Salomos Söhne. Philomène Atyame

Salomos Söhne - Philomène Atyame


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ohne die geringste Ahnung, dass sie nie wieder mit offenen Augen nach Hause zurückkehren würde … Abiaye Abes Geburt war eine außergewöhnliche Geburt. Selbst die erfahrene Geburtshelferin sprach von einem Wunder. Sie sah keinen Kopf, sondern Füße, Sichelfüße, dann krumme Beine. Plötzlich blieb das Kind im Mutterleib stecken, Nkolo Medjo lag wie tot. Sie hatte viel Blut verloren. Das Kind brauchte dringend Hilfe, beinahe wäre es erstickt.

      Beide wären gestorben, wenn die Hilfe zu spät gekommen wäre. Doch, Abiaye Abe überlebte, gerettet von der tapferen Geburtshelferin. Wie das Kind schrie! Es hatte die Augen weit aufgemacht wie ein älteres Kind, schrie ungewöhnlich laut, während es auf dem Bauch seiner Mutter zappelte. Aber sie war schon tot, Nkolo Medjo erwachte nie wieder aus dem Koma … Jeder, der diese Geschichte hörte, sagte, dass Abe etwas gefühlt hatte, dass ihre ungewöhnlich lauten Schreie auf dem Bauch des Leichnams ihrer Mutter kein Zufall waren. Abe hatte um ihre tote Mutter geweint … Eine sehr rührende Geschichte!

      Meine Mutter hatte das Talent, solche Geschichten noch rührender zu machen. »Man kann nicht genug weinen. Vorgestern, als ich mit der Erzählung fertig war, hatten alle, selbst Obeme und Papa, Tränen in den Augen«, verriet sie mir. »Mir standen immer Tränen in den Augen, wenn Essono Medjo, euer Ururgroßvater, mir in Meyozo diese Geschichte erzählte«, fügte sie hinzu. Auch ich hatte Tränen in den Augen. Gerührt kam Mama auf mich zu und hielt mich in ihren Armen fest.

      »Sie starb zu früh, deine Ururgroßmutter, sie war erst zwanzig, hatte kaum gelebt. Nun Kind, genug geweint! Die Geschichte hat doch ein glückliches Ende! Oder? Das Kind überlebte! Abiaye Abe überlebte. Also Schluss mit dem Weinen!«, schloss sie, während sie selbst mit den Tränen kämpfte.

      Es hörte sich wie eine Beichte an, wie die Beichte der Leiden meiner Vorfahren, die Beichte einer dieser bitteren Geschichten der Schwarzen, die ich so gern umgeschrieben hätte.

      Ich fragte mich, ob Nane Abes Überleben ein glückliches Ende war. Denn sie überlebte mit einem körperlichen und einem seelischen Schaden. Nane Abe überlebte mit einem gebrochenen Bein und einer gebrochenen Seele. War das ein glückliches Ende, wie meine Mutter es meinte?

      »Aber Mama, unsere Vambas hatten es nicht so einfach, wie du es immer meinst. Nane Nkolo Medjo war epileptisch, Nane Abes Geburt schwierig. Außerdem verstehe ich nicht, warum man dem unschuldigen Baby so einen schrecklichen Namen gegeben hat. Wer kam überhaupt darauf?«

      »Der Vater des Kindes, dein Vamba Essono Medjo.«

      »Mama, warum hat er eine so kranke Frau geheiratet?«

      »Er liebte sie.«

      »Hm, Mama, ich glaube, Nane Nkolo Medjo war eine sehr liebe Frau, sonst hätte Vamba Obeme sie nicht geheiratet. Aber wäre ich sie gewesen, hätte ich nie geheiratet, nie, Mama, nie! Ihr Baby ist mit den Füßen in die Welt gekommen, bestimmt, weil sie immer andersrum ins Bett fiel … Mama, es war ein Wunder, dass dieses Kind nicht gestorben ist.«

      Meine Mutter schwieg. Ich aber dachte weiter an das arme Kind, fragte mich, warum Vamba Essono Medjo unbedingt ein Kind mit einer kranken Frau haben wollte. Ich wollte vor allem wissen, was ihn bewog, sein unschuldiges Baby mit so einem hässlichen Namen zu bestrafen.

      »Aber Mama, unser Vamba Essono Medjo, ich meine, er konnte seine Tochter Ngole, Mitleid, oder auch Mindjuk, die Schwierigkeiten, nennen. Warum bloß die Geburt des Bösen? Warum Abiaye Abe?«

      »Kind, ehrlich gesagt, dieser Name gefällt mir auch nicht. Nur, früher war alles anders. Frauen mit langen und starken Wehen litten sehr viel. Wenn die lang ersehnte Geburt schwer verlief und für die Mutter unglücklich endete, bekam das neugeborene Kind einen Namen, der an die Leiden seiner Mutter erinnerte … Unsere Ahnen sahen die Dinge anders als wir, meinten, dass ein Kind, dessen Mutter bei der Geburt starb, von Hexen gesandt wurde, um seine Mutter zu töten. Deshalb sollte man dieses Kind anders behandeln. Es sollte wissen, welche Schmerzen es seiner Mutter zugefügt hatte, welchen seelischen Schaden es gebracht hatte, wie viel Mühe es seine Eltern gekostet hatte. Dein Vamba Essono meinte, dass der Name Abiaye Abe sein Kind an all das erinnern sollte, es dann daran hindern würde, nie wieder seiner Mutter Übel anzutun, es gebieten würde, seine Mutter zu ehren. Er meinte, dass dieser Name seine Kleine zuerst entsetzen, aber dann erziehen, aufrichtig halten, zurechtweisen würde.«

