Seelenzerrung. Winfried Thamm

Seelenzerrung - Winfried Thamm


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alles egal.

      Ich gehe vor die Tür und stecke mir eine an. Klopfe an die Scheibe und lass mir ein Bier bringen. Eine Frau steht neben der Tür, raucht auch. Will reden:

      „So ’n Bierchen mit Kippe kommt gut, nee?!“

      „Jau“

      „Scheiß Wetter, was?“

      „Mh.“

      „Versteh’ schon.“

      Sie geht hinein.

      Die große Stadt am Main, ihr Rhythmus war mein Puls, ihre Energie lud meine Batterie. Sie, die mir die Chancen zu Füßen legte, mich nährte mit Arbeit, Geld und Ruhm, die mich Fremden aufgenommen und mir Freunde geschenkt hatte, diese großartige Stadt wollte mich nicht mehr. Sie spuckte mich aus wie einen alten Kaugummi. Und das nur, weil ich mein Lächeln verloren hatte. Mein Lächeln war die Währung für sie, mein Lächeln, mit dem ich mich dankbar zeigte für alles. Es ist mir aus dem Gesicht gefallen, direkt in die Grube.

      Die Kneipe wird immer voller, immer lauter. Stimmen, Lachen, Gesichter und Körper, junge, schöne Männer und noch viel schönere Frauen, die lächeln und flirten und küssen und trinken und, und, und … Nichts macht einsamer, als allein in einer vollen Kneipe zu sein. Ich zahle und gehe. Es ist kalt, aber es regnet nicht mehr.

      Die Kollegen mieden mich aus Unsicherheit. Ich mied sie aus Wut auf ihre heile Welt. Am liebsten hätte ich draufgehauen. Ich weiß, das ist nicht fair. War das große Auto fair? Wenn man in einem Verlag nicht mehr redet, ist man tot. Mein Chef fühlte mit mir, ich nicht mit ihm. Es ging nicht. Also ging ich. Hatte dann viel Zeit. Time for passion. Wieso bedeutet dieses Wort Leidenschaft und Qual zugleich?

      Ziellos schlendere ich durch die Straßen meiner fremden Heimatstadt. Die Lichter der Cafés, Kneipen und Galerien kämpfen mit grellen Farben gegen das grantige Grau der Fahrbahnen und Fassaden. Der tief depressive Himmel fällt auf den nassen Asphalt. Ich suche nach Gefühlsankern und Wiedererkennen.

      Trieb mich rum im Frankfurter Bahnhofsviertel, versuchte es mit Tränen. Einer, der auszog, um das Weinen zu lernen. Ein Märchen. Nach zehn Bier und sechs Korn ging’s manchmal. Dann war ich stolz. Ich stank nach Bier und Trauer. So hörte die Stadt auf mich zu lieben und machte mich zum einsamsten Menschen des Planeten. Mir waren die Mitleidsumarmungen der Frauen unangenehm. Mir erschien ausgesprochenes Mitgefühl als Lüge, als Obszönität. Der Einzige, den ich ertragen konnte, war mein Bruder. Der wohnte in Essen. Immer schon. Ein Fels in der Brandung. Ich fuhr zu ihm. Wir tranken Bier und erzählten uns Geschichten von früher. Manchmal weinte ich. Dann ging er in die Küche, holte den Ouzo aus dem Eisfach und schenkte ein.

      Hier werde ich vielleicht eine neue Arbeit finden, als Verlagsassistent. Kann nichts anderes. Ich lache kalt auf.

      „Montag: Vorstellungsgespräch! Reiß dich zusammen!“, rufe ich mir zu. Vor einer Eckkneipe stehen einige Taxen. Ich steige in eine und nenne dem Fahrer die Adresse meines Bruders.

      Wir sitzen zusammen und erzählen uns Geschichten von früher und Neues von heute. Zwischendurch geht er nach Nebenan, um das Gästebett zu beziehen. Das Bier ist kühl, der Ouzo wärmt. Den Koffer kann ich ja morgen noch holen.

      An Brüdern wie Felsen in der Brandung zerschellt man nicht. Sie retten einen vor dem Ertrinken. Bestenfalls.

      Es war Montagmorgen viertel vor acht, als Heinz Scholz im Lehrerzimmer auf den Vertretungsplan sah. Er las:

       Scho - 1. + 2. Std - Ku - SEFÖG - Raum - K004

      Für nicht Eingeweihte hieß die Übersetzung: Herr Scholz sollte in der Seiteneinsteiger-Fördergruppe, also in der Flüchtlingsklasse, zwei Stunden Kunst im Kellerraum 4 vertreten. Und zwar jetzt, gleich, sofort.

      Heinz war zweiundsechzig, wollte keine Karriere mehr machen, nicht mehr die Schullandschaft oder gar die Welt verändern. Er wartete auf seine Pension und auf die Reisen mit seiner Frau und dem alten Wohnwagen. Ja, so war er. Früher hatte er sich engagiert, jahrelang, Jahrzehnte, gefühlte Jahrhunderte. Nichts war passiert, alles war erstickt im Sumpf der Bürokratie.

