Anschwellendes Geschwätz. Jürgen Roth

Anschwellendes Geschwätz - Jürgen Roth


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Einzug hält und endlich auch die Kurzzeittradition des W. Borchertschen Trümmerheimkehrtheaters aus dem Feld schlägt. Und als erste wirklich kulturmächtige Modeerscheinung allzu lange Einfluß auf Denken und Kleiderordnung ausübt – aber heute zum Glück restlos ad acta gelegt ist.

      Allein, ein neuer Zug der Zeit fordert quasi simultan die Erfindung und Einrichtung der Gruppe 47 (hervorgehend aus Hans Werner Richters und Alfred Anderschs Zeitschrift Der Ruf), die in der Folge allerhand angesagtes Textgerümpel gebiert oder fördert; etwa, das lehrt uns dann sehr anschaulich der siebenbändige Zweitausendeins-Reprint der Zeitschrift Akzente (Hanser Verlag, Jahrgänge 1954-1973), Wolfgang Weyrauchs »Kahlschlag«-Gesumse, kulminierend in Günter Eichs Simpellyrik, oder Ilse Aichingers »magischen Realismus« (Brenner) und I. Bachmanns närrisches, Langzeitfrüchte tragendes Bramarbasieren. Weshalb auch schon Böll, Grass und, ein wenig zögerlicher, S. Lenz aus den Startlöchern heranrücken und, barock oder knallhart konventionell realistisch erzählend, fürderhin nicht mehr weichen möchten. Was sie für uns hier doppelt uninteressant macht.

      Weitgehend vergessen hingegen: das biographisch-geschichtlich aufgeladene, dominante Romantreiben der mittleren fünfziger Jahre (Koeppen, Andersch etc.). Hans Helmut Kirst, den kennt wahrlich niemand mehr, schiebt jedoch die erneute und zyklenbedingte Abkehr vom Kriegsthema an, verkauft seine 08/15-Trilogie erschreckend oft und: darf als Gott sei Dank komplett vergessen gelten.

      In der Versenkung und aus den Buchläden verschwunden sind leider weder Martin Walsers süddeutsche Eheschmonzetten noch Rolf Hochhuths neoklassizistische Politkitschkostümfestivals. Beide dienten und dienen den geplagten Schülern noch heute als ragende Beispiele »der Vergangenheitsbewältigung« und der »Vermessung der neuentstehenden bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft« (Brenner), welche ihrerseits unweigerlich in die sechziger Jahre hineinwuchs, in denen es langsam, aber sicher immer turbulenter, modisch rasanter, wechselhafter, ja kritischer und demzufolge aufgeregter zuging.

      Bevor rund um Hans Magnus Enzensbergers 1965 aus der Taufe gehobenes Kursbuch (Suhrkamp Verlag) eine Novität nach der anderen festgezurrt wird (Heft eins startet noch mit dem Versprechen, keine verbindlichen Meinungen über Bücher u. ä. ausbläken zu wollen: »Kursbücher schreiben keine Richtungen vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten so lange wie diese Verbindungen«, und man hievt aber rasch den Strukturalismus und z. T. die zeitweise ganz vorne agierende Noveau-Roman-Fraktion der Kölner Schule aufs Papier – liest das noch jemand? Irgendein Paderborner Prof. wenigstens?), darf erst mal die Dokumentarliteratur, d. i. im wesentlichen Peter Weiss und Heinar Kipphardt, ran, gar nicht mal völlig verkehrt – sieht sich jedoch schnellstens übertrumpft durch eigentlich bereits ein bißchen früher die ausgeweitete literarische und allgemeine Öffentlichkeit in Beschlag nehmende Schulen, Innovationen und fashionable Strömungen.

      Die Konkrete Poesie machte da mit ihrem Programm der Befreiung der Sprache von der Funktion, außerkünstlerische Sachverhalte zu repräsentieren, eine rühmliche Ausnahme. Die verschiedenen Zirkel, die, rekurrierend auf die De-Stijl-Gruppe und avantgardistische Techniken, Demanipulationsstrategien entwickelten, um durch den »Bruch mit der grammatikalisch-kontinuierlichen Mitteilungsfunktion der Sprache« (Christina Weiss: Konkrete Poesie als Sprachkritik, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 10, hrsg. v. Ludwig Fischer, München/Wien 1986) die Semantik, die Syntax und die Lexik der zweckrationalen Zurichtung zu entwinden, besaßen zeitweilig nicht geringes Renommee. Ihre Interventionen blieben allerdings langfristig folgenlos. Der »Sprache nach Auschwitz« (Chr. Weiss) setzte Franz Mon entgegen: »Sprache, diese angefochtene, zermürbte Sprache als ›Material‹ nehmen, wobei auch ihre Erinnerung und die Spuren ihres Geschicks mitzählen, um vielleicht im skeptischen Umgang mit ihr der Möglichkeiten inne zu werden, die noch immer und vielleicht gerade auf Grund ihrer erschreckenden Geschichte bestehen.« Und während Helmut Heissenbüttel u. a. vermöge der funktionellen Organisation des Lautmaterials, isomorpher Wortkonstellationen und graphischer/akustischer Topologien die Konzentration auf die unreglementierte Gegenständlichkeit der Sprache zu richten versuchten und das »Aufbrechen einer Sperre« (Heissenbüttel) im Auge hatten, nämlich »modelle für neue verbale libertinagen« (Oswald Wiener), offene, spielerische Kunstgebilde als »Verweigerungsgeste[n] an die geläufige Kommunikationsmaschinerie« (Chr. Weiss), ja »das Trainingsfeld ›Kunst‹ als mögliche Einübung in den Aufstand« (dies.) begriffen (Mon sprach von Texten, die »sich nicht [...] verwerten lassen«, die »die Möglichkeit des Protestes, des Anders-Seins, der Nichtzwangsläufigkeit« entwarfen) – lärmten im Zuge der Politisierung der Literatur diverse Fraktionen um die Palme des aktuellsten Gockels.

