Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt. Frank Westermann

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dir persönlich nicht sagen, der alten Schnüfflerin.«

      Yara sah sie traurig an. Ja, sie wusste wohl, dass sie hinter vorgehaltener Hand so bezeichnet wurde. Seit einigen Monaten schien niemand im Stamm mehr die Aufgaben einer Chronistin für wichtig zu halten. Schlimmer noch, es war eine Atmosphäre von Abneigung und Ablehnung ihr gegenüber entstanden, die sie sich logisch nicht erklären konnte. Laura hatte etwas Ähnliches zu spüren bekommen. Hing diese Entwicklung mit ihrer Selbst-Duplizierung zusammen? Doch seit der Zeremonie waren fast sieben Jahre vergangen, und niemand hatte damals großes Aufheben darum gemacht. Außerdem hatte es zwei weitere Selbst-Duplizierungen während dieser Zeit gegeben. Nein, die Gerüchte und geflüsterten Abfälligkeiten hatten erst vor kurzem eingesetzt. Selbst-Duplizierungen waren nicht erwünscht, weil sie angeblich Unruhe in die feste Stammesordnung brachten, doch sie wurden als Teil ihres Lebens geduldet, denn schließlich zeichnete sich ihr Stamm durch diese einzigartige Fähigkeit vor allen anderen aus.

      »Ich habe den Verdacht,« fuhr Yara in ihren Überlegungen fort, »dass die unheilverkündende Ausstrahlung, die uns zum Verlassen des Stammes bewog, mit unserer Ausgrenzung aus dem Stamm zusammenhängt.«

      »Wie kommst du auf diese Idee?«

      »Nun einmal fällt beides zeitlich ziemlich genau zusammen, und dann habe ich den Eindruck, dass der Stamm in den letzten Monaten noch ... lethargischer geworden ist, einen Antrieb zu einer Weiterentwicklung vermisse ich schon seit vielen Jahren.«

      »Damit könntest du recht haben,« stimmte Laura ihr zu. »Ich habe noch die dauernde Litanei in den Ohren, dass wir doch stolz sein können auf das, was der Stamm darstellt und wie weit wir es gebracht haben. Jetzt sei die Zeit des Ausruhens von vergangenen Strapazen gekommen, jetzt könnten wir die Früchte ernten, die wir uns durch lange Entbehrungen verdient hätten ... und was der Sprüche mehr waren.«

      »Gegen ein Ausruhen ist ja nichts einzuwenden, aber wenn es sich dabei um ein zur Ruhe setzen, um ein Stehenbleiben handelt, befinden wir uns in einer Sackgasse. Gebräuche und Gewohnheiten verselbstständigen sich, haben zwar keinen Sinn mehr, bilden aber insgesamt einen festgefügten Alltag, der eine trügerische Sicherheit bietet. Und jegliche Neugier und Kreativität wird dann zu einer Gefahr für diese Sicherheit.«

      »Stimmt genau. So wie unser Verhalten den Männern gegenüber, das nur durch Traditionen und überkommenen Regeln gerechtfertigt wird.«

      Yara musste lachen. »Nun bist du doch wieder auf dein Lieblingsthema gekommen, nur um meinen Redefluss zu stoppen.«

      »Nicht nur, es ist ...«

      In diesem Moment begann Fiora nach ihrer Mutter zu rufen. Yara ging zu ihr hinüber.

      »Lange hast du ja nicht geschlafen. Willst du dich nicht wieder hinlegen?« Das Kind schüttelte energisch den blonden Lockenkopf. »Ich bin nicht mehr müde.«

      »Na schön. Meinst du, dass du weiterreiten kannst? Laura hat ganz in der Nähe einen gemütlichen Rastplatz gefunden. Sogar eine Wasserstelle gibt es dort.«

      Fiora antwortete nicht gleich. Sie hatte ihre blauen Augen auf einen Punkt hinter Yara gerichtet, den sie geistesabwesend fixierte. Nach einer Weile stand sie auf und sagte:

      »Ich möchte weiterreiten.«

      Yara sah sie leicht amüsiert an und nahm sie in die Arme. Sie war solche Momente von ihrer Tochter gewohnt, diese entrückten Sekunden schienen eine besondere Wichtigkeit für sie zu haben. Neugierig hatte Yara sie einmal gefragt, was dabei in ihr vorging, aber das Kind hatte sie nur erstaunt angesehen und nicht verstanden, was sie meinte. Yara verzichtete auf weitere Nachforschungen und rechnete das Phänomen den anderen ungelösten Rätsel der Kindheit hinzu.

      Wie immer nach solchen Augenblicken wirkte Fiora auch diesmal sehr klar und bestimmt. Als gäbe es keine Nachwirkungen des Schlafes, machte sie sich von Yara los und ging zielstrebig auf eines der Pferde zu.

