Was bildet ihr uns ein?. Группа авторов

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      Die Erziehungswissenschaftler Mechthild Gomolla und Frank-Olaf Radtke zeigen mit ihren Studien zusätzlich auf, dass die Schulstrukturen in Deutschland Schüler mit Migrationshintergrund sogar aktiv ins Abseits drängen. Dies zeigt sich bereits beim ersten Übergang vom Kindergarten in die Grundschule: Von den etwa 11 Prozent, die in Deutschland vor dem ersten Schulbesuch um ein Jahr zurückgestellt werden, machen den größten Teil Kinder mit Migrationshintergrund aus. Sie bekommen also öfter als deutsche Kinder eine sogenannte „Schulunreife“ attestiert.54 Insbesondere Schulen ohne separate Auffang- oder Förderklassen für Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen greifen auf diese Maßnahme zurück. Mangelnde Deutschkenntnisse dienen hier als Signal für mögliche Probleme, die das Kind haben könnte. Eine der von den Bildungsforschern Gomolla und Ratcke interviewten Schulleiterinnen kommentierte diese Praxis mit der Aussage: „Mangelnde Sprachkenntnisse gehen oft Hand in Hand mit anderen Schwierigkeiten, die das Kind noch hat.“55

      Die Entscheidung, ein Kind einzuschulen oder zunächst in einen Schulkindergarten zu schicken, wird also aufgrund von Vermutungen entschieden. Die Verantwortlichen bedienen sich öffentlicher Vorurteilen und negativer Bildern aus den Medien und stellen sich so eine Umwelt vor, die den Kindern optimale Lernbedingungen verwehren. Hinzu kommen noch einzelne Kalküle der Schulen selbst, die aufgrund ihrer verfügbaren Kapazitäten entsprechende Entscheidungen treffen. Das heißt, neben der Selektion aufgrund der zur Verfügung stehenden Plätze für Schüler nach beispielsweise dem Wohnsitz in der jeweiligen Stadt stellen die Schulen ebenfalls interne Quoten für bestimmte Schülergruppen nach kulturellem Hintergrund auf, um keinen „Imageverlust“ zu erleiden oder ihre Attraktivität für „einheimische“ Schüler und Eltern zu verlieren. Für die Schüler bedeutet dies, dass sie bereits in jungen Jahren erfahren müssen, dass sie nicht der Norm entsprechen und – anders als Gleichaltrige – noch nicht „schulreif “ sind. Hierbei verzögert sich nicht einfach nur die Schullaufbahn, sondern es sind die ersten Erfahrungen mit institutioneller Ablehnung. Es scheint kein Zufall zu sein, dass gerade jene Kinder, die diese Form der Zurückweisung erlebt haben, im Verlauf ihrer Bildungskarriere zu den Leistungsschwächeren zählen werden.56 Und offenbar tritt genau das ein, wovor sie bewahrt werden sollten. Es bedarf keiner Statistik, um sich vorzustellen, was für Auswirkungen eine so frühe Erfahrung des „Versagens“ auf das Selbstbild der Kinder haben kann. Wie muss es sich wohl für ein Kind anfühlen, nicht das tun zu können, was die gleichaltrigen Freunde ganz selbstverständlich dürfen. Vor allem: Wie erklärt man den Freunden, warum man trotz Einschulung wieder im Schulkindergarten ist? Die Antworten, die Kinder dann geben müssen, machen Stigmatisierungserfahrungen nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich.

      Doch nicht nur beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule laufen Mädchen und Jungen mit Zuwanderungsgeschichte Gefahr, von einem „regulären“ Schulverlauf abgedrängt zu werden. Auch wehrend der Grundschulphase sind sie deutlich häufiger von Überweisungen auf Förderschulen und dem Sitzenbleiben betroffen. Denn: Sowohl von Schülern mit als auch ohne Migrationshintergrund werden dieselben Leistungen erwartet. Wenn diese zum Zeitpunkt der Versetzungs- oder Übergangsentscheidung nicht bestehen, droht eine Klassenwiederholung oder gar die Überweisung auf die Förderschule. Dabei wird übersehen, dass Schüler mit einer anderen Herkunftssprache nicht nur das schulische Lernziel erreichen, sondern zugleich auch Deutsch als Zweitsprache erlernen müssen. Die Professorin Kerstin Merz-Atalik geht daher davon aus, dass diese Kinder oft sogar die doppelte Leistung erbringen müssen.57

      Ein Trichter mit gefährlich engem Hals

      Schaut man sich auch den Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe an, so wird einmal mehr deutlich, wie selektiv das deutsche Bildungssystem ist. In der Bildungsforschung spricht man von einem „Bildungstrichter“, der mit jedem Bildungsübergang enger wird. Wehrend noch alle Kinder die Grundschule besuchen, wird bereits mit dem Eintritt in die Sekundarschule der Hals des Trichters zunehmend enger und lässt bis zum Studium nur eine Minderheit durch. Doch der Trichter ist nicht für alle Gruppen gleich eng. So besuchen Jugendliche mit Migrationshintergrund Hauptschulen doppelt so häufig wie deutsche Kinder.58 Und schließen daher auch öfter als andere Gleichaltrige mit einem Hauptschulabschluss ab, für 4,4 Prozent endet die Schulkarriere sogar ohne Abschluss.59