      Seit 1961, wie auf Verabredung eines neuen Jahrzehnts, gaben sich die genuinen Torheiten die Türklinken in die Hand. Mit dem Kursbuch 15 (November 1968) sollte zwar nach dem Tripeldiktum der Herren Yaak Karsunke, Karl Markus Michel und Enzensberger der »Tod der Literatur« besiegelt sein und eine neue Epoche gleichwohl für nicht »nutz- und aussichtslose« Gedichte, Erzählungen und Dramen anbrechen, allein, den »Aufruf zur Selbstbesinnung und Selbstbestimmung der Literatur« (Brenner) hatten bereits Jahre zuvor die Dortmunder in sich selbst hallend vernommen oder aus der Gesellschaft herausgelauscht. Als nachholend fortschrittliche Reaktion auf die erste Bitterfelder Konferenz im April 1959 (die eine wahre sozialistische Betriebsliteratur zum DDR-Kulturziel erkor) gründete Fritz Hüser, Leiter der Dortmunder Stadtbüchereien und Verwalter des Archivs »Arbeiterdichtung und soziale Literatur«, den ersten Zirkel jener baldigen Gruppe 61, die bis zu ihrer schismabedingten Auflösung 1972 die »Literaturrevolution« (L. Fischer) vorbereitete – den Weg mithin ebnete für die definitiven Attacken auf die bürgerliche Kunst, den bürgerlichen Literaturmarkt und die »Kunstliteratur« (Fischer) überhaupt.

      Heute nimmt die Zeugnisse »einer politisch eingreifenden Arbeiterschreibkultur« (Gundel Mattenklott: Literatur von unten – die andere Kultur, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur [...], Bd. 12, hrsg. v. Klaus Briegleb/Sigrid Weigel, München/Wien 1992) niemand mehr zur Kenntnis. Was dort insgesamt und beispielsweise unter der Führung eines Peter Schütt (Sektion Hamburg) und mit tatkräftiger Unterstützung Wallraffs, Erika Runges oder Angelika Mechtels sowie gewerkschaftlich gefördert zusammengeschraubt wurde, rechtfertigt weiß Gott großräumigstes Verdrängen. Zu Beginn tauschten die Werkkreise Literatur der Arbeitswelt Bergmannsgedichte und sonstige soziale Lyrik aus (ein Sammelband hieß Wir tragen ein Licht durch die Nacht, die erste öffentliche Lesung lief am Karfreitag 1961 vom Stapel), dann folgten über den hochproletarischen Luchterhand Verlag Anthologien epischer Art, Gesprächsaufzeichnungen, Protokolle, Betriebstagebücher, Montagen und Flugblätter eingeschlossen, angelehnt an die operative Faktographie Tretjakows. Max von der Grün witterte die Gunst der Stunde und publizierte im Kielwasser der »lebendigen Schreibbewegung« (Mattenklott) das Romandebüt Männer in zweifacher Nacht (1962), und G. Wallraff kam dem Postulat, »die gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse der Arbeitenden zu verändern«, durch die unsterblichen 1966er Reportagen Wir brauchen Dich – Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben nach, gemäß seiner ziselierten Losung: »Wir wollen nicht Literatur als Kunst, sondern Wirklichkeit.«

      Eine »parteiliche, realistische Literatur, die ›schön, unterhaltend, spannend, komisch, pointiert, kräftig ausgemalt, zupakkend, einfach, nicht vereinfacht‹ ist« (Werkkreis-Lektorat), klang so: »Wenn ich noch mal zur Welt komme, dann nur als rotes Lämpchen, da weiß jeder, wer ich bin und was ich bedeute.« Das Kapital schrieb sich solche artistischen Widerstandshandlungen gegen Isolation, Krankheit, Entfremdung kaum hinter die Ohren, geschweige denn der Lohnsklave – so daß nach dem zehnjährigen Intermezzo Dieter Süverkrüp lieber die kindliche »Vision eines menschenfreundlichen Schwimmbads« (Mattenklott) ersann, um von der Beatnik-Rezeption (Kerouac, Burroughs, Ginsberg etc.) eingeholt und von Rolf Dieter Brinkmanns Undergroundoffensive (Acid, 1969, zus. mit Ralf Rainer Rygulla) vernichtend ins Abseits verwiesen zu werden.

      Nun, die Poprevolte der »Scene« grub abermals eine »veränderte Dimension des Bewußtseins« (Brinkmann) aus, diesmal mehr aus Comic-, Porno-, Werbungs- und LSD-Perspektive bzw. Antrieben »der Anal- und Geschlechtssphäre« (Mattenklott). Trumpf ist jetzt: »das Vorzeigen der Persönlichkeit«, der »versinnlichte Ausdruck«, die hybride, vor Versatzstücken wimmelnde und schillernde »Ästhetik der Oberfläche« (Brinkmann),


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