Salomos Söhne. Philomène Atyame
Gott allein kann es. Aber dein Vamba hat ein gutes Herz«, bekräftigte meine Mutter. »Deswegen lebt er so lange. Das ist Gottes Segen. Dein Urgroßvater ist schon achtzig. Auch Otam, sein einziges Kind, hat etwas von diesem Segen. Er ist sechzig und sieht immer noch jung aus.«
Sie lebten zehn weitere Jahre, Vamba Obeme wurde neunzig, Opa Otam siebzig. Dann kehrte der Tod wieder ein, holte meine Verwandten gnadenloser als je zuvor. Er nahm ihn weg, meinen Vamba, mit seinem Sohn, meinem Großvater, und seinem Enkel, meinem Vater. Der Tod verschwand mit ihnen, für immer, siebzig Jahre nach dem Tod von Nane Abe. Für mich war es, als ginge die Welt unter, zumal meine Mutter daraufhin ihren eigenen Tod voraussagte.
Entsetzt starrte sie mich an, ließ das Kleidungsstück unter die Nähmaschine fallen und brach in Tränen aus, als sie Opas Todesnachricht hörte. Er war der dritte Tote in jenem Jahr 1989. Der erste war Vamba, der zweite Papa. Ich war genau neunzehn Jahre alt. Meine Mutter weinte, schluchzte, zuckte heftig, betete weinend zu Gott. Sie flehte ihn an, mir ihr trauriges Schicksal zu ersparen. Sie, so dachte meine Mutter, hätte nach dem Tode ihrer Liebsten auf dieser Welt nichts mehr zu suchen, dreiunddreißig verfluchten Jahren ihres Lebens hätte sie gern ein Ende gesetzt.
»Mama, nein, nein!«, flehte ich sie weinend an, auch wenn ich wusste, dass der Schatten des Todes sie immer verfolgen würde.
Die Wurzel allen Gräuels
Freundschaft geht über Verwandtschaft. Gott sei Dank! Was wäre ich heute ohne meinen Mann Zanga? Meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sind schon tot. Mama starb 1992, körperlich und geistig erschöpft von allem, was ihr in der Ehe widerfahren war. Mit meinen Stiefmüttern und Stiefgeschwistern kann ich nichts anfangen, weil wir sehr verschieden sind. In Wirklichkeit ist Zanga mein einziger Freund. Er ist immer da, wenn ich ihn brauche. Das tut mir, seiner schwermütigen Frau, so gut!
Ich bin heute fünfunddreißig und lebe seit Ende 1995 wieder in der kleinen, südlichen Stadt Ebolowo’o, selbstverständlich mit Zanga, dem ich Zwillingstöchter geschenkt habe, aber auch mit einer alten Erinnerung an meinen verstorbenen Großvater, seinem Papagei Jakob. Jeden Morgen krächzt er, ruft uns mit Namen, Odooo, Zongooo, Onooo, Motooo, immer und immer wieder, Rufe, die mir wie eine Warnung im Ohr klingen. Denn immer, wenn ich Jakob höre, erinnere ich mich an diese bitteren Geschichten Mbaangoks, die mich jedes Mal so abschrecken, dass ich über alles nachdenken muss, was mir bisher im Leben widerfahren ist.
Eines Morgens riss er uns aus dem Schlaf. Er krächzte laut wie nie zuvor. Im Bett, neben Zanga liegend, wachte ich auf und merkte, dass es draußen schon hell war. Die lauten Stimmen der vorübergehenden Marktfrauen erreichten uns. Dann, plötzlich, wurde alles still. Ich hörte nichts mehr, sondern dachte nur noch an sie, an meine Mutter, die mein Vater verfluchte, als sie mich gebar.
Ich kam in Mbaangok zur Welt. Mbaangok, der gute Fels, war in meinem Geburtsjahr 1970 nicht mehr das, was sein Urname Mbaakok ausdrückt. Seine Felsen waren voller Moos und Würmer, umgeben von wildwachsenden Pflanzen. Ein Fluss und seine vielen Bäche versorgten die Dorfbewohner weiter mit Wasser, aber auch mit allerlei Schlangen, die immer wieder zur Bestürzung der Fischer an der Spitze ihrer Angelschnur hingen. In den Bäuchen dieser Schlangen fanden sie ihre Beute, diese langen, dunklen Fische, die Welse, die so selten in Mbaangok geworden waren. Die Jäger dagegen töteten immer mehr wilde Tiere, die in den verwildernden Felsen Zuflucht suchten. In ihren Hütten am Rande ihrer weiten Felder waren die Bauern nachts diesen wilden Tieren ausgesetzt. Eine Nacht in einer Hütte endete manchmal mit dem Tod. Ebenfalls ohne Schutz waren ihre Frauen, die in den Hütten ihre Kinder gebaren und die toten Kinder nach einer missglückten Geburt in der Erde ihrer in der Nähe liegenden Felder begruben, bis die Bauern sich irgendwann gezwungen sahen, ihre Hütten zu verlassen.
