Seelenzerrung. Winfried Thamm

Seelenzerrung - Winfried Thamm


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dem anderen. Nichts als Holzkästen mit Drahtseilen drauf!“ Beide lachen hell auf vor Vergnügen.

      „Ich heiße Guido, vielleicht sollten wir uns … darf ich dich zu einem Getränk Ihrer, äh, deiner Wahl einladen? Es wäre mir eine echte Freude! So als … Seelennotstopfen. Wir wär’s mit ’nem Du?“, stammelt er. Woher Kleinmann den Mut genommen hat, weiß er nicht, aber er grinst über beide Ohren.

      „Ich bin Hanna. Das wurde aber auch Zeit! Und … ich liebe Notstopfen!“ Und wieder schaut sie so, dass es Kleinmann ganz anders wird.

      So trinken sie Rotwein, erzählen aus ihren Leben, von ihren Träumen und versäumten Gelegenheiten, rücken zusammen, schauen nicht auf die Uhr, trinken mehr Rotwein, bestellen Erdnüsse, sind unvernünftig, lachen viel, sind auch ein bisschen traurig, trinken als letztes einen Calvados, gehen gemeinsam zum Aufzug, steigen auf der gleichen Etage aus, stehen vor ihrer Zimmertür, als Kleinmann sagt:

      „Auf eine so berühmte und ach so schöne Cellistin sollte jemand aufpassen, dass sie im Schlaf nicht plötzlich in den Himmel fliegt. Das wäre ein großer Verlust für die Menschheit. Und ich würde mich da gerne als diesen jemand anbieten.“

      Sie stehen ganz nah beieinander. Er riecht ihr Haar, sieht den Glanz in ihren smaragdgrünen Augen, den Schwung ihrer feuchten Lippen und glaubt, noch nie im Leben eine so schöne Frau gesehen zu haben. Sie schaut in das Indigoblau seiner Augen wie in einen Nachthimmel, findet in seinem Lächeln die Ahnung eines kleinen Jungen, der träumt, und riecht seinen Rotwein-Atem, mit einem Hauch Calvados. Sie streicht ihm durchs Haar, küsst ihn zart auf den Mund und sagt:

      „Ach, Guido, lass mal sein. Schön wär’s, aber wir machen jetzt mal keinen Quatsch. Und übrigens: Der blasse Streifen auf deinem Ringfinger steht dir nicht. Zieh den Ring drüber.“

      So schenkt sie ihm ein letztes Lächeln und lässt ihn stehen.

      Es klopft.

      Es klopft an der Tür.

      Es klopft an der Tür des alten Bruchsteinhauses.

      Die dicken Mauern halten die eisige Kälte des Winters draußen. Das Thermometer zeigt vier Grad unter null.

      Es klopft an der Tür des alten Bruchsteinhauses, das ganz einsam an der Landstraße steht, mitten in der Natur am Ufer der Ruhr zwischen Essen-Werden und Kettwig.

      Es klopft an der schweren Tür des Hauses, in dem Herr Dr. jur. Arnold Overbeck im behaglich warmen Wohnzimmer sitzt. Er genießt seit drei Jahren seinen Ruhestand, der pensionierte Richter. Kurz vor siebzig macht er noch was her mit seinem gepflegten grauen Haar, seinem noblen Hausrock alter Schule, trotz später Stunde. Es ist 23 Uhr 43.

      Und es klopft.

      Es klopft und er will es nicht hören, wünscht sich weg, will woanders sein, wo niemand klopft. Nein, er wünscht das Klopfen weg aus seinem Abend, aus seinem Leben. Er will bleiben, wo er ist, nur ohne dieses Klopfen.

      Aber es ist da, unüberhörbar.

      Jetzt ärgert er sich, dass er sich gegen eine Klingel entschieden hat und für diesen schweren Messingklopfer mit Löwenkopf. Stilvoll fand er es und so urig. Eine Klingel könnte er jetzt einfach abstellen.

      Es klopft laut, das liegt an diesem Messingring.

      Herr Overbeck hat es sich in seinem hochlehnigen Ohrensessel mit einem Roman – vielleicht Fontane – und einem außerordentlich guten Rotwein vor dem Kamin gemütlich machen wollen, nachdem er noch mit seinem Sohn telefoniert hat, übrigens auch ein Jurist, der auf den Malediven Urlaub macht, mit seiner schönen Julia und der kleinen Jolina, als das Klopfen begann.

      Es klopft wieder gegen die Tür mit dem schweren Messingring, der stilgerecht im Maul eines Löwen schwingt.

      Er ist froh, dass er im letzten Jahr diese stabile Haustür mit dem breiten Stahlriegel einbauen und die Fenster sichern ließ. Ihm kann nichts passieren. Er kann höchstens in seiner Ruhe gestört werden. Und das ist ja schon schlimm genug. Er hat keine Angst. Er ist bei sich zuhause. Er ist im Recht, der Richter.