      Auf Realschulen und Gymnasien ist diese Schülergruppe kaum anzutreffen.60 Denn die Empfehlung für diese Schultypen erhalten Schüler mit Migrationshintergrund selbst bei guten Noten eher selten. Die Begründung: Perfekte Deutschkenntnisse seien für einen Schulerfolg auf dem Gymnasium unerlässlich und an den Sekundarschulen mangele es an Sprachfördermöglichkeiten.61 Hier geht man bewusst davon aus, dass selbst bei guten Leistungen die Zweisprachigkeit der Schüler bei einem Gymnasialbesuch hinderlich sein werde. Um die Kinder vor diesen „negativen Erfahrungen“ zu „bewahren“, wie Lehrer aus Nordrhein-Westfalen in einer Studie von Gomolla und Radke angaben, werden die Übertrittsempfehlungen seltener ausgestellt als bei deutschen Schülern. Dass dieser Fall selbst dann eintritt, wenn beide Schülergruppen dieselben Noten und die gleiche soziale Herkunft aufweisen, konnten mehrere Studien bereits anschaulich belegen.62 Man nimmt außerdem an, dass die Eltern der Kinder mit Migrationshintergrund nicht in der Lage sind, ihre Kinder entsprechend zu unterstützen, so dass hier Vorurteile die Entscheidungen der Lehrer bestärken. Entscheidungen werden auch strategisch umgangen, indem die Gesamtschule von vorneherein als die Schule für Kinder mit Migrationshintergrund dargestellt wird.

      Es wird also mit zweierlei Maß gemessen. Denn man übersieht systematisch, dass gerade Kinder aus einem anderssprachigen Haushalt wesentlich mehr leisten müssen, um dieselben Noten wie ihre muttersprachlichen Mitschüler zu erlangen. Denn Sachverhalte nicht in der Erstsprache aufzunehmen und darin zu arbeiten, erfordert hohe Anstrengung. Diese hohe Leistungsbereitschaft verwundert dabei nicht, denn Schüler mit Migrationshintergrund weisen, so wissen wir seit PISA, neben einer höheren Lernmotivation auch einen stärkeren Bildungswunsch auf als Nichtmigranten.63 Umso erschreckender ist die Tatsache, dass ihr Bildungsweg von Anfang an einem Wettrennen gleicht, bei dem schon vor Beginn feststeht, wer der Verlierer sein wird.

      Gerade die Forderung nach „perfekten Deutschkenntnissen“ der Gymnasien ist höchst problematisch. Denn was genau versteht man unter „perfekten“ Deutschkenntnissen? Hier besteht die Gefahr, vor allem aufgrund des Migrationshintergrundes auszusieben. Denn wehrend beispielsweise Schülern mit einer Lese-Rechtschreibschwäche „bei angemessener Gesamtleistung“64 der Gymnasialbesuch ermöglicht werden soll, werden – vorhandene oder angenommene – Sprachprobleme bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte als Hindernis betrachtet. Dabei verliert man auch aus dem Blick, dass Rechtschreib- und Grammatikfehler deutschen Schülern ebenso unterlaufen können wie Schülern mit einem Migrationshintergrund. In diesem Fall würde jedoch kaum jemand sprachliche Mängel aufgrund der Herkunft attestieren.

      Eines ist deutlich: Die fehlenden Sprachkenntnisse finden sich als Erklärungsmuster bei allen Übergengen vom Kindergarten bis zum Übergang in die Sekundarstufe I oder II wieder. Obwohl uns PISA eines besseren belehrt hat, werden ungleiche Bildungschancen selbst in der Wissenschaft noch immer als Folge fehlender Sprachkompetenzen von Migranten betrachtet und somit die Ursache vor allem bei ihnen und nicht im System gesucht.65

      Deutschland muss endlich aktiv anfangen, sich als Einwanderungsland zu verstehen, denn das ist es bereits seit Jahrzehnten. So gehört der Umgang mit Mehrsprachigkeit und deren Vermittlung zu den Aufgaben, denen sich unsere Gesellschaft stellen muss, um Minderheiten sprachlich auf den Alltag in Schule und Beruf vorzubereiten und vor allem auch, um ihre soziale Integration zu unterstützen.

      Der traurige Alltag an deutschen Schulen

      Das Unterrichtskonzept, das in Deutschland am häufigsten für Mehrsprachigkeit angewendet wird, verdient es jedoch nicht einmal, überhaupt als Konzept bezeichnet zu werden. Kinder mit Migrationshintergrund werden einfach in die regulären Klassen gesetzt, ohne dass ihnen geholfen wird, die neue Sprache zu lernen.66 Dies geschieht in der naiven Hoffnung, dass Kinder von ganz allein Deutsch lernen, nur durch den täglichen Kontakt mit der Sprache. Submersion nennt die Erziehungswissenschaft dieses Prinzip.


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