      »Aber Mama, Nane Nkolo Medjo war schon tot.«

      »Die Toten sind nicht so tot, wie du denkst! Man kann sie entwürdigen, ehren, preisen, lieben und hassen. Sie leben weiter in uns, in unserem Geist, in unserem Gedächtnis. Deswegen erinnern wir uns immer wieder an sie.«

      Ich musste schweigen, weil ich keine weiteren Fragen hatte. Aber weiter dachte ich, dass Nane Abiaye Abe, die Geburt des Bösen, doppelt schwer bestraft wurde: erstens mit einem Beinbruch, zweitens mit einem seelischen Schaden.

      Und wer sprach da von den guten alten Zeiten? Hatte es sie jemals auf unserer Erde gegeben? Waren vielleicht diese guten alten Zeiten nur eine Einbildung der Menschheit?

      »Unsere Ahnen hatten es einfacher«, hörte ich meine Mutter oft sagen. Was konnte das kleine Mädchen, das ich war, dazu sagen? Auf alle Fälle glaubte ich es ihr, und ich glaubte es ihr lange. Sie erzählte immer wieder davon, von einer besonders einfachen Zeit meiner Ahnen, sprach Tag und Nacht von ihnen, redete dabei von Menschen, die sorglos lebten und das Leiden nicht kannten. Sie erzählte mir von dieser Ahnenzeit, bis ich von Vamba Obeme ähnliche Dinge hörte: »Die Umwelt war noch nicht so schmutzig wie heute. Damals atmeten wir noch frische Luft ein, hörten nur Züge fahren. Wir kannten keine Autos, hatten nur Schienenwege. Unser Obst und Gemüse holten wir frisch aus dem Garten, wir aßen Erdnüsse und Mais von unseren eigenen Feldern. Unser Trinkwasser war Quellwasser, wir holten es immer frisch aus der Quelle. Dieses Wasser hatte natürliche Heilkräfte. Unsere Erde gab uns alles, was wir wollten, sie gab uns allerlei Heilpflanzen, vor allem Heilmittel gegen das Gift der Schlangen, denen wir täglich auf dem Weg zum Feld begegneten. Wir hatten großes Glück!«

      Es gibt viele von diesen Alten, die von ihrer Zeit so reden, als ob sie damals nichts anderes als Glück fühlten.

      Glück ist ein großes Wort, vor allem aber ein großes Gefühl, das ein winziger Teil der Menschheit gekannt hat. Ohne Zweifel: Auf ihren Feldern, unter den Strohdächern ihrer Hütten, wo sie sich nach guten Ernten ausruhten, fühlten meine Ahnen, was Glück ist. Aber die Härte ihrer Arbeit, vor allem ihre unaufhaltsame Suche nach Kindern verringerte dieses Glück, und die Leiden ihrer Frauen brachten ihnen immer mehr Augenblicke der Trauer, die mit den vermeintlichen guten alten Zeiten nichts zu tun hatten.

      Hatte die Bibel vielleicht Recht? Es war wie ein Fluch, und das Ganze wie eine Wiederholung der Geschichte der Menschheit, wenn ich an Adam und Eva dachte. Im Lustgarten, unter den schönen Pflanzen und Tieren des Paradieses, wo sie sich nach einem erfüllten Tag ausruhten, fühlte das erste Menschenpaar, was Glück ist. Aber ihr Irrglaube an Liebe und die Härte der Urstrafe verringerten dieses Glück, und die Wehen der Urfrau brachten Augenblicke der Trauer. Und die guten alten Zeiten waren vorbei.

      Abe bedeutet das Böse, böse wie nur das Leben sein kann, wenn man ein Leben lang ein Bein nachziehen muss. Meine Urgroßmutter Abiaye Abe trug einen körperlichen Schaden ihr ganzes Leben lang, hinkte mit dem rechten Bein. Es war keine schwere Behinderung, aber auch keine leichte. Es war ein Schicksalsschlag, mit dem sie seit ihrer Geburt haderte und den sie nicht hinnehmen wollte.

      Nane Abe, das erzählt jeder, der sie gekannt hat, war ein liebevolles Kind, aber sie mochte die Kinder von Meyozo nicht, weil sie ihr die Kindheit zur Hölle machten. Sie riefen sie Mon Evou, kleine Hexe, sagten ihr ins Gesicht, was man im Dorf glaubte, dass sie nämlich nur am hellen Tag behindert war, aber nachts schneller als ein Hase lief. Nane Abe wollte sich wehren, schlug immer zu, wenn sie außer sich war, schickte diese Kinder, die ihr wie Satansbrut vorkamen, zum Teufel. Manchmal versuchte sie, hinter ihnen herzulaufen, bis sie hinfiel. Dann blieb sie am Boden liegen, aber nicht, weil sie nicht in der Lage war, wieder aufzustehen, sondern weil sie die Leute im Dorf auf das Vorgefallene aufmerksam machen wollte. Der erste, der sie liegend fand, hob sie vom Boden auf und brachte sie zu ihrem Vater. Vamba Essono Medjo sah seine Tochter immer voller Mitleid an. »Wie kann ich dir nur helfen? Wie kann ich dich vor diesen


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