Alternativlos. Thomas Kirchner
Anfang in einem fundamentalen Missverständnis, dem die Mehrzahl der politischen Entscheidungsträger bis weit in die Krise hinein aufsaß. Sie interpretierten Griechenlands Schwierigkeiten fälschlicherweise als eine Wiederholung der Liquiditätsengpässe, die zuvor Banken geplagt hatten, und die durch staatliche Garantien mit minimalem Aufwand beseitigt werden konnten. Doch Griechenland ging nicht durch eine Liquiditätskrise, sondern war schlicht und einfach insolvent.
Insolvenz und Liquiditätsengpass können unter dem Sammelbegriff Zahlungsunfähigkeit zusammengefasst werden. In beiden Fällen ist ein Schuldner nicht in der Lage, fällige Zahlungen zu leisten. Der Unterschied liegt in der Ursache für die Zahlungsunfähigkeit: bei einem Liquiditätsengpass hat der Schuldner zwar ein ausreichendes Vermögen, um seine Schulden zu bedienen. Es ist jedoch langfristig angelegt, so dass es nicht ohne weiteres zu liquiden Barreserven auf einem Konto liquidiert werden kann.
Ein Beispiel dafür ist ein Schuldner, der eine Immobilie besitzt, die mehr wert ist als die ausstehende Hypothek. Wenn der Schuldner keine ausreichenden Barreserven hat, kann er fällige Kreditzahlungen nicht leisten. Der Erlös aus dem Verkauf der Immobilie würde ausreichen, den Kredit zurückzuzahlen. Bis zur Fälligkeit der Zahlung lässt sich aber so ein Verkauf nicht arrangieren, und in vielen Fällen wäre der Verkauf auch wirtschaftlich gar nicht sinnvoll. Der Schuldner erleidet einen klassischen Liquiditätsengpass, der durch Garantien oder Überbrückungskredite behoben werden kann. Ein kurzfristiger Kredit oder eine Stundung der Zahlung bis zum Verkauf der Immobilie reicht aus. Die Hypothek würde keinen Verlust verursachen.
Im Gegensatz dazu ist ein Schuldner insolvent, wenn in diesem Beispiel selbst der Verkauf der Immobilie nicht ausreichen würde, um die Schulden zurückzuzahlen. Kein Überbrückungskredit kann die Solvenz des Schuldners wieder herstellen.
Bild 1: Ausgaben, Garantien und tatsächlich Kosten der Rettungsmaßnahmen in Prozent des Bruttosozialprodukts; Quelle: Stéphanie Marie Stolz, Michael Wedow: Extraordinary Measures in Extraordinary Times. Public Measures In Support of the Financial Sector in the EU and the United States. Occasional Paper Series No 117, Europäische Zentralbank, Frankfurt am Main, Juli 2010
Die Bankenkrise der Jahre 2008 und 2009 war ein typischer Liquiditätsengpass, der durch Garantien behoben werden konnte. Vielen entging damals, dass ein Großteil der gewaltigen Beträge, die zur Bankenrettung bereitgestellt wurden, in Wirklichkeit Garantien waren, die nie abgerufen werden mussten. Es wurde also nicht wirklich Geld ausgegeben, obwohl die Garantien in der staatlichen Buchführung als Ausgaben deklariert werden mussten. Nur bei einem Teil der Beträge handelte es sich um tatsächliche Ausgaben, wie beispielsweise bei der Stützung der Hypo Real Estate. Bild 1 zeigt eine Übersicht über die Kosten der weltweiten Hilfsprogramme. Der weit größte Teil der deutschen Hilfspakete bestand aus Garantien, die nie abgerufen wurden – genau der Effekt, den man bei der erfolgreichen Bekämpfung einer Liquiditätskrise erwarten würde. In der Öffentlichkeit erhält sich trotzdem der Eindruck, die gewaltigen Summen der Garantien wären Steuergelder, die an die Banken ausgezahlt wurden. Leider gibt es mehr als genug Politiker, die diesen falschen Eindruck absichtlich forcieren.
Im Gegensatz zur Bankenkrise der Jahre 2008 bis 2009 erlebte Griechenland zu keiner Zeit einen Liquiditätsengpass, sondern war schlicht und einfach insolvent. Seine Schulden hatten bereits zu Beginn der Krise ein Niveau erreicht, auf dem eine Rückzahlung angesichts der schlechten wirtschaftlichen Aussichten nicht mehr realistisch war. Doch leider verstanden Politik und Presse den wahren Grund der griechischen Probleme nicht. Sie erwarteten, mit einem oder auch ein paar Rettungsschirmen ein einfaches Liquiditätsproblem überbrücken zu können. Gebetsmühlenartig wurden Durchhalteparolen wiederholt: anfangs wurde der Öffentlichkeit erzählt, Griechenland könne sich spätestens 2011 wieder bei Privatanlegern über die Märkte Geld besorgen. Bis dahin sollten die Rettungsschirme Überbrückungsgeld zur Verfügung stellen. Aus 2011 wurde dann 2012, und schließlich – kam der Schuldenschnitt.