      Für den Notfall gibt es noch den alten Revolver seines Vaters im Nachttisch.

      Es klopft immer lauter gegen diese Panzertür. Erste Rufe nimmt er wahr: „Hilfe, helfen Sie mir!“

      Overbeck ist genervt, in seiner Leseruhe gestört und glaubt kein Wort. Er geht zur Tür, schiebt die straff gespannte Scheibengardine vor dem kleinen, vergitterten Kontrollfenster wenige Zentimeter zur Seite und sieht einen jungen Mann im hellen Licht seiner Bewegungsmelder gesteuerten Eingangsbeleuchtung. Er scheint so um die dreißig zu sein, kräftig gebaut, mit schwarzen Augen, dunklen Haaren, üppigem Bart und dem Teint von grünen Oliven.

      In Overbecks Gehirn läuft eine Jahrzehnte erprobte, routinierte Rasterfahndung ab:

      Südländischer Typ, krimineller Nordafrikaner oder serbo-kroatischer Kosovo-Albaner, früher hieß das Jugoslawe, vielleicht auch Rumäne, Bulgare, Sinti, Roma, früher sagte man einfach Zigeuner, vielleicht auch Araber, Perser, Türke, wahrscheinlich Salafist, alles möglich. Spricht erstaunlich gut Deutsch. Hundert Prozent verdächtig, kaum bedrohlich, solange er draußen bleibt.

      Wir müssen leider draußen bleiben, denkt er. Diese Schilder an den Türen von Metzgereien, gibt es die noch?

      Seine Leseruhe ist unwiederbringlich dahin. Doch seine missmutige Neugier ist geweckt. Er täuscht erst einmal Abwesenheit vor, merkt aber schnell, dass ihn das Licht durch das Türfenster schon verraten hat.

      „Hallo, hören Sie? Ich brauche Hilfe!“, hört Overbeck, ohne zu reagieren.

      „Hallo, bitte helfen Sie mir. Ich weiß, dass jemand zuhause ist. Sie haben doch die Gardine bewegt.“

      „Lassen Sie mich in Ruhe!“, ruft er durch die Tür.

      „Wir brauchen einfach Hilfe!“

      „Was heißt jetzt plötzlich: wir? Ich sehe nur eine Person. Und zwar eine, die unbescholtene Bürger belästigt.“

      „Hören Sie, meine Frau und ich sind mit dem Wagen liegen geblieben. Keine fünfzig Meter von hier. Wir haben vergessen zu tanken.“

      Wie viele Trickbetrüger, Diebe und Gewalttäter hat Overbeck in seinen fünfunddreißig Jahren als Richter schon vorgeführt und abgeurteilt. Das Letzte, was man ihm vorwerfen könnte, ist Naivität. Er weiß, dass der Mensch schlecht ist. Ob er brav ist oder kriminell wird, ist nur eine Frage seines relativen Wohlstands. Ja, so denkt Overbeck.

      Er könnte auch ins Wohnzimmer zurückgehen, an seinen knisternden Kamin, aber das Spiel mit drinnen und draußen vor der Tür reizt ihn.

      „Wo ist Ihre Frau, ich kann sie nicht sehen?“, fragt er.

      „Haben Sie vielleicht einen vollen Benzinkanister? Wir müssen dringend weiter.“

      Die Stimme des Zwielichtigen klingt verzweifelt, gut gespielt. Die trainieren das ja, die Betrüger- und Bettlerbanden, wie man besonders verzweifelt klingt. Oder sie täuschen Behinderungen vor, dass man denkt, das gibt es ja gar nicht, so täuschend echt sieht das aus. Aber Overbeck lässt sich nicht vorführen. Overbeck ist ein Fuchs, ein alter Hase, kennt alle Tricks.

      „Ich will zuerst Ihre Frau sehen“, sagt er und fühlt sich wie in einem Krimi.

      „Sie sitzt im Auto, ist hochschwanger“, kommt es von draußen.

      „Ach, das soll ich Ihnen glauben? Sie bedienen doch alle Klischees eines Standardbetrügers. Wissen Sie eigentlich, dass ich Richter bin?“, trumpft Overbeck auf.

      „Nein, das ist mir auch völlig egal. Bitte, wir sind auf dem Weg zur Klinik in Kupferdreh. Ich habe nicht auf die Tankuhr geachtet, ich Trottel. Ich und besonders meine Frau brauchen Ihre Unterstützung, Ihre Menschlichkeit.“

      „Wer’s glaubt, wird selig. Jetzt erzählen Sie mir nur noch, dass bei Ihrer Frau schon die Fruchtblase geplatzt ist.


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