Seelenzerrung. Winfried Thamm

Seelenzerrung - Winfried Thamm


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      Der Großstadtbahnhof: Die Atmosphäre vibriert voller fremder Leben und Lieben, Trennung und Tränen, Aufbruch und Abschied. Und Frank mittendrin.

      Plötzlich sieht er nichts mehr. Kleine, kalte Finger kommen von hinten und nehmen ihm die Sicht. Er schreckt herum, war unvorbereitet. Genauso ahnungslos schaut er in ein Gesicht, das er gut kennt, nur dessen Namen er nicht mehr weiß. Es gehört einer Freundin von früher, Jahrzehnte her. Sie umarmen sich aus unverhoffter Freude, zeigen ihre Überraschung in den üblichen Fragen, ob es denn so was gebe und welch ein Zufall das sei. Jetzt fällt ihm ihr Name wieder ein und seine Verlegenheit weicht. Katharina! Nun freut er sich wirklich. Er schaut sie an: Ihr Lachen ist immer noch jung und findet sich auch in ihren Augen wieder. Ob sie noch Zeit habe auf einen Kaffee? Ja natürlich, eine gute halbe Stunde. Er, eine schlechte …, sie lachen ausgelassen über den kleinen Witz, haken sich ein und schlendern zum Stehimbiss auf dem Bahnsteig.

      Wie es ihm und ihr denn so ginge und ergangen sei, Beruf, Familie und hin und her.

      „Verheiratet, eine Tochter, wird bald achtzehn“, sagt sie.

      „Und dein Mann?“, fragt er nach.

      „Oberarzt im Klinikum, selten zu Hause, lebt sich im Job aus, schon in Ordnung, insgesamt so là-là“, ist die Antwort.

      Das habe er schon hinter sich, sagt er.

      „Was, die Tochter oder den Oberarzt?“

      „Die Ehe, du Clown.“

      „Und wie ist das?“

      „Was?“

      „So allein?“ Ihre Stimme klingt gespielt zerknirscht.

      „In meinem Alter, meinst du wohl!“

      „Nein, das stimmt nicht, das hast du gesagt. Das käme nie über meine Lippen, ich meinte …“

      Und sie lachen sich wieder in ihre frohen Gesichter.

      Wohin sein Zug fahre, will sie wissen. Nach Köln. Er müsse über Verträge verhandeln, vertrete seinen Chef, sei eigentlich Ingenieur und baue Maschinen. Und wohin sie denn unterwegs sei? Sie wolle nach Hannover, Bilder ansehen und vielleicht kaufen. Sie sei Bilder An- und Verkäuferin. Warum sie nicht Galeristin sage? Weil das so versnobt klinge und sie wolle nicht angeberisch sein, jedenfalls nicht bei ihm.

      So reden sie und reden, gleichgültig, worüber, Hauptsache, es hört nicht auf. Sie stehen sich gegenüber an diesem Stehtisch im Imbiss und lassen sich nicht los mit ihren Augen, lassen sich nicht gehen.

      Er war einmal verliebt in sie, traute sich aber nicht. So blieb es platonisch, aber in der Vertrautheit etwas Besonderes. Das sagt er ihr jetzt. Und sie wirft den Kopf in den Nacken mit einem erstaunten Lachen.

      „Du bist so süß!“, meint sie.

      Ihr Haar ist immer noch so blond, nicht mehr so lang, aber mit diesem Glanz. Er zahlt den Espresso, sie nimmt seine Hand.

      Hand in Hand, ist das schön kitschig, denkt er und lächelt. Sie fragt, warum er lächle, und er sagt es ihr. Ob er wisse, was noch kitschiger ist? Sie zieht ihn heran, hält ihm ihre Lippen entgegen, zum Kuss. Er nimmt ihn an. Der Kuss wird lang und nass und schmeckt so gut. Er bittet sie um noch mehr Kitsch. Sie ist bereit und willig.

      Sie halten sich bei den Händen, als er sagt, dass sein Zug längst weg sei. Ja, ihrer sei auch schon durch. Und nun? Sie wisse es nicht. Alles ist offen und sie sind sich sehr nah.

      So schlendern sie über den Bahnsteig. An der Hinweistafel „Abfahrt“ bleibt sie stehen. Er fragt sie, ob sie nach ihrem nächsten Zug schaut.

      „Nicht nach meinem, nach unserem.“

      „Was?“

      „Wir verreisen, und zwar jetzt. Wusstest du das noch nicht?“

      „Jetzt weiß ich’s ja. Ist ja früh genug.“

      „Wir fahren nach Amsterdam!“, lacht sie, hakt sich bei ihm ein und drückt ihm einen Gute-Laune-Kuss auf die Wange. So steuern sie auf den Fahrkartenschalter zu.

