Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt. Frank Westermann

Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt - Frank Westermann


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gegen den Einfluss, der sie nach unten zog, aber je mehr er kämpfte, desto stärker schien die Kraft zu werden.

      Sikrit selbst war hilflos bei diesem Kampf. Sie sah den Schaum vor Khanurs Nüstern in großen Flocken wie durch ein Vergrößerungsglas davonfliegen. Die Farbe des Himmels um sie herum hatte sich verändert. Aus dem dunklen Blau war ein verwaschenes Grau geworden, von schwefelgelben Adern durchzogen. Die Perspektive hatte sich auf unheimliche Weise verzerrt: der Erdboden schien direkt vor ihren Augen zu liegen, während ihre Arme sich kilometerweit entfernt um Khanurs Hals schlangen, als ob sie nicht mehr zu ihrem Körper gehörten. Dazu erklang ein schrilles Heulen, das ihre Ohren marterte und beständig anwuchs.

      Mein gesamter Wahrnehmungsbereich wird angegriffen, dachte sie erstaunlich klar. Ich darf mich davon nicht überwältigen lassen. Bloß nicht das Gleichgewicht verlieren!

      Zumindest die Augen konnte sie schließen und versuchen, sich auf ihr inneres Kräftereservoir zu konzentrieren. Die Übung war schwierig unter diesen Umständen, aber sie bekam einen Zipfel der Energie zu fassen, die ihr sonst ungehindert zur Verfügung stand.

      »Trugbilder, Illusionen!« schrie sie ihre Wut heraus und öffnete ihre Augen wieder. Mit solchen Tricks werdet ihr mich nicht hereinlegen!«

      Khanur landete mühsam. Mit zitternden Beinen stand er in der Nähe zweier riesiger Bäume, die sich wie Ungetüme aus der flachen Landschaft erhoben. Sikrit stellte erleichtert fest, dass die Perspektivverschiebungen aufgehört hatten. Auch das erbarmungswürdige Heulen war abgeklungen. Nur der Himmel drohte weiter in düsteren Farben und das Gras und die Bäume besaßen eine fremdartige, bläuliche Kolorierung.

      Sie stieg von Khanurs Rücken und zog die Thermowaffe, um sich und das Pferd gegen weitere Angriffe zu verteidigen. Mit beiden Beinen auf der Erde und einem kräftigen Baumstamm im Rücken fühlte sie sich wesentlich wohler als zuvor. Sie konnte ungehindert bis zum Horizont blicken, entdeckte aber kein Lebewesen. Die eingekehrte Stille wirkte fast bedrohlicher als die unheimlichen Geräusche, selbst der Wind schien eine Pause eingelegt zu haben.

      Obwohl Sikrit um das Trügerische der Situation wusste, kam der Überfall völlig überraschend.

      Von allen Seiten prasselten Schläge und Tritte auf sie ein und zwangen sie auf die Knie. Nach wie vor war kein Mensch zu sehen, doch das war nur eine weitere Illusion aus der Trickkiste der Angreifer. Mit einem Schmerzensschrei sprang Sikrit zurück in ihre Verteidigungsstellung. Ihr Finger krümmte sich um den Abzug der Thermowaffe, doch die Energieblitze wurden einige Meter vor ihr von unsichtbaren Hindernissen verschluckt. Obwohl sie ihre Gegner nicht erkennen konnte, hatte sie den Eindruck, dass ihre Schüsse irgend- welche Ziele trafen, denn sie vernahm stöhnende und angstvolle Laute und ein klägliches Wimmern.

      Der vermeintliche Erfolg gab ihr neuen Mut. Ihr Körper handelte jetzt automatisch nach einem eingeübten Schema. Sie schwang die Pistole in einem Halbkreis, die Attacken auf sie ließen nach.

      Es schien, als hätten die Angreifer nicht mit Widerstand gerechnet, aber sie war sich darüber im Klaren, dass sie sich auf Dauer in einer besseren Position befanden. Ihre Unsichtbarkeit schützte sie, und sobald sie ihre plumpe Taktik änderten, hatte sie kaum eine Chance gegen die Übermacht. Sie konnte froh sein, dass die Angreifer bisher auf Waffen verzichtet hatten - auch das konnte sich schnell ändern.

      Der einzige Ausweg bestand in der Flucht, Khanur stand nur wenige Schritte von ihr entfernt. Er war bisher nicht belästigt worden und wirkte verwirrt, aber einigermaßen erholt. Ein kurzer Galopp bis hinter die Grenze in bekanntes Gebiet musste ausreichen. Sikrit schöpfte neue Hoffnung.

       2. Kapitel: Die Gesandten (II)

      Der Regen stürzte seit Stunden mit erbarmungsloser Monotonie vom nachtdunklen Himmel. Eine dichte Wolkendecke verbarg Mond und Sterne, so dass die Konturen der Landschaft nicht zu erkennen waren.

      Die Hufschlage des Pferdes, das in leichtem Trab zwischen den Bäumen hervorkam ertranken in dem steten Rauschen. Sein Reiter stieß einen erleichterten Laut aus, als er schließlich gewahr wurde, dass der Wald hier ein Ende nahm. Er wischte sich in einer mechanischen Handbewegung die Nässe aus dem Gesicht und hielt das Pferd kurz an, um sich zu orientieren. Es dauerte eine Weile, bis er in der Ferne endlich das schimmernde Licht von erleuchteten Fenstern entdeckte. Das Gasthaus. Es musste das Gasthaus sein. Er seufzte erneut vor Erleichterung.

      Die letzte Etappe war die anstrengendste gewesen. Der Regen hatte ihn überrascht, nachdem er die Ansiedlung weit hinter sich gelassen hatte, und es war ihm keine andere Wahl geblieben, als den Ritt bis zum Gasthaus fortzusetzen. Außerdem wollte er rechtzeitig ankommen. Das Plätschern des Regens hatte ihn schläfrig gemacht, trotzdem musste er sich besonders in dem Waldstück auf den Weg konzentrieren und jetzt war er erschöpft und ausgepumpt .

      Der Reiter gab dem Pferd einen aufmunternden Klaps, der es zu einer schnelleren Gangart veranlasste. Auf dem restlichen Wegstück würde er so besser vorankommen, obwohl er vorsichtig blieb, denn die Straße hatte sich inzwischen in ein Gemisch aus Matsch und losem Geröll aufgelöst und ihre Begrenzungen waren in der Dunkelheit kaum erkennbar.

      Langsam freundete er sich mit dem Gedanken an, dass er in Kürze eine warme Mahlzeit sowie ein Zimmer mit Ofen und Bett erhalten würde. In den letzten Stunden hatten seine Gedanken nur dem Zweck gegolten, den Weg nicht zu verfehlen und sein Pferd nicht stürzen zu lassen.

      Welcher vernünftige Mensch war bei so einem Unwetter auch unterwegs?

      Doch sein Ehrgeiz, den ersten Stichtag nicht zu verpassen, hatte ihm angetrieben. Er wollte endlich wissen, wofür er diese Strapazen auf sich genommen hatte, die Welt außerhalb seiner Heimat hatte ihn verunsichert und allzu heftig aus gewohnten Bahnen gerissen.

      Nun sah es so aus, als hätte er es geschafft, aber es war mitten in der Nacht und er war bis auf die Haut durchnässt.

      »Ich werde mir zumindest eine Erkältung holen,« brummte er frierend vor sich hin, während das Gasthaus langsam in erreichbare Nähe rückte. »Da werden mir auch Leandas Kräuter nicht helfen.«

      Gegen die Gewalten der Natur versagten eben auch die üblichen Schutzzauber .

      Er nickte zufrieden, als er die Beschriftung über der matt erleuchteten Tür des Gasthauses las. Er brauchte immer diese letzte Bestätigung dafür, dass er nichts falsch gemacht hatte.

      Als er vom Pferd stieg, wäre er fast auf dem schlüpfrigen Boden ausgerutscht, wenn er sich nicht noch an die Mähne des Tieres geklammert hätte. Das Pferd drehte den Kopf und schaute ihn verwundert an, als begriffe es nicht, und der Mann musste lächeln. Doch gleich darauf überzog sich sein Gesicht wieder mit jenem mürrischen Ausdruck, mit dem er seit Tagen seine Umgebung abschreckte. In dem Licht der Laterne über dem Eingang schälten sich die Konturen von Pferd und Reiter nun deutlicher heraus.

      Der Mann war sehr groß und hager und ganz in Schwarz gekleidet: schwarze Stiefel, schwarze Hosen und einen schwarzen Umhang. Auch seine Hautfarbe war ein tiefes Schwarz, das verschlossene Gesicht wirkte kantig, verriet aber in seiner Unfertigkeit das junge Alter.

      Er schnallte die Satteltasche ab, dann nahm den breitkrempigen Hut vom Kopf, schüttelte das Regenwasser von ihm ab und stieg die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf. Sein Pferd, eine kräftige, schwarze Stute, blieb gehorsam an ihrem Platz stehen.

      Die Tür führte direkt in die hell erleuchtete Gaststube. Zu dieser Stunde hielten sich nur noch wenige Gäste darin auf, die alle um einen klobigen runden Tisch gruppiert saßen und einen ziemlich betrunkenen Eindruck erweckten.

      Wahrscheinlich irgendeine Handelsgruppe, dachte der Ankömmling und ließ seinen Blick schnell über die Gesichter streifen. Es handelte sich ausnahmslos um Menschen, und der Bote befand sich mit Gewissheit nicht unter ihnen. Er empfing kein entsprechendes Signal. Einige von ihnen sahen ihn staunend an. Wahrscheinlich waren sie nicht an seine Hautfarbe gewöhnt. Wie oft hatten ihn die Menschen in Farewell, die ihn aus irgendeinem Grund nicht leiden konnten, hinter vorgehaltener Grund »Schwarzer« oder »den Schwarzen« genannt. Denn selbst in seinem Heimatort, in dem der weitaus überwiegende Teil der Bewohner


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