Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt. Frank Westermann

Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt - Frank Westermann


Скачать книгу
Körpers einzeln spüren zu können. Laura hatte sie damit geneckt, dass sie nun endlich ein paar Pfunde ihres überflüssigen Körpergewichts verlieren würde, Versuche in dieser Hinsicht waren immer im Anlauf stecken geblieben. Und Laura hatte Recht behalten: Einige Tage später hatte sie ihren Rock enger machen müssen.

      Sie sah, dass Fiora damit beschäftigt war, einem großen gelben Käfer hinterherzulaufen und diesem den Weg zu versperren.

      »He, ich dachte, du wolltest trinken!« rief sie der Kleinen hinterher, die sich schon wieder aus dem Schatten entfernte.

      Aber Fioras Durst schien angesichts des Käfers an Bedeutung verloren zu haben. Yara lächelte. Sie bewunderte das Talent des Mädchens, in jeder Lage ein Spiel für sich zu finden. dass sie überhaupt nicht auf Yaras Zuruf reagierte, erinnerte sie allerdings auch an die Schwierigkeiten, die sie mit der ungewöhnlichen Selbstständigkeit ihrer Tochter hatte. Des Öfteren schenkte sie ihrer Mutter kaum Beachtung, was Yara verstörte und entweder traurig oder zornig werden ließ. Manchmal empfand sie Fiora wie ein fremdes Wesen und dann erschrak sie über diese Vorstellung. Laura hingegen schien weniger Probleme mit Fioras Verhalten zu haben. Laura hatte überhaupt weniger Probleme - trotz ihrer Launenhaftigkeit.

      Yara setzte sich auf den ausgetrockneten Boden und lehnte sich gegen das kühle Gestein. Eine Wohltat für ihren schmerzenden Rücken. Es wurde Zeit, dass sie wieder auf Wasser stießen, die Pferde brauchten dringend etwas zu trinken. Sie hob den ledernen Trinkbehälter an die Lippen und nahm langsam ein paar kühle Schlucke. Nun kam auch Fiora zu ihr, setzte sich auf ihren Schoß und verlangte vehement die Wasserflasche.

      Sie hatten noch nicht lange so gesessen und Fiora war gerade eingedöst, als ein lauter Ruf die Stille des Augenblicks brach.

      »Yeeooh!« schallte es über das Land, und als Echo darauf krächzten einige Vögel unwirsch, als wären sie aus ihrem Schlaf geweckt worden.

      »Ah, Laura,« murmelte Yara. »Musst du immer so laut sein?«

      Aber Fiora ließ sich dadurch nicht stören und drehte nur ihren Kopf auf die andere Seite.

      Yara konnte ihre Selbst-Schwester nicht auf sich aufmerksam machen, aber Laura hatte wahrscheinlich die Pferdespur entdeckt, denn sie hörte bald darauf Hufschläge näher kommen.

      Der Rappe bog um die hervorstehende Felsnase, und Yara blickte in das freudestrahlende Gesicht der Wächterin. Wieder einmal war sie erstaunt über die Wandlungsfähigkeit von Lauras Gemüt. Lange Zeit konnte sie mürrisch, zänkisch und voller aggressiver Angespanntheit anderen auf die Nerven gehen, so dass alle bemüht waren, der Frau möglichst aus dem Weg zu gehen, bis plötzlich diese Laune in ihr Gegenteil umschlug, völlig unerwartet für ihre Umgebung. Inzwischen hatte Yara gelernt, die Anlässe für diese unverhofften Wendungen, die aus Laura einen vor Lebenslust sprühenden Menschen machten, zu erkennen. Es handelte sich dabei meist um Ereignisse, die ihr selbst klein und unbedeutend vorkamen, für die Laura aber ein sehr feines Gespür besaß.

      Auch dieses neue Gesicht konnte ebenso schnell verschwinden, wie es gekommen war, und dem stets unzufriedenen Alltagsgesicht Platz machen.

      Es war schwierig, mit den häufig wechselnden Stimmungen umzugehen. Doch Yara hatte sich daran gewöhnt, ihr eigenes ruhig-ausgeglichenes Temperament erwies sich als passender Ausgleich, das Lauras verschiedene Gesichter akzeptieren konnte. Beide Seiten gehörten zu Laura, schufen ihre Persönlichkeit erst, und diese Persönlichkeit war es, die Yara so sehr mochte.

      Yara legte den Finger auf ihre Lippen, und ihre Selbst-Schwester verstand sofort. Ihre braunen Augen entdeckten das schlafende Kind und sie schluckte die lauten Worte, die sie ohne Zweifel auf der Zunge hatte, hinunter. Yaras Blicke folgten ihrer schlanken Gestalt, die jetzt in der ärmellosen Jacke und der kurzen Jeans-Hose geschmeidig von ihrem Pferd sprang.

      »Eine Decke,« flüsterte Yara ihr zu, als sie nahe genug herangekommen war. Laura machte noch einmal kehrt und holte eine der zusammengerollten Decken von ihrem Pferd. Nachdem sie sie im Schatten ausgebreitet hatte, nahm sie Fiora von Yaras Schoß und bettete das Mädchen vorsichtig darauf.