      »Kann ich mal wieder auf dem Schwarzen reiten?«

      »Sicher, Fiora, erwiderte Laura. »Aber lieber erst morgen, sonst müssen wir für den kurzen Weg bis zu dem Rastplatz noch alles umpacken.«

      Fiora nickte, näherte sich dem braunen Pferd und streichelte dessen gesenkten Kopf. Laura packte Decke und Wasserflasche zusammen, dann hob sie Fiora vor Yara auf das Pferd.

      »Auf geht's, das letzte Stück für heute.«

      »Müssen wir noch viele Tage reiten?« fragte Fiora, als sie wieder unterwegs waren.

      Ich weiß es nicht,« antwortete ihre Mutter. »Wir wissen nicht, wo der Ort ist, zu dem wir wollen.«

      »Warum ist er dann so weit weg?«

      Laura, die jetzt neben den beiden ritt, sah sie überrascht an.

      »Du hast recht, es könnte auch ganz nahe sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast manchmal merkwürdige Einfälle.«

      Doch Fiora schien schon vergessen zu haben, um was es ging. Ihre Gedanken wanderten schon ganz woandershin, und den Rest des Weges erzählte sie von Erlebnissen mit anderen Kindern des Stammes, wobei Yara schmerzlich bewusst wurde, wie sehr ihrer Tochter diese Kinder fehlten. Die Trennung von dem Stamm, wenn es auch nur eine vorübergehende war, hinterließ bei Fiora vielleicht drastischere Auswirkungen als für sie. Doch das Kind hatte schon wieder das Thema gewechselt und sprach nun von ganzen Bergen von Spielsachen, eine Phantasie, die es in den letzten Tagen des Öfteren ausgeschmückt hatte. Yara hielt es für eine Kompensation des Verlustes ihrer Freundinnen und Freunde, wunderte sich allerdings über die Detailgenauigkeit von Fioras Schilderung. Fiora musste einiges aus irgendwelchen Erzählungen aufgeschnappt haben, denn manche der von ihr beschriebenen Spielsachen gab es in ihrem Stamm gar nicht.

      Laura hatte nicht übertrieben. Der Ritt dauerte in der Tat nicht lange, und schon am frühen Nachmittag erreichten sie die von ihr entdeckte Stelle.

      »Seht ihr, wie eine Oase!« rief Laura schon aus, als in der Ferne die ersten Bäume zu erkennen waren.

      Yara schmunzelte angesichts dieser Übertreibung. Denn als sie näherkamen, entpuppte sich die »Oase« als eine Ansammlung niedriger Bäumchen mit einer Art Tümpel in der Mitte. Trotzdem grenzte es fast an ein Wunder, in dieser öden Gegend auf solch einen Ort zu treffen.

      Zumindest Fiora war ebenso begeistert wie Laura. Nachdem Yara untersucht hatte, ob die Wasserstelle irgendwelche Gefahren barg, zog sich das Kind aus und stürzte sich lachend vor Freude in das kühle Nass.

      »Geh nicht zu weit hinein, dort wird es tiefer,« warnte ihre Mutter sie. »Ich kann ja schwimmen!« rief Fiora zurück. »Guck mal, hier sind Fische!«

      »Na, die ist erst einmal beschäftigt,« meinte Laura augenzwinkernd. »Du hast wirklich ein schönes Kind.«

      Yara wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Es kam selten vor, dass Laura Komplimente vergab und noch seltener gerade an sie. Es machte sie etwas verlegen.

      Die beiden Frauen sattelten die Pferde ab und führten sie zur Tränke.

      Auch die Wasserflaschen wurden nachgefüllt. Dann begannen sie damit, ein gemütliches Lager aus Decken und Schlafsäcken zu bereiten.

      »Jetzt können wir uns einmal richtig ausruhen,« atmete Yara auf. »Genau das habe ich nach den anstrengenden Tagen nötig. Und für Fiora ist es auch gut.«

      Laura brummte nur dazu und drehte sich auf die andere Seite. Sie hatte sich gleich auf ihrer Decke ausgestreckt und war schon halb eingeschlafen.

      Wie friedlich die Wächterin jetzt aussieht, ging es Yara durch den Kopf. Und wie verschieden wir doch voneinander sind - innerlich wie äußerlich. Es ist kaum zu glauben, dass wir einmal aus der gleichen Person hervorgegangen sind.

      In Augenblicken wie diesem versuchte sie, die Motive nachzuvollziehen, die ihre Ursprungs-Person Larya dazu getrieben hatten, ihre Selbst-Duplizierung vorzunehmen. Natürlich waren ihr die Gründe bekannt, schließlich besaß sie - ebenso wie Laura - alle Erinnerungen Laryas. Doch der Gedanke von zwei Seelen in einem Körper war nur ein hohler Begriff


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