      Ihm ist windig zumute, ihr ist flau und beide wissen um die Unmöglichkeit. Aber keiner will dieses Spiel beenden. Es ist so schön.

      Frank verlangt zwei einfache Fahrten Erster Klasse nach Amsterdam. Die Frau am Schalter meint, der Zug stehe bereits auf Gleis 7 und fahre in vier Minuten ab.

      „Unser Gleis!“, ruft Katharina. „Komm!“

      Sie rennen durch die Halle hinauf auf den Bahnsteig, erreichen das Gleis und den Zug, finden ein leeres Abteil und lassen sich jubelnd und lachend in die Sitze fallen. Der Zug ruckt an. Das Lachen bremst.

      „Was machen wir hier eigentlich, Frank?“

      Er habe nicht gedacht, dass sie das ernst meine mit ihrem gemeinsamen Zug. Und sie habe nicht geglaubt, dass er wirklich die Fahrkarten kaufe. Und er habe nie gedacht, dass sie tatsächlich in den Zug einsteige.

      „Jetzt sitzen wir in der Patsche!“ Frank schaut aus dem Fenster, während er das sagt.

      „Ja, das ist die erste fahrende Patsche, die mir über den Bahnsteig geschwappt ist“, sagt sie neben ihm. Ihre Blicke treffen sich und beide prusten los, ja, schreien vor Lachen, japsen nach Luft und heulen wie die Schlosshunde vor Spaß.

      Unvermittelt unterbricht Frank sein Lachen mit der Frage: „Steigen wir an der nächsten Station wieder aus oder gönnen wir uns einen Tag und eine Nacht in Amsterdam?“

      „Ich krieg das hin. Schaffst du das auch?“

      „Ja.“

      Beide sind hektisch, ihre Gesichter fleckig, die Finger flattrig, vor Angst, aus ihrem Traum zu erwachen. Sie suchen nach Handys. Frank stürzt in den Gang, lügt dem Kunden einen Unfall vor, sie bleibt im Abteil und schwindelt ihre Mutter todkrank ins Sterbebett. Sie melde sich wegen neuer Termine. Gleichzeitig drücken sie auf „AUS“. Und nichts ist aus, nur ihre Handys.

      Sie atmen immer noch schwer, als sie schweigend nebeneinander sitzen und die Bäume vorüberstürzen sehen. Sie haben es geschafft, sie sind in ihrem Bahnhofstraum geblieben. Kuss um Kuss tanken sie einander auf. Ihnen hilft das Geschnäbel und ihr Fingerspiel, so leicht wie Ringeltaubengeflatter. Frei, vogelfrei, Freiwild füreinander.

      Er fragt sie, ob sie Amsterdam gut kenne. Er sei erst zweimal da gewesen, lange her. Ja, nein, sie sei nur einmal dort gewesen, vor fünf Jahren erst, mit ihrem Mann. Die Stadt habe sie verzaubert, ihr Mann nicht. Jetzt wolle sie mit dem Richtigen in der richtigen Stadt etwas Richtiges erleben.

      Ja, sie wollten Touristen der schlimmsten Sorte spielen, eine billige Kamera kaufen und sich vor Grachten, Brücken und Kirchen von anderen Touristen knipsen lassen, am besten von Japanern. Und am Ende würden sie die Kamera feierlich in einem Kanal versenken. So reden sie. Und sie würden sich immer spüren und halten, an den Händen, in den Armen und am Abend dann lieben in einem feinen, kleinen Hotelzimmer mit Teppichen auf den Tischen, in der Altstadt, an einer Gracht mit Zugbrücke und Hausbooten gelegen. Dann würden sie nobel essen gehen und … So reden sie weiter und lachen und witzeln und hören gar nicht mehr auf, bis sie einschlafen, erschöpft von der Aufregung ihrer Begegnung und der Freude über die Einigkeit ihrer Wünsche.

      Als sie erwachen, kreuzt der Zug langsam über einen breiten Strom paralleler Gleise und Weichen. Sie fahren in den Amsterdamer Hauptbahnhof ein. Auf dem Weg zum Ausgang scherzt und lacht Frank und merkt nicht, dass sie verstimmt ist, bis sie unter der großen Anzeigetafel stehen bleibt.

      Was denn mit ihr sei? Sie könne nicht, was sie nicht könne, Amsterdam mit ihm. Wo das Problem sei? Ihr Mann sei da, unsichtbar und schlecht gelaunt, neben ihr, nicht abzuwimmeln.

      Frank schaut auf die große Tafel, sieht: Scheveningen, Gleis 14, Abfahrt – ein Blick auf die Uhr – in drei Minuten.

      „Komm, wir fahren ans Meer.“

      Wieder sitzen sie im Abteil eines Zuges. Ihr Kopf lehnt an seiner Schulter, sie weint. Er lässt sie


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