Franziskus aus Rom und Franz von Assisi. Leonardo Boff

Franziskus aus Rom und Franz von Assisi - Leonardo Boff


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Kreaturen sind unsere Geschwister

      Auf meinen Wanderungen faszinierte mich die Schönheit der Blumen, der Gesang der Vögel, das Rauschen der Bäche. Ich hob den Regenwurm von der staubigen Straße auf, damit er nicht zertreten wird. Ich begriff, dass wir alle zusammen unseren Ursprung im Herzen unseres gütigen Vaters haben. Deshalb sind wir alle Geschwister: Bruder Feuer und Bruder Wasser, Schwester und Herrin Sonne, Schwester und Mutter Erde, ja sogar der Wolf von Gubbio ist unser Bruder.

      Viele alte Kumpanen, die mit mir Feste gefeiert hatten, schlossen sich mir an. Eine sehr liebe, schöne Freundin, Klara von Assisi, riss von zu Hause aus und wollte unser einfaches Leben teilen. Wir initiierten eine Bewegung von Armen. Nichts nahmen wir mit auf den Weg als ein leidenschaftlich glühendes Herz und die Freude des Geistes. Wir arbeiteten auf den Feldern oder bettelten um Almosen. Wir wollten den Spuren des demütigen Christus folgen, der arm und ein Freund der Armen war. Und Papst Innozenz III. selbst zögerte zwar sehr, doch im Jahr 1209 bestätigte er unsere Lebensweise und erlaubte uns, überall das Evangelium Jesu zu verkündigen.

      Nach einigen Jahren waren wir bereits so zahlreich, dass ich nicht mehr wusste, wie man so viele Menschen aufnehmen und sie anleiten kann. Den Rest der Geschichte kennt ihr. Ich muss das hier nicht wiederholen. Später wurde mit Unterstützung des Papstes jener Tage der Orden der Minderbrüder gegründet, der sich bald in verschiedene Zweige ausfächerte und bis heute besteht.

      Seht, meine lieben junge Leute, meine Geschwister, ich habe eine Erfahrung gemacht, die ihr als Jugendliche sicherlich auch kennt: Ich war von Freunden umgeben, verstand es zu feiern und unternahm eine Menge verrückter Sachen. Wir haben also etwas gemeinsam.

      Ich will mich in eure Zeit hineinversetzen und euch sagen, wozu der Geist Gottes mich nun antreibt.

      Zu allererst bitte ich euch: Liebt die Schwester und Mutter Erde und sorgt für sie. Sie ist krank und von Fieber befallen. Lange Zeit schon haben wir sie über Gebühr ausgeplündert. Um das wiederherzustellen, was wir ihr innerhalb eines Jahres entnehmen, braucht sie anderthalb Jahre. Den Brasilianern hat sie vielleicht ihr wertvollstes Erbe anvertraut: den Amazonas-Regenwald, eine Überfülle an Süßwasser, eine immense Vielfalt lebendiger Arten und große Flächen fruchtbaren Bodens. Bewahrt dieses Erbe für eure Kinder und für die ganze Menschheit.

      Wir müssen dringend ein weltweites Bündnis schließen, um uns um die Erde und um einander zu kümmern. Andernfalls kann es zu verheerenden Katastrophen kommen, die die gesamte Gemeinschaft des Lebens betreffen. Wir sind also mit einer großen Gefahr konfrontiert. Doch wenn wir gemeinsam in Solidarität Verantwortung übernehmen und ein Verhalten der Fürsorge für alles, was existiert und lebt, entwickeln, dann können wir diese Tragödie abwenden. Und es wird noch einmal gut für uns ausgehen.

      Viele Kinder der Mutter Erde, unsere Geschwister, sind arm und leiden Hunger. Millionen wurden der Armut entrissen und können ein Leben mit einem Minimum an Würde führen. Und dennoch gibt es so viele, die auf der Straße leben, weil sie krank, drogenabhängig, obdachlos sind. Seid wie der gute Samariter, der sich über sie beugte und ihnen half, wieder auf die Beine zu kommen. Der gekreuzigte Jesus lebt fort in den Gekreuzigten dieser Welt. Wir müssen sie vom Kreuz herunterholen und ihre Auferstehung ermöglichen.

      Es gibt noch etwas anderes, was mich in der Tiefe meines Herzens bewegt und was ich euch sagen will: Wir müssen unser Denken und unser Herz ändern.

      Das Denken müssen wir ändern, um die Wirklichkeit mit anderen Augen zu sehen. Die Wissenschaftler heute zeigen uns auf, dass die Erde lebendig ist und keineswegs ein toter Gegenstand, eine Art Depot für unerschöpfliche Ressourcen, die wir nach Gutdünken benutzen könnten. Diese Ressourcen sind vielmehr begrenzt. So zum Beispiel die fossilen Energiequellen wie Erdöl und Kohle, der fruchtbare Boden und das Saatgut. Wir müssen mit diesen Gütern schonend umgehen, damit sie auch den künftigen Generationen in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen.