      Yara stand auf, streckte sich und klopfte den Sand von ihrem langen Rock. Die beiden Frauen gingen zusammen ein paar Schritte weiter.

      »Du wirst es kaum glauben,« sprudelte Laura hervor. »Nur ein kleines Stückchen weiter habe ich einen idealen Rastplatz für uns gefunden: eine Anzahl verkrüppelter Bäume, die aber ausreichend Schatten spenden und sogar ein kleines Gewässer, an dem die Pferde trinken können.«

      Yara atmete auf. »Das ist endlich mal eine gute Nachricht.« Sie legte ihrer Selbst-Schwester einen Arm um die Schulter und strich ihr durch das dunkle krause Haar. »Es ist aber trotzdem besser, wenn ich Fiora hier zunächst weiterschlafen lasse. Anschließend können wir ja zu dieser Stelle reiten und eventuell die Nacht über dort bleiben.«

      »Du meinst also, wir reiten heute nicht mehr weiter?«

      Laura sah sie skeptisch von der Seite an.

      »Ja. Ich möchte es nicht so gern. Ich fühle mich ziemlich müde und ausgepumpt .«

      »Das sehe ich. Vielleicht ist es auch ganz gut, einmal eine längere Pause einzuschieben. Da wir kein genaues Ziel haben, ist es eigentlich unnötig, immer den ganzen Tag im Sattel zu sitzen.«

      Yara nickte. Genau hier lag die entscheidende Schwachstelle ihrer Unternehmung: Sie kannten nicht einmal den Zielpunkt ihrer Reise. Es existierten zwar vage Gerüchte über die Position des Orakels, aber außer der Himmelsrichtung Norden gab dieses Gerede wenig her. Andererseits trieb sie die Unheil verkündende Ausstrahlung vorwärts. Sie hatte sich eher verstärkt als abgeschwächt.

      Lauras Krauskopf legte sich auf ihre Schulter.

      »Mach dir nicht immer so viele Gedanken, Schwester. In diesem Fall helfen sie uns bestimmt nicht weiter. Wir wussten schließlich von Anfang an, auf was wir uns einlassen.«

      Natürlich hatte sie auch damit recht, aber es war Yara unmöglich, ihre Gedanken einfach abzuschalten. Immer wieder kreisten sie um das gleiche Problem. Was war die Ursache für diese unbehagliche Ausstrahlung, die sie beide empfingen? Und wieso waren sie die einzigen im Stamm, die davon etwas gespürt hatten?

      Die beiden Frauen setzten sich einige Meter von Fiora entfernt ebenfalls in den Schatten.

      »Du bist eine unverbesserliche Grüblerin,« warf Laura ihrer Selbst-Schwester nicht zum ersten Mal vor. »Aber deine Gedanken drehen sich im Kreise. Es ist wirklich reiner Zufall, ob wir das Orakel finden oder nicht.« »Gerade davon bin ich nicht überzeugt,« antwortete Yara. »Ich komme immer wieder darauf zurück, dass ich vielleicht etwas übersehen habe. In den alten überlieferten Schriften verbirgt sich vieles hinter der Oberfläche, das nicht leicht zu deuten ist. Außerdem ist einiges in einer Sprache verfasst, die ich nicht entziffern konnte. Ich vermute, es handelt sich dabei um eine Art künstlicher Geheimschrift, deren Schlüssel ich nicht kenne. Und da sich seit Jahrzehnten niemand um diese Schriften kümmert, weil ihre angeblichen Lehren Bestandteile unseres Zusammenlebens geworden sind, ist dieser Schlüssel wohl für immer verloren gegangen. Nur eines geht ganz sicher daraus hervor: früher haben Angehörige unseres Stammes wie auch anderer Stämme regelmäßig Ausflüge zum Orakel unternommen, um es um Rat zu bitten. Ich frage mich, warum dann die Position nicht genauer angegeben ist, da sie doch kein Geheimnis war. Es ist auch kein Grund angegeben, weshalb das Orakel seit ungefähr einem Jahrhundert dann plötzlich nicht mehr befragt wurde.«

      »Vielleicht war eine Positionsangabe unwichtig, weil alle wussten, wo das Orakel zu finden war.«

      »Nein, nein. Andere Orte sind auch genau beschrieben, obwohl der ganze Stamm sie kennt.«

      »Hast du denn nicht die Alten gefragt? Sie müssten sich doch noch daran erinnern .«

      »Eben nicht. Das ist ja so merkwürdig daran. Einige von ihnen waren noch selbst dort gewesen und konnten weder eine Ortsbeschreibung geben, noch wussten sie, was das Orakel darstellt und was sie dort erlebt haben. Sie waren mir gegenüber recht kurz angebunden, als wollten sie keine unliebsamen Erinnerungen hervorholen. Ich vermute sogar, dass dort Dinge geschehen sind, die sie erschreckt


Скачать книгу