Woher diese Fehlinterpretation stammte, ist schwer zu sagen. Vielleicht waren Politiker und Presse zu sehr auf die gerade erst beigelegte Bankenkrise fixiert, in der Liquiditätsspritzen die Gesundung des Systems einleiten konnten. Vielleicht haben sie auch wirklich nicht den fundamentalen Unterschied dieser zwei verschiedenen Arten von Zahlungsunfähigkeit verstanden. Vielleicht beides.
Während die Politik die Ursache der Krise fehlinterpretierte und auf das Prinzip Hoffnung setzte, hatten sich die Kreditgeber Griechenlands mit der Materie intensiver auseinandergesetzt. Kreditgeber können sehr genau zwischen Liquiditätsproblemen und mangelnder Solvenz differenzieren. Einschätzungen dieser Art sind schließlich ihr tägliches Brot.
Als der neu gewählte griechische Finanzminister Giorgos Papakonstantinou im Oktober 2009 einräumte, dass Wahlkampfversprechen über Mehrausgaben gebrochen würden, weil das Haushaltsdefizit bei 12 oder 13 Prozent anstatt der bis dahin behaupteten sechs Prozent lag, verstanden Anleger schnell, dass eine Rückzahlung der Staatsschulden bei einer schwächelnden Wirtschaft schwierig würde.
Folglich investierte kaum noch jemand in neue griechische Anleihen. Die Märkte funktionierten genau so, wie man erwarten würde. Ein mangelndes Angebot an Kapital führt zu steigenden Zinsen für den griechischen Staat. Kapitalismuskritiker hingegen sehen dies als eine Fehlfunktion des Markts. Sie halten die Zurückhaltung der Investoren trotz des vorhersehbaren Zahlungsausfalls für irrational.
Auch in den Rating-Agenturen wurde den Analysten klar, dass eine Rückzahlung von Griechenlands Schuldenberg schwierig werden könnte. Zwei Tage nach dem Offenbarungseid des Finanzministers stufte die Rating-Agentur Fitch Griechenland von A auf ein immer noch gutes A- herab, also das gleiche Niveau, das derzeit Polen hat.22
Als sich Griechenlands Haushaltslage immer weiter verschlechterte und Hilfsmaßnahmen beschlossen wurden, stiegen die Zinsen und parallel dazu passten die Analysten die Bonitätseinstufungen an. Im April 2010 stufte S&P die Bonität Griechenlands zum ersten Mal auf Ramschniveau: BB+, also gerade einmal knapp 30 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Zahlungsausfall kommen könnte. Das ist nicht gerade ein Weltuntergangsszenario.
Trotzdem vernahm man aus Athen das Wort unerklärlich und Ähnliches aus Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten. Die Rating-Agenturen verstünden Europa nicht, manch einer vermutete gar ein angelsächsisches Komplott. Es hieß gar, Finanzmärkte würden die Politik vor sich hertreiben.
Anstatt auf eine geordnete Insolvenz hinzuarbeiten, wurden von der Politik immer neue Rettungsschirme gespannt. Rating-Agenturen prophezeiten durch ihre Abwertungen eine hohe Wahrscheinlichkeit eines Verlusts für Anleger. Investoren verkauften ihre griechischen Staatsanleihen zu Preisen, die auf einen Schuldenschnitt hindeuteten. Lediglich die Politik propagierte noch die Sicherheit der griechischen Schulden, für die man nur kurzfristige Überbrückungskredite brauche.
Ich habe bereits Anfang 2011 Analysen gesehen, in denen Analysten aus der Privatwirtschaft einen Schuldenschnitt von 60 bis 90 Prozent vorhersagten. Doch die Politik sträubte sich noch lange gegen eine realistische Einschätzung der Lage. Es dauerte bis Mitte 2011, bis überhaupt eine Reduzierung der Schulden Griechenlands in der Öffentlichkeit ins Gespräch gebracht wurde, zunächst zaghaft mit einem Schuldenschnitt von mickrigen 20 Prozent. Erst im Oktober 2011 ging es dann um eine Reduzierung des Nominalwertes der Schulden um fünfzig Prozent, was aