Was bildet ihr uns ein?. Группа авторов
nicht nur ein Übersetzungsfehler, sondern stellt tatsächlich eine inhaltliche Veränderung der Konvention dar.
Anfang der 1990er-Jahre wurde auf einer Konferenz der UNESCO erstmals bewusst das Wort „inclusion“ statt „integration“ verwendet.51 Damit wurde das Schulkonzept der Inklusion ins Zentrum gerückt. Diese entwickelte sich zwar aus dem pädagogischen Konzept der Integration, der entscheidende Unterschied ist aber die Grundeinstellung: dass jeder Mensch einzigartig ist und individuelle Bedürfnisse hat. Durch die Integration in eine Gruppe hingegen, wie es das deutsche Gesetz vorschreibt, wird lediglich eine Gruppe in eine andere Gruppe eingegliedert – also in diesem Fall die Personen mit Beeinträchtigungen in die der „normal“ Lernenden. Es gibt also ein bestehendes System, in das die Personen, die vormals nicht zu diesem System gehörten, integriert werden. Die Einstellung verändert sich also nicht; stattdessen werden zur Integration Schulbegleiter eingesetzt, die die Lernenden den ganzen Tag oder zumindest abschnittsweise in der „normalen“ Schule begleiten. Ein inklusives System zu schaffen, würde hingegen bedeuten, Schule und andere Bildungseinrichtungen vollkommen neu zu denken. Dabei müsste man von vornherein davon ausgehen, dass alle Menschen in diesem System ihren Platz haben. Anders gesagt: Es gebe dann barrierefreie Schulen – und damit sind nicht nur die Gebäude gemeint: In diesem Konzept müssten unterschiedlich qualifizierte Menschen gemeinsam arbeiten, damit allen Schülern die für sie bestmögliche Entwicklung ermöglicht wird. Also bedürfte es eines anderen pädagogischen Teams in der Schule. Entsprechend müsste das Thema Inklusion zu einem festen Bestandteil des Lehramtsstudiums werden. Wichtig dabei wäre auch, dass methodisch-didaktisch eine andere Unterrichtsform stattfindet: Der Frontalunterricht, in dem alle Kinder an der gleichen Aufgabe mit dem gleichen Schwierigkeitsgrad arbeiten, ist für eine inklusive Schule nicht geeignet. Es muss vielmehr auf die Bedürfnisse der einzelnen Schüler eingegangen und im Hinblick auf Schwierigkeit und Geschwindigkeit innerhalb einer Schulklasse differenziert werden. Nicht die Schüler müssen sich der Schule anpassen, sondern die Schule muss sich nach ihren Bedürfnissen richten und sich auf sie einstellen.
Die Übersetzung von Inklusion durch Integration zeigt jedoch, dass man in Deutschland nicht bereit ist, Vielfalt als etwas Selbstverständliches und Bereicherndes zu begreifen und Menschen nicht in Gruppen einzuteilen. Stattdessen schafft man sich mit der ungenauen Übersetzung eine Hintertür, um öffentlich sein Gesicht zu wahren – denn schließlich will man auch nicht das Land sein, das solch eine Konvention nicht unterschrieben hat.
Solange wir also noch Menschen mit Beeinträchtigungen als die „Anderen“, die „Hilfsbedürftigen“ sehen und davon ausgehen, dass diese Menschen grundsätzlich anders sind als der Rest der Gesellschaft, wird sich an den Organisationsformen von Schule und Bildung und damit auch in der Gesellschaft nichts ändern. Da hilft auch nicht der Artikel 8 der UN-Konvention52, der mit dem Titel „Bewusstseinsbildung“ überschrieben ist und die Verpflichtung der Staaten beschreibt, Vorurteile, Klischees und Stereotypen in der Gesellschaft abzubauen und durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen für die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit zu werben.
Mit der jetzigen Einstellung in Deutschland, dass beeinträchtigte Menschen in erster Linie Hilfe und Pflege bedürfen, verfestigt Deutschland die Vorurteile, die sich so in der Gesellschaft halten können.
Nur die Integration von Menschen mit Beeinträchtigung in Schulen zu fordern, reicht also nicht aus. Wir brauchen einen neuen, einen veränderten Leistungsbegriff, der individuelle Leistungen und Fähigkeiten anerkennt und nicht nur auf dem Vergleich mit anderen Menschen aufbaut, und eine daraus resultierende andere Lern- und Bildungskultur.
Denn bei Inklusion geht es um mehr als nur die Möglichkeit, eine Regelschule zu besuchen. Es ist die positive Haltung einer Gesellschaft gegenüber Vielfalt und Unterschiedlichkeit.
Gerade durch die UN-Konvention bietet sich die Gelegenheit, ein Schul- und Bildungssystem mit einer solchen Grundlage auch in Deutschland endlich durchzusetzen. Es sind bereits fünf Jahre seit der Konvention vergangen – wir sollten nicht noch mehr Zeit verstreichen lassen und endlich begreifen, dass wir alle anders sind.
Wenn der Migrationshintergrund zum Vordergrund wird
Özlem Ipiv, Elisabeth Leuthardt und Susanne Julia Czaja
Voller Vorfreude und Erwartung ist die Drittklässlerin – denn heute ist Karneval. Bis spät in den Abend hatte sie ihrer Mutter haarklein erklärt, wie das Kostüm aussehen soll. Und bis in die Nacht hatte die Mutter daran genäht. Nun ist es fertig und das kleine Mädchen gespannt, wie ihre Klassenkameraden darauf reagieren werden. Mit ihrem roten langen Rock, der weißen Schürze, der roten Kopfbedeckung und dem üppig gefüllten Korb läuft sie zur Schule. Sie betritt den Klassenraum und begrüßt zunächst mit strahlenden Augen ihre Klassenlehrerin. „Ach!“, sagt die Lehrerin, „Lass mich raten! Du bist heute ein polnisches Trachten-Mädchen, ja?“. Der Satz lässt ihre Freude in Wut und Trauer umschlagen: „Nein“, rief das Mädchen mit tränengefüllten Augen und dreht sich um. Sie wollte doch einfach nur Rotkäppchen sein.
Sie sind in Deutschland geboren, haben einen deutschen Pass und doch schmückt sie ein Wort, das sie von anderen Jugendlichen unterscheidet: der Migrationshintergrund. Es ist ein Anhängsel, durch das deutlich wird, dass zumindest ein Elternteil oder die Großeltern nicht in Deutschland geboren sind. Das trifft auf etwa jeden fünften Schüler zu, und schon längst müsste die Worterfindung Migrationsvordergrund heißen. Denn ihre vermeintliche Herkunft ist nichts, was sich in ihrem Schulalltag verbirgt. Sie steht im Zentrum, und nicht selten werden die Jugendlichen aufgrund derselben bewertet. Oft werden sie mit Bildern wie Schulabbrecher, Schulschwänzer, Sitzenbleiber und Hauptschüler assoziiert – im besten Fall noch mit dem Realschüler. Ein Schüler mit Migrationshintergrund auf einem Gymnasium gilt als vielgesuchte Ausnahme.53
So werden sie als Verlierer des deutschen Bildungssystems gesehen, wobei selbst das fast schon eine positive Bezeichnung ist. Denn verlieren kann bekanntlich nur, wer um etwas kämpft und selbst das wird ihnen abgesprochen.
Ins Abseits gedrängt
Die PISA-Studie hat zumindest die politische Debatte über Jugendliche mit Migrationshintergrund verändert. Denn bis zur Veröffentlichung dieser Ergebnisse gab es kaum Zahlen über diese Schülergruppe. Sie wurde schlicht nicht explizit erfasst. Nichtsdestotrotz herrschte aber die gängige Meinung, die Ursache für ihr schlechtes Abschneiden wäre bei ihnen selbst zu suchen, zumal ihr familiärer und kultureller Hintergrund den Ansprüchen der hiesigen Bildungslandschaft nicht entspreche. Man war gar der Auffassung, dass ihr Hintergrund sie an ihrem Bildungserfolg hemmen würde, denn ihre Herkunftskultur und ihrer Muttersprache galten als rückständig. Selbst wissenschaftliche Erklärungen, die die unterschiedlichen Bildungserfolge von einheimischen Kindern und Kindern mit Migrationshintergrund untersuchten, stützten sich lange Jahre auf diese Erklärungsversuche. Und so waren die Schüler selbst gebrandmarkt und galten schlicht als bildungsunfähig.
Die Ergebnisse der PISA-Studien führten allerdings ein anderes Bild vor Augen: Das deutsche Bildungssystem ist selektiv und fängt schwächere Schüler nicht auf. So ist nicht primär der kulturelle Hintergrund, sondern vielmehr die Schichtzugehörigkeit entscheidend für einen erfolgreichen Bildungsabschluss. Die Schulen sind also nicht in der Lage, Kinder aus sozial schwächeren Familien entsprechend zu fördern und sie zu einem erfolgreichen Schulabschluss zu begleiten. Zudem verdeutlichte der internationale Vergleich, dass in keinem anderen Land die soziale Schichtzugehörigkeit so eng mit dem Bildungserfolg verknüpft ist wie in Deutschland. Und Schüler mit Migrationshintergrund sind der PISA-Studie zufolge am stärksten von diesen Selektionsprozessen betroffen, denn ihre Leistungen weichen im OECD-Vergleich deutlich von Schülern ohne Migrationshintergrund ab.
Die Sozialisation der Jugendlichen wirkt sich dementsprechend direkt auf den