Salomos Söhne. Philomène Atyame

Salomos Söhne - Philomène Atyame


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schon weg! Und du? Was machst du nun?«

      Ich schwieg, aber nicht, weil ich nichts mehr zu sagen hatte, sondern weil es einfach keinen Sinn hat, manchen Alten zu widersprechen. Für sie war ich nichts anderes als eine Hure, die ein Unbekannter beklaut hat. Alles andere, was ich ihr erzählt hätte, hätte sie bloß als eine Lüge empfunden.

      »A sya Sita, A sya Sita«, bedauerte die junge Frau. »War es viel Geld?«, fragte sie.

      »30 000«, antwortete ich.

      »Gott! So viel?«, staunte die Alte.

      »Armes Mädchen! Warte auf die Zugbegleiter! Sie sind da vorne, bei den Gleisarbeiten, dort, wo du Taschenlampen siehst. Sprich den ersten an, der zurückkommt«, riet mir die junge Frau.

      »Oh nein, lieber nicht. Lieber nicht.«

      »Wieso nicht?«

      »Ich habe kein Ticket mehr. Es war in dem Portemonnaie. Das darf keiner von ihnen erfahren. Sonst machen sie Probleme!«

      »Wieso? Man hat es dir gestohlen. Das müssen sie sogar erfahren!« bekräftigte sie.

      »Nein nein nein … Oh Gott, was soll ich tun? Ich muss zurückfahren …, ich fahre nach Yaoundé zurück. Ich steige in Belabo aus. Ich werde trampen. Ich habe keine Wahl …«, entschied ich in diesem Augenblick großer Verzweiflung.

      »Oooh! Oooh! Das finde ich noch gefährlicher! Es ist bald Mitternacht!«

      »Lass sie tun, was sie will. Es gibt Mädchen, die Abenteuer mögen«, schloss die Alte.

      Ich setzte mich links von dieser anscheinend sittenstrengen alten Frau und schaute durch das Fenster. Ich sah nichts als Dunkelheit. Die Zugbegleiter waren schon im Zug. Ich fühlte, wie Trauer tief in meinem schnell klopfenden Herzen saß. Ich wollte laut, ganz laut weinen, aber ich hatte Angst vor den Zugbegleitern. Sie wären gleich zu mir gekommen und hätten mich gefragt, warum ich weine. Gerade das wollte ich nicht. Ich versuchte, mich zu beherrschen. Als der Zugfahrer mit einem Hupen das Ende der Gleisarbeiten meldete, traten mir Tränen in die Augen. »Ouf! Ouf!«, rief die junge Frau erleichtert. Ich war völlig verzweifelt.

      Die nächste Haltestelle war Belabo. Ich stieg als Erste aus, besorgt und erleichtert zugleich. Ich war den Kontrolleuren aus dem Weg, fühlte mich aber in der fortgeschrittenen Nacht jedem Mann ausgesetzt. Am Bahnhof sah ich nur Männer. Ich prüfte ihre Gesichter, ging unsicher zu dem nächsten, um ihn zu fragen, ob man in dieser Stadt um diese Zeit Fahrgelegenheiten nach Yaoundé findet und ob man überhaupt hier trampt. Es war verrückt, was ich da vorhatte. Aber die Engel Gottes sind überall in unseren Städten. In diesem Augenblick traf ich wie im Traum meinen früheren Lehrer aus Elat. Überrascht sah er mich an und fragte mich, was ich hier zu suchen hatte. Mit Tränen in den Augen erzählte ich ihm von dem Diebstahl. »Oooh! Das tut mir aber leid! Das tut mir wirklich leid!«, bedauerte er. »Aber sei froh, dass du noch am Leben bist! Er hätte dich auch töten können! In diesen Zug steigen unterwegs viele Diebe ein. Nie wieder allein mit einem fremden Mann in einem Waggon sitzen! Was nun? Ich habe nicht viel Geld. Gut, ich schlage vor, dass du sofort nach Yaoundé zurückfährst, sonst findest du keine Gelegenheit mehr. Es ist fast Mitternacht«, sagte er, während er Geld aus seiner Hosentasche holte. Zehntausend Fcfa. »Träume ich?«, fragte ich mich. Nein, es war kein Traum, es war wirklich Geld, Scheine, zehntausend Fcfa. Welch eine Erleichterung! Ich dankte ihm, diesem guten Engel Gottes, den ich nie vergessen werde. Ich dankte als nächstem Gott, der für diese zufällige Begegnung gesorgt hatte. Als ich meinen Retter in den Zug steigen sah, verlangte es mich, meine Reise fortzusetzen. Er wollte seinen Bruder in Maroua besuchen. Mein Weg war nicht so weit, Tcholliré liegt zwischen Ngaoundéré und Maroua. Ich hatte leider nicht genügend Geld. Mit zehntausend Fcfa wäre ich nur hin-, aber nicht zurückgekommen. Außerdem hatte ich noch Angst vor diesem Zug, konnte noch dieses scharfe Messer auf mich gerichtet sehen, nur weil ich mit meinem verstorbenen Vater sprechen wollte. Ich hatte keine Wahl, musste zurückfahren. Zum Glück genügten die zehntausend Fcfa für die Fahrstrecke Belabo – Ebolowo’o über Yaoundé.

      Ich fand gleich hinter dem Ausgang ein Taxi, das mich in die Station der Buschtaxis ins Stadtzentrum brachte. Dort fand ich noch eine Fahrgelegenheit nach Yaoundé, wahrscheinlich die letzte.

      Es war ein kleiner weißer Bus. In diesem Bus sah ich keine Frau. Mir kam dieser Transportwagen wie mein Grab vor. »Muss ich wirklich sterben, nur weil ich mit meinem toten Vater sprechen wollte?«, fragte ich mich wieder. Ich stieg in den Bus ein, bat Gott um einen neuen Schutzengel und kehrte in derselben Nacht nach Yaoundé zurück.

      Es dämmerte schon, als wir in Yaoundé ankamen. Dort stieg ich in das erste Buschtaxi ein, das sogleich nach Ebolowo’o abfuhr.

      Was nun? Ich wusste es nicht recht. Die Zeit sollte wieder entscheiden. Tage, Nächte, Wochen, Monate und Jahre vergingen, inzwischen sind es neun Jahre, ja, seit insgesamt fünfzehn Jahren belastet mich das Gefühl, am Tod meines Vaters schuld zu sein.

      Ich musste etwas tun, um mich endlich von diesen Schuldgefühlen zu befreien, und ich wusste, dass nicht meine Verwandten, die (um sich die Hände zu waschen) mit dem Finger auf uns, Papas Kinder zeigten, mich davon befreien werden, sondern ich allein. Daher entschied ich, etwas zu tun, das kein Kind gern tut. Kinder reden ungern über die Versäumnisse ihrer verstorbenen Eltern. Nicht zu Unrecht. Es gibt nichts anderes auf dieser Welt, was ein Kind so schwermütig machen kann wie die Erinnerung an die Fehler seiner verstorbenen Eltern. Aber wenn ich weiter schweige, werde ich nie wieder reden können, dann werde ich wie meine Mutter schweigen. Gerade das will ich nicht, weil ich schon Kinder habe, die mich reden hören wollen.

      Aber ich fürchte, dass das Schweigen mächtiger als der Mensch ist, dass es sich im Menschen durchsetzt, wenn er völlig erschöpft ist. Ich muss mich schon jetzt so sehr aufraffen, um etwas zu sagen! Aber bevor ich endgültig schweige, werde ich, so weit ich es noch kann, alles sagen, was mich im Leben so bedrückt hat. Ich werde alles sagen, was ich über meine Familie weiß und was ich, Papas ältestes Kind, in dieser Familie empfunden habe.

      Es war einmal

      Es ist leider kein Märchen, sondern die Wahrheit, eine trostlose Wahrheit, die mich immer wieder so fürchterlich quält. Wüsste ich nur, wie lange ich mit diesen quälenden Schuldgefühlen noch ringen muss! Ich fürchte bis zum Tod! Mein schon sehr schwermütiges Gesicht bekommt jedes Mal neue Falten des seelischen Elends, wenn mich plötzlich die Schuld an Papas Tod zu quälen beginnt. Gerade das verdiene ich nicht, weil es auf dieser Welt keinen anderen Menschen gibt, den ich mir so herbeigesehnt habe wie Papa! Jetzt gebe ich meinem Urgroßvater Recht, Vamba Obeme, den ich eines Tages sagen hörte, dass das Gefühl der Schuld erst recht jene Lebenden quält, die keinen Abschied von ihrem Toten genommen haben.

      Es sind nicht viele auf dieser Erde, jene Menschen, die den Leichnam ihrer Eltern nicht gesehen haben. Ich zähle heute zu ihnen, zu diesen von Schuldgefühlen ständig Gequälten, die bei der Grablegung ihrer Liebsten wider Willen nicht dabei waren. Aber vielleicht war es die Vorschrift einer unbekannten Allmacht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Papa im Sinne unserer Bräuche ein Grab in Mbaangok bekommen hätte, wenn er nicht im Gefängnis in Tcholliré gestorben wäre. Papa wäre auch nicht in diesem Gefängnis gestorben, wenn er keinen Mord begangen hätte. Die andere Wahrheit ist, dass Papa diesen Mord beging, weil er – wie er selbst vor Gericht sagte – Geld für seine Kinder brauchte. Papa wollte vor seinem Tod den Schulerfolg seiner auserwählten Kinder sicherstellen, seiner sechs auserwählten Jungen. Leider entspricht der Lebenslauf nicht immer den Wünschen der Menschen. Diese Lehre habe ich aus Papas Leben gezogen.

      Er hatte sich nie neunundzwanzig Kinder gewünscht, aber wir wurden tatsächlich so viele, neunundzwanzig Kinder, weil Papa viele Jungen haben wollte, um im Sinne unserer Bräuche ein würdiger und glücklicher Vater zu sein. Oh! Papa wusste nicht, dass viele unserer Bräuche würdelos sind, er wusste auch nicht, dass das Glück ein verlockendes Ziel ist, wonach jeder Mensch sein ganzes Leben lang strebt und nur ab und zu kurze Augenblicke davon empfindet, die aber immer wieder rasch wie ein Blitz vergehen.

      Es gibt gewisse Gründe, die die Männer Mbaangoks zwingen, viele Kinder zu haben: Der erste, auf ihn hatte aber Papa nie Wert


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