      Die Astronauten, die vom Mond oder ihren Raumschiffen aus die Erde sahen, bezeugen: Erde und Menschheit bilden eine untrennbare Einheit, eine einzige, unteilbare und komplexe Realität. Wir Menschen sind deshalb jener Teil der Erde, der denkt, liebt und Ehrfurcht empfindet. Wir sind Erde und der Erde entnommen, wie es auf den ersten Seiten der Bibel bereits heißt. Doch wir haben einen besonderen Auftrag erhalten, nämlich für alle Güter der Natur Sorge zu tragen und sie zu bewahren. Wir sind die Bewahrer des Erbes, das uns Gott und das Universum anvertraut hat, damit wir weiterbestehen und unsere Bedürfnisse ebenso wie die unserer Kinder und Enkel befriedigen können.

      Doch wir müssen nicht nur unser Denken ändern, sondern auch unser Herz. Das Herz meint hier das tiefe Empfinden, das warmherzige Gefühl und die aufrichtige Liebe. Das Herz ist der Ort, in dem alle Werte ihren Ursprung haben.

      Neben der intellektuellen Vernunft, die ihr in der Schule, bei der Arbeit und in eurem täglichen Leben so sehr in Anspruch nehmt, gibt es die empfindsame Vernunft des Herzens. Allein mit der intellektuellen Vernunft werden wir den Schrei der Armen, der Erde, der Regenwälder und der Gewässer nicht vernehmen, wenn sich nicht auch die Vernunft des Herzens einstellt. Ohne die Vernunft des Herzens verspüren wir keine Motivation, zu denen zu gehen, deren Schrei wir vernehmen und die leiden, um ihnen zu Hilfe zu eilen, ihnen die Hand zu reichen und sie zu retten.

      Ihr, liebe junge Leute, habt von Natur aus einen Sinn für die großen Träume und für den Flug des Adlers, der sich in die Lüfte emporschwingt. Entwickelt eine Kultur des Herzens, das fühlt, das sich anrühren lässt, das sich nicht schämt, angesichts von so viel Leid vieler Geschwister zu weinen.

      Doch eine Sache möchte ich euch ans Herz legen: Es kommt darauf an, dass wir eine neue Weise entwickeln, den Planeten Erde zu bewohnen. So wie wir das jetzt tun, können wir nicht weitermachen. Bis jetzt haben wir mit geballter Faust geherrscht und alles unserem Interesse untergeordnet. Wir gaben uns der Illusion eines grenzenlosen Fortschritts hin. Heute sind wir uns dessen bewusst, dass die kleine und begrenzte Erde kein unbegrenztes Projekt aushält. Wir stoßen an ihre Grenzen. Da wir diese Grenzen nach wie vor mit Gewalt ausdehnen wollen, reagiert die Erde mit Wirbelstürmen, Überflutungen, Trockenperioden, Erdbeben und Tsunamis. Wir müssen uns ändern, wenn wir überleben wollen.

      Anstatt die Faust zu ballen müssen wir die Hand öffnen in der Achtsamkeit, auf die es so wesentlich ankommt, und um uns die Hände zu reichen und einen Bund auf der Grundlage von Werten und Grundsätzen zu schließen, die das Fundament für eine neue Zivilisation bilden könnten. Diese Zivilisation wird das Leben der Natur, der Menschen und der Erde zum Mittelpunkt haben. Wirtschaft und Politik werden eher im Dienst des Lebens und nicht im Dienst von Markt und Profit stehen.

      Liebe Jugendliche, ihr selbst seid die Veränderung, die wir ständig von den anderen erwarten. Beginnt selbst damit, das Neue zu leben, jedes Lebewesen der Natur, jede Pflanze, jedes Tier und jede Landschaft zu lieben, denn sie alle besitzen einen Wert in sich selbst, unabhängig vom Gebrauch zu unserem Nutzen. Es sind unsere Brüder und Schwestern. Entwickeln wir mit ihnen ein Zusammenleben in Respekt, in Gegenseitigkeit und gegenseitiger Hilfe, damit alle auf diesem Planeten weiter leben können – auch die Verwundbarsten unter ihnen, denen wir umso größere Fürsorge und Liebe zuteil werden lassen.

      Liebe junge Brüder und Schwestern, leistet Widerstand gegen eine Kultur der Anhäufung von Reichtümern und des Konsumismus. Denkt an die anderen eurer Geschwister, die hungrig und durstig den Tag verbringen, hungrig und durstig zu Bett gehen und großes Leid durchmachen. Es sind Abermillionen. Es soll keinen Tag geben, an dem ihr nicht an die Armen, an ihr dramatisches Schicksal, vor allem an die unschuldigen Kinder unter ihnen, denkt und euch darum sorgt.


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