Seelenzerrung. Winfried Thamm
gutes, sondern das beste Abitur zu schaffen und mich auf mein Studium der Jurisprudenz zu konzentrieren.“
Ja, dich habe ich immer im Griff gehabt, Lutz. Nur ein folgsamer Sohn ist ein guter Sohn. Wenn du auch weiterhin auf mich hörst, wird es dir gut gehen. Fleißig bist du ja, aber dir fehlt die Fantasie. Rebecca ist da ganz anders, dachte er.
„Wie oft habe ich mir bei dir Rat geholt in schwierigen Fragen und wie oft hast du mich motiviert, nicht auf-, sondern alles zu geben. Getreu deinem Motto: Nicht das Vergnügen sei des Menschen Pflicht, sondern die Pflicht sei des Menschen Vergnügen.“
Herrmann musste grinsen: Wunderschön formuliert. Reden kannst du. Das muss ich dir lassen.
„Dadurch habe ich zwar eine Reihe von Besäufnissen mit meinen Kommilitonen verpasst … (wieder leichte Heiterkeit in der Runde) … aber wenn das meinem Ruf geschadet hat, dann nur bei den Zechern unter meinen Weggefährten. So konnte ich mit deiner moralischen und gleichwohl fachkompetenten Unterstützung schon in diesem Frühjahr mein erstes Staatsexamen summa cum laude feiern.“
Diese Selbstlobhudelei! Lutz, du bist so peinlich! Rebecca lächelte nicht mehr. Sie stieg ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
Herrmanns Blicke waren wieder bei ihr. Was hatte sie nur verärgert? Er lächelte sie an, schlug die Augen nach oben und hob leicht die Schultern. Da zeigte sie Grübchen und blitzte keck herüber. Sie verstanden sich wortlos.
Ein langes, silbernes Kleid mit einem hohen seitlichen Schnitz floss um ihre schlanke Gestalt. Das dunkle Haar war hochgesteckt, die Lippen signalrot.
Rebecca, seine kleine Prinzessin, achtzehn Jahre jung, seit gestern, am gleichen Tag geboren wie er. Das Collier hatte sie von ihm bekommen. Lutz, Bemerkung, so etwas schenke man doch eher seiner Frau und nicht der Tochter, hatte ihn getroffen.
„Und dieses Fest war, wie du weißt, im wahrsten Sinne des Wortes nicht von schlechten Eltern. Doch obwohl du in deiner so eigenen Bescheidenheit deinen runden Geburtstag lieber im Schoße deiner Familie feiern wolltest, hat Mamá die Organisation in ihre preußischen Hände genommen und diese „Festkutsche“ zu einem gesellschaftlichen Ereignis gelenkt, bei dem die Garde deiner beruflichen Weggefährten nicht fehlen durfte.“
Wie schön du bist. Seine Gedanken schweiften ab in die Zeit, als sie noch klein war. Das war die Phase, in der er an seiner Karriere arbeitete und selten zu Hause war. Doch wenn, dann spielte und tollte er mit ihr herum. Wenn er mit ihr Karussell spielte, juchzte sie vor Glück. Das war auch sein Glück. Er hatte sie schon immer gerne in den Armen gehalten, angefasst und sie war bei jeder Gelegenheit auf seinen Schoß geklettert. Das hatte sich auch in der Pubertät kaum geändert. Mit Bewunderung und heimlichem Schmerz hatte er das Knospen ihrer Brüste wahrgenommen, das Runden ihrer Hüften. Doch sie waren sich immer noch sehr nah gewesen, auch heute noch.
Auch heute noch? Kleine Schweißperlen einer unbestimmten Angst krochen leise auf seine Stirn.
„Und wir, die Familie, sind froh darum, dass sie alle gekommen sind, deine langjährigen Kolleginnen und Kollegen, die Mitstreiter für Recht und Ordnung und gegen das Verbrechen. Sie hätten sonst auch kein privates Wort mehr an dich gerichtet, im Gericht.“
Das fröhliche Lachen der Gäste auf die gelungene Pointe nahm Herrmann nicht mehr wahr. Er hatte immer häufiger ihre unschuldige Nähe gesucht. Sie hatte nie Angst vor ihm empfunden, warum auch? Doch er hatte Angst vor sich selbst, denn er wusste um die Erregung, die sie auslöste. Manchmal war er nachts in ihr Schlafzimmer gegangen, nur um sie anzusehen, gelegentlich ihr Haar zu berühren, um dann schnell wieder hinauszuschleichen, gepeinigt von schlechtem Gewissen und noch schlechteren Wunschträumen. Völlig verstört hatte er dann nach solchen Besuchen stundenlang in seinem Arbeitszimmer gesessen und sich selbst nicht mehr verstanden, nicht mehr vertraut.