      Meine Güte, auch das noch, was mach ich denn da mit den Flüchtlingen? Da spricht doch kaum einer Deutsch. Haben die denn Material? Ich war da noch nie. Die sollen ziemlich schwierig sein, dachte er.

      Heinz ging in den Materialraum Kunst, klemmte sich ein paar verwaiste Zeichenblöcke und eine Kiste mit Wachsmalstiften unter den Arm und stieg hinab in den Keller. Die Tür zum Raum 004 war geschlossen und kein Ton zu hören.

      Vielleicht hat ihnen ja die zuständige Kollegin gestern schon gesagt, dass die ersten beiden Stunden ausfallen, hoffte Heinz.

      Er drückte die Klinke herunter, die Tür öffnete sich. Gleich sprang ihm ein Mädchen zu Hilfe und nahm ihm die Blöcke und die Kiste ab. Er betrat den Raum und schaute in die Gesichter von sechszehn Kindern und Jugendlichen, irgendwo zwischen 10 und 18 Jahren. Sie sahen ihn an, ängstlich, verunsichert, belustigt, forsch, gelangweilt, neugierig, mit einem Lächeln um den Mund oder mit Sorgenfalten auf der Stirn, mit ernstem Gesicht oder unbedarfter Heiterkeit. Aber niemand sprach, alle standen hinter ihren Stühlen und warteten.

      „Guten Morgen zusammen!“, sagte Heinz. Sie antworten im Chor: „Guten Morgen Herr …“ Verlegene Blicke.

      „Ach so, ja, ich bin Herr Scholz. Wir haben jetzt zwei Stunden Kunst zusammen“, sagte Heinz und lächelte sie an. Sie setzten sich und grinsten zurück.

      Das hilfsbereite Mädchen von vorhin, das Lava hieß, erklärte ihm etwas altklug in gebrochenem Deutsch, dass einige von ihnen schon seit über einem Jahr hier seien, andere erst seit ein paar Monaten und Ayan erst seit letzter Woche. Und sie zeigte auf einen schwarzen Jungen von etwa 15 oder 16 Jahren, der schüchtern auf seine Hände blickte, als er seinen Namen hörte. Die meisten verständen schon viel Deutsch, wenn nicht, dann aber Englisch. Nur Vasili nicht, aber Boris übersetze ihm alles. Das funktioniere alles sehr gut, erklärte Lava. „Frau Drilling immer sagt: Alles gut, alles gut!“, endete sie mit einem Lachen.

      Heinz verteilte Blätter und Stifte, seine Angst verflog. Es sind nur Kinder. Kinder sind eben Kinder, überall, Gott sei Dank. Er erklärte auf Deutsch und auf Englisch, dass sie ein Bild malen sollten zum Thema Frühling. Natürlich war das seltsam, es war Mitte Januar, tiefster Winter, draußen lag Schneematsch. Aber er konnte sie doch nicht auffordern, den kargsten, traurigsten und schäbigsten Monat des Jahres zu malen. Das ging doch nicht.

      Er fragte, was denn alles zum Frühling gehöre und sie antworteten: „flowers, grass, trees, Sonne, Haus, Wiese, Regenbogen, Vögel, Kinder, Eltern, Mam and Dad, brother, Schwester, alles grün, schöner Regen, Datteln, Feigen, sweet, all is sweet …“

      Und sie malten drauflos, die Kleineren eifrig, die Älteren gelassen. Dabei erzählten sie, woher sie kamen, fragten Heinz, ob er verheiratet sei, ob er Kinder habe, waren erstaunt, dass er nur ein Kind hatte, schauten daraufhin mitleidig, fragten, wie man einen Hasen malt, einen Esel oder ein Kamel. Alle waren beschäftigt und gut bei der Sache, nur einer nicht: Ayan.

      Heinz bemerkte es und setzte sich zu ihm.

      „Du bist Ayan, ja?“, fragte Heinz ihn auf Englisch.

      Ayan nickte.

      „Woher kommst du, was ist dein Land?“

      „Er kommt aus Somalia, Frau Drilling hat gesagt“, krähte Lava dazwischen.

      „Sei mal still, Lava, Ayan soll selbst erzählen“, erwiderte Heinz.

      „Englisch er versteht, aber nix sagen, nie!“

      „Ayan, wie alt bist du?“, versuchte es Heinz weiter.

      Der Junge sah Heinz nicht an und rutschte auf seinem Stuhl etwas nach hinten. Heinz lächelte ihn an, nahm einen Malstift und hielt ihm den vors Gesicht. Ayan drehte zitternd den Kopf zur Seite.

      „Hier, nimm den Stift und male, was du willst. Oder auch nicht. Du musst nicht“,


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