Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt. Frank Westermann

Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt - Frank Westermann


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als wenn ihm jemand mit Verständnis und Vernunft gegenübergetreten wäre.

      Wie unsinnig war es, sich an Normen und Regeln zu halten, die keine praktische Bedeutung mehr besaßen. Wenn Farewell nicht in seinen Traditionen und Ritualen ersticken wollte, mussten die Menschen hier ihre Isolation irgendwann durchbrechen. Sie klammerten sich an Sicherheiten, die sie nur behinderten, und diese Starrheit machte sie handlungsunfähig und unflexibel. Doch niemand maß solchen Gedankengängen Bedeutung bei, er stieß auf ein Bollwerk von Misstrauen und Abwehr.

      Nur Arnia versuchte, seinen Entschluss zu begreifen, und allein das ließ ihn noch einmal zögern. Sie war die einzige Person außer Leanda, der er Vertrauen entgegenbrachte, die ihn trotz aller Schwierigkeiten, die das auch für sie erbrachte, immer begleitet hatte. Angesichts ihres Verhaltens fiel es ihm schwer, sich ihre ewigen kleinen Streits und Missverständnisse, die Zweifel an ihrer gegenseitigen Liebe zu vergegenwärtigen. Mit Gewalt hielt er seine Gefühle zurück, zwang seinen Kopf, die Oberhand zu behalten. Er wusste, dass er richtig handelte, aber die Anstrengung ließ ihn fast verzweifeln. Er redete sich ein, er würde zurückkehren, obwohl er sich nicht einmal dessen sicher war. Natürlich waren sie oft unterschiedlicher Meinung, ihre Ansichten über das Leben in Farewell und ihre Zukunft gingen weit auseinander, doch auf der anderen Seite hatte das ihre Gefühle füreinander nicht entscheidend beeinträchtigt.

      Auch der Abschied von Leanda machte ihm zu schaffen, und er merkte der Frau an, dass er ihr ähnlich ging, obwohl sie ihn noch einmal zu seinem Aufbruch ermutigte.

      Niemand beachtete ihn, als er zum letzten Mal durch Farewell ritt, und als er das Tal hinter sich gelassen hatte, schössen ihm die Tränen in die Augen und ein heftiger Schmerz zuckte durch seine Eingeweide. Er trieb sein Pferd an und dachte an das, was ihm bevorstand, aber Arnias Gesicht drang immer wieder an die Oberfläche, und so überließ er sich schließlich seinem Schmerz.

      ****

      Hier am Frühstückstisch des Gasthauses ließ ihn die Erinnerung heftig schlucken, der Schmerz war noch nicht überwunden. Er hatte zwar an Selbstvertrauen gewonnen, nachdem er festgestellt hatte, dass er auch ohne jede Erfahrung in anderen Gemeinschaften immerhin so gut zurecht kam, dass sich seine Angst vor dem Fremden stark reduzierte. Aber die Einsamkeit hatte sich hinzugefügt, und er konnte sich an keinen Ort flüchten, der ihm Geborgenheit versprach. Er hatte gelernt, dass es gut tat, seinen Tränen freien Lauf zu lassen, ein weiterer Verstoß gegen das Disziplin-Gebot der Gilde, das er ohne Bedenken über den Haufen warf.

      Nachdem Leandas telepathischer Kontakt nach einem Tag abgebrochen war, weil die Entfernung zu groß wurde, waren ihm öfter Zweifel an dem Sinn seines Auftrages gekommen. Von einer Gefahr jedenfalls hatte er nichts bemerkt. Allerdings konnte er auch dem Phänomen des Abbrechens von Funkverbindungen nicht weiter auf die Spur kommen, da keiner der Orte, die er durchquert hatte, mit diesem Kommunikationsmittel ausgestattet war.

      Umso gespannter wartete er auf den Bericht des Gesandten aus den matrilinen Dorfgemeinschaften. Heute war der letzte der beiden verabredeten Tage, und er hoffte, nicht allzu lange hier wartend herumsitzen zu müssen. Er war sich inzwischen nicht mehr sicher, was er sich mehr wünschte: so schnell wie möglich nach Farewell zurückzukehren oder seinen Weg fortzusetzen. Beide Alternativen beunruhigten ihn, er hatte sich noch nie so unwohl in seiner Haut gefühlt. Dank seiner Sondierungsfähigkeit konnte er den Gesandten sofort ausfindig machen, sobald dieser das Gasthaus betrat. Und ganz allein von dessen Bericht hing das weitere Vorgehen ab. Er genehmigte sich noch eine Scheibe des körnigen Schwarzbrotes, das in ähnlicher Art auch in Farewell gebacken wurde. Die Zutaten allerdings waren ihm weitgehend unbekannt, er identifizierte lediglich zwei Sorten Marmelade. Doch alles war wohlschmeckend und bekömmlich, was auf seiner Reise nicht immer der Fall gewesen war.

      Der große Raum hatte sich inzwischen zur Hälfte gefüllt, hauptsächlich mit Händlern und Gewerbetreibenden aus der nächsten Umgebung, die das Gasthaus anscheinend als Treffpunkt ansahen, an dem die neuesten Gerüchte und Meldungen ausgetauscht werden konnten. So war Zardioc gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf die Ankömmlinge zu richten , aber auch das wurde zur Routine und allmählich wurde er unruhig.