„Meine bescheidene Ode an dich, Papá, soll auch bald ein Ende finden, aber nicht ohne dein besonderes Engagement zu erwähnen, dass du in deiner Karriere als Staatsanwalt in deiner dir eigenen Beharrlichkeit gezeigt hast. Besonders am Herzen lagen dir, neben all den Opfern der Verbrechen aus Habgier und Gemeinheit, die Frauen und Kinder, die gedemütigt, misshandelt und vergewaltigt wurden von perversen Psychopathen und brutalen Kinderschändern. All die Menschen, denke ich, sind dir, bei all ihrem Leid, zu ewigem Dank verpflichtet für deinen konsequenten Einsatz.“(Applaus)
Herrmanns Erinnerungen brachen sich Bahn, unaufhaltsam: Eines Abends, etwa vor einem Jahr, war sie spät zu ihm ins Wohnzimmer gekommen und hatte sich neben ihm auf die Couch gesetzt.
„Paps, wir müssen mal reden“, hatte sie begonnen und ihm fest in die Augen gesehen. Die gleiche Panik, die er auch jetzt spürte, hatte seinen Brustkasten umschlossen.
„Du, wir sind doch nicht nur Paps und Rebecca, wir sind doch auch … gute Freunde.“
„Na sicher, mein Schatz.“ Die Spannung löste sich aus seinen Muskeln.
„Hör mal, du weißt doch, dass ich einen Freund habe, den Jonas.“
„Das ist dein Freund? Ich dachte, es sei nur ein, na ja, netter Mitschüler.“
Er hatte seine Kränkung nicht verbergen können.
„Nein, wir gehen schon ein halbes Jahr miteinander. Guck nicht so traurig. Ja, und … gestern ist es passiert. Wir haben miteinander geschlafen. Und jetzt bin ich ganz durcheinander, ich kann gar nicht mehr denken, so richtig, ich bin so glücklich, das war so … wie ins All fliegen und einmal um den Mond. Ich glaube, ich liebe ihn, kann ich denn mit siebzehn schon lieben? Was ist das eigentlich: Liebe? Ist das die Liebe?“, kam es aus ihr herausgesprudelt.
„Was?“ Mehr hatte er nicht sagen können. Der Schmerz hatte ihm den Atem genommen und gleichzeitig die Ahnung einer Erlösung geschenkt.
Er hatte sie angestarrt, ohne zu wissen wie lang.
„Paps, ist das denn so schlimm?“ Der Zauber ihres Lächelns hatte ihn ganz eingenommen.
„Nein, Schatz, komm mal her!“ Und sie war ihm um den Hals gefallen, er hatte sie umarmt, sie wieder gespürt, gestreichelt, auf den Hals geküsst, sie hatte aufgeschaut, ihr Gesicht ganz nah bei seinem, ihn auf den Mund geküsst, „armer Paps“ hineingelächelt. Er hatte ihren Kuss erwidert, auf den ach so blühenden Mund, und nicht mehr aufgehört, war immer fordernder geworden, hatte seine Hände wandern lassen, immer gieriger, bis sie ihn sanft, aber bestimmt zurückdrückte, „Lass gut sein, Paps“, murmelnd. Er starrte sie an, sie schlug die Augen nieder.
„Entschuldige, ich wollte nicht …“, hatte er gestammelt, mit abgewandtem Kopf. Und sie war grußlos verschwunden.
Die ersten Tage danach hatten sie kaum miteinander sprechen und sich nicht anschauen können. Dann einmal doch, nach Wochen, hatte sie ihn gefragt, ob er böse auf sie sei. Nein, aber sie auf ihn, hatte er erstaunt gefragt.
„Ach was, Paps, ich lieb dich doch“, hatte sie gesagt mit ihrem koketten Grübchenlächeln. Die Erleichterung ließ ihn durchatmen.
„So lasst uns das Glas erheben auf dich, den großen Oberstaatsanwalt, den verständigen Kollegen und lieben Freund, auf dich, meinen und unseren Papá, auf den Gatten dieser wunderschönen Frau, die ich mit Stolz meine Mamá nennen darf, die ihrem Mann immer den Rücken frei gehalten hat und die dafür gesorgt hat, dass du bei all deiner Arbeit auch noch Zeit für uns Kinder gefunden hast.“
Seine Hände waren so feucht, dass er glaubte, das Glas nicht halten zu können. Er kramte ungeschickt ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Er spürte den strafenden Seitenblick seiner Gattin. Die anderen schienen nichts zu merken. Sie hörten Lutz zu, der immer noch redete.
Vater und Tochter hatten ihre alte Vertrautheit im Gespräch wiedergefunden, aber nur da. Wenn sie ihn jetzt einmal umarmte, spürte er die Erregung jedes Mal wie einen Stromstoß, der ihn so durchzuckte, dass er zu zittern glaubte, nach dem er sich aber immer wieder unendlich sehnte. So stahl er sich Blicke auf Bauch und Busen, unbemerkt. Lauerte ihr auf, jagte nach der Beute der Berührungen, beim Zähneputzen im Bad, beim Sonnenbaden im Garten, beim Auskleiden abends in ihrem Zimmer. Nachts ließ er seinen