Häuser aus Lehm, Pfählen und Bambus wurden die neue Zuflucht der Dorfbewohner Mbaangoks. Genau in einem solchen Haus, im Schlafzimmer meiner Eltern, in Gegenwart von Vamba und Opa erblickte ich das Licht der Welt. Papa war in Ebolowo’o. Meine Großmütter Zongo und Ekombo, Opas Frauen, waren schon aufs Feld gegangen, als Mamas Wehen einsetzten. Sie hatte kurz davor viel Wasser verloren. Stundenlang lag ich in einem trockenen Mutterkuchen, während meine Mutter Blut und Wasser schwitzte. Ohne Vamba und Opa wäre ich (das vermutet man) im Bauch meiner Mutter erstickt. Irgendwann fiel Vamba ein Kraut ein, das einigen Frauen im Dorf die Geburt erleichtert hatte. Er schickte Opa in den Wald, um dieses Kraut zu suchen. Wie meine Mutter erzählte, war es eine seltene Pflanze mit einem ungewöhnlich bitteren Geschmack. Zum Glück hatte Opa diese Pflanze gefunden.
Weh mir! Mein Vater soll bitter enttäuscht gewesen sein, als Opa und Vamba ihm noch an der Tür verrieten, dass ich ein Mädchen war. »Ein Mädchen bringt Spott, Gelächter und Pein, ein Sohn dagegen verleiht einem Mann Würde.« So dachten früher meine Ahnen. Das dachte auch mein Vater. Für Papa war ich kein Grund zur Freude. Lieber Vater, hättest du damals nur geahnt, wie viel du mir bedeutetest, hättest du nie so etwas gesagt!
Wenn ich nur wüsste, was im Kopf eines Vaters vorgeht, der glaubt, ein Mädchen sei eine Schande! Vor wem schämt er sich? Vor Menschen, die noch von unserer Ahnenzeit schwärmen und den Eindruck erwecken wollen, sie leben in unserer Zeit? Was mich noch trauriger macht, ist, dass viele Frauen keine Mädchen haben wollen, weil sie das Gefühl haben, sie seien die Ursache für jene Schande, die das Leben ihrer Männer zerschmettert. Sind es nicht diese Mädchen, die später Frauen werden und Jungen gebären? Ich wollte weglaufen, meine Eltern verlassen, als mir klar wurde, dass ich meinem Vater nichts bedeutete, nur weil ich ein Mädchen war. Aber ich tat es nicht, weil es letztendlich Papa war, der mir das Leben geschenkt hatte, vor allem aber, weil meine Mutter mir immer zu verstehen gab, dass es Frauen gibt, die gern Frauen sind und bei aller Ahnenliebe zu ihren Töchtern halten, wie zum Beispiel sie.
Für Mama war ich ein Wunschkind. Meine Geburt war, das sagte sie immer, das glücklichste Ereignis ihres Lebens. »Wie gern hätte ich dir eine niedliche kleine Schwester und einen netten Bruder geschenkt!«, sagte sie eines Tages zu mir. »Aber, Liebste, glaub mir: Ich lasse dich nie allein. Ich verspreche es dir: Ich verlasse dich nie, niemals!«
Ein großes Versprechen! Mama hatte es viele Jahre lang gehalten! Achtzehn Jahre lang hatte meine Mutter zu mir gehalten! Aber ihr Kummer war so groß, dass sie eines Tages ihren Koffer packte und mich in Mbaangok ließ.
In den ersten Monaten ihrer Ehe schwelgte meine Mutter im Wohlstand, bekam von Papa alles, was sie wollte. Sie hatte in Mbaangok ein geräumiges Haus und eine große Küche, teilte sie mit ihrem Mann, meinem Vater, mitunter mit Kindern der Verwandtschaft, die im Urlaub zur Erholung ins Dorf kamen und ihr Gesellschaft leisteten. Das waren die guten alten Zeiten meiner Eltern. Finanziell ging es meinem Vater gut, er hatte große Kakaofelder und große Pläne, Papa war sehr ehrgeizig.
Die Dinge haben leider ihre Ordnung, die Zeit ihren Lauf, der Wind seine Richtung. Aber der Mensch dachte sich seine Ordnung aus, bestimmte seinen Lauf und wählte seine eigene Richtung. Und immer wieder musste er feststellen, dass er nicht derjenige war, der das letzte Wort hatte. So suchte er weiter nach der Ordnung der Dinge, hinkte dauernd hinter der Zeit her, lief immer den Winden davon.
Sie lief ihrer Ehe davon, nach acht Monaten Eheglück und achtzehn Jahren eines unglücklichen Familienlebens. »Ich wollte gleich nach deiner Geburt weggehen, weit weg von ihm, aber ich wollte dein Glück, ich wollte dich glücklich sehen, ich wollte dir die bittere Suche nach einem Vater ersparen … Ich habe deinen Vater am Anfang so geliebt, doch nur kurz, nach deiner Geburt fühlte ich nichts mehr für ihn.«
Ein großes, aber zu kurzes Eheglück für eine Frau wie meine Mutter, die damals an die große und ewige Liebe glaubte. Mit mir hatte sie nur noch das Mutterglück, das Eheglück war schnell vorbei, aus wie ein Licht. Es kehrte nie wieder zurück!
»Irgendwann stieg Wut in meinem Herzen auf, ich konnte seine Herzlosigkeit nicht ewig hinnehmen. Für mich war dein Vater kein Mensch, sondern ein gefühlloses Tier, denn ein Mann, der ein neugeborenes Kind, sei es Junge oder ein Mädchen, so herzlos, so gefühllos auf den Schoß nimmt, es dann achtzehn Jahre lang vernachlässigt, der verdient keine Liebe von einer Frau.«
Ich hatte Schuldgefühle, dachte, dass mein Geschlecht an allem schuld wäre, dass ich die Wurzel allen Gräuels sei. Ich erinnerte