      Seine Gedanken schweiften ab, und er fragte sich, was er tun sollte, wenn kein Abgesandter der Dorfgemeinschaften erscheinen würde. Sollte er weiterreiten bis in eine der Städte, zu denen die Funkverbindung abgerissen war? Würde er sich dort überhaupt nicht zurechtfinden? Irgendwo mussten sich schließlich Anhaltspunkte für die ungewisse Gefahr finden lassen, aber konnte er als einzelner etwas aufspüren, von dem er nicht wusste, um was es sich handelte? Er scheute auch davor zurück, sich hier an einen anderen Tisch unter Fremde zu begeben und auf diese Weise vielleicht etwas herauszubekommen. Er hielt sich nicht gern in Menschengruppen auf, auch in Farewell war er solchen Ansammlungen aus dem Weg gegangen. Feste und andere Zusammenkünfte hatten ihn eher abgeschreckt. Gerade in seinen Kontaktschwierigkeiten mit Unbekannten merkte er, wie schwer es ihm fiel, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen und wie wichtig für ihn der Schutz einer vertrauten Umgebung gewesen war. Die Stunden verrannen, Gäste kamen und gingen und seine Stimmung gestaltete sich immer trübsinniger. Er bestellte ein Bier nach dem anderen, aber das vertiefte nur seine Melancholie. Am Nachmittag war er kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig, das Warten zermürbte ihn.

      Als die schwere Tür hinter einem weiteren Neuankömmling ins Schloss fiel, hob er nur noch automatisch den Kopf, doch diesmal stieß seine Sondierung auf Übereinstimmung.

      Augenblicklich war er wie elektrisiert und schüttelte die Benommenheit von sich ab. Die Frau, die in der Tür stand, schickte einen musternden Blick durch den Raum. Zardioc schalt sich einen Narren, dass er angenommen hatte, er würde einem Mann begegnen. Die Möglichkeit, eine Frau zu treffen, hatte er gar nicht in Betracht gezogen, obwohl seine Gesprächspartnerinnen aus den matrilinen Dorfgemeinschaften immer Frauen gewesen waren. Das patriarchale System Farewells saß tiefer, als er es für möglich gehalten hatte. Handfeste Schwierigkeiten waren abzusehen.

      Die Frau war hochgewachsen und schlank, er schätzte ihr Alter auf ungefähr 30 Jahre. Ihr feines Gesicht mit den hervorstechenden grünen Augen zeigte einen Anflug von Abgespanntheit und Müdigkeit, die kurzen silbergrauen Haare mit den schwarzen Strähnen standen wirr von ihrem Kopf ab. Sie trug rötliche Lederkleidung, die ihre Figur betonte, und auf der das Doppelaxt-Symbol, das Zeichen aller matriarchalen und matrilinen Gemeinschaften deutlich erkennbar war. An ihrem Gürtel hing eine langläufige Techno-Waffe.

      Zielstrebig ging sie auf Zardiocs Tisch zu, schließlich war er nach einer Beschreibung nicht zu übersehen. Der Kartenmagier schluckte und seine Hände umklammerten krampfhaft das Bierglas.

      »Du bist Zardioc, nicht wahr?« begrüßte sie ihn und setzte sich ihm gegenüber.

      Er nickte.

      »Ich heiße Sikrit. Firlin schickt mich. Du musst mein spätes Ankommen entschuldigen, aber ich wurde aufgehalten. Ich bin geritten, so schnell es ging.«

      »Natürlich,« murmelte er und musste seine Augen abwenden. Ihr Anblick verwirrte ihn ungeheuer.

      Sikrit winkte dem Wirt und bestellte etwas zu essen für sich und ein Zimmer für die Nacht.

      »Ich bin richtig ausgehungert und habe kaum geschlafen, weil ich fürchtete den verabredeten Zeitpunkt zu verpassen.«

      Kurz darauf brachte der Wirt das Gewünschte sowie einen Zimmerschlüssel. Sikrit aß mit großem Appetit, und Zardiocs Aufgeregtheit legte sich langsam. Je ruhiger er wurde, desto mehr spürte er die Ausstrahlung Sikrits: viel Stärke und Selbstbewusstheit, aber auch Wut und Traurigkeit. Als er genauer hinsah, erkannte er Flecke auf ihrer Kleidung und Verletzungen in ihrem Gesicht.

      »Was ist dir zugestoßen?« fragte er unbehaglich.

      »Ein Hinterhalt, gleich als ich die Grenze zu einem der Magischen Gebiete überschritten hatte. Ich war zwar vorsichtig, habe aber nicht damit gerechnet, weil ich nichts gegen die Menschen dort im Schilde führte. Ich weiß nicht, worauf sie es abgesehen hatten. Es war gespenstisch.«

      Die Erinnerung ließ sie zusammenzucken.

      »Ich kämpfte gegen Unsichtbare ... gegen Schatten und Geräusche. Sie haben mich ziemlich


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