz aus dem gewärmten Leib. Ein Kind versucht, ein blaues Tretboot mit Rutsche zu entern, während sich ein Ehepaar an einer überdimensionalen Cola-Dose, einem weiteren Stehtisch, zum Wieselburger Bier einfindet und sich zufrieden nicht unterhält. Und raucht.
Das österreichische Fernsehen, der ORF, sendet ein paarmal pro Tag zehn Minuten über den »Krieg gegen Saddam«, in seinen Nachrichten Zeit im Bild. Es gebe nicht mehr zu sagen, sagt der Moderator, einige Bilder von den Alliierten flimmern über den Schirm, dann kommt Ally McBeal. Morgens greift man zum Splitscreen. Rechts streift die Kamera über österreichische Landschaftstraumpanoramen, links, etwas kleiner, glühen grüne Kugeln über dem kommentarlos eingespielten CNN-Bagdadhimmel. Drunter dudelt Kaminmusik.
Der Vorzug der Neutralität und des kleinen Landes: Es ist praktisch fernsehfrei. Keine Endlosschleifen, kein televisionär sich vermehrendes Nichts. Kaum ein Österreicher hat Kabel. Der Österreicher hat ORF 1 und ORF 2.
Zwei Schweizer KFOR-Soldaten in voller Montur tauchen vor dem Buffet Alte Donau auf. Warum, weiß niemand. »I dacht’, der Krieag is’ woanders«, sagt Sohn Schneider und bringt den beiden, die nicht lesen können oder nicht wissen, was Selbstbedienung ist, einen Kaffee und eine aufgespritzte Limo.
Wir bestellen eine Gemüsesuppe und Bier. Vorzüglich. Frau Schneider lacht nicht einmal. Sie ist nur da. Ohne etwas zu wollen.
Ein Krieg findet statt. Anderswo, irgendwo, nirgendwo. Zu »20 Schilling« darf im alten Buffetnebenkabuff Tischtennis gespielt werden.
Der Russe
Zwischen Murmansk und Moskau hat ein Russe einen Schnellzug entführt und »zwei Flaschen Bier als Lösegeld gefordert« (taz, 3. November 1999), wurde jedoch nahe Sankt Petersburg von der Polizei überwältigt und arretiert.
Vom Russ’
Taktische Ikonographie
Es wird erzählt, daß der Russ’ manchmal sehr ergrimmen konnt’. Als er mit seinem Fußvolke und seinen Rössern zum Beispiel einmal ein Wegkreuz, welches den Gottessohn in sterbender Verzehrung zeigte, zu passieren sich anschickte, hielt er bei diesem Anblick an und inne. Augenblicklich überkamen ihn ein Zorn und ein inneres Grollen, nämlich darüber, daß der Franke es wagte, ein Leid so schamlos an der Straße auszustellen – ein Leid, das doch er, der Russ’, dem Franken wollt’ angedeihen lassen.
Unschlüssig und verwirrt verweilte der Russ’ in seiner ganzen herrlichen mannschaftlichen Geschlossenheit vor dem hölzernen Gebilde, während keine acht Morgen weiter der Franke einen Becher hob und in den Wirtssaal rief: »Leut’, habt acht, des hamma für den Russ’ gemacht!«
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Virtuelle Vendetta
Weil aber der Russ’, der von alters her ein Meister in Ikonographie, Schweineschlachtung und Menschenbehandlung war, jene Niederlage von Drügendorf nicht ungesühnt lassen wollte, marschierte er gleich auf Drosendorf zu. Dort war indes niemand.
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Die Macht der Gedanken
Ein ehrlicher Franke trieb seine Kühe vom Anger auf die Weide hinaus, sprach seinen Viechern warme Worte zu und legte sich ins Maigras. Die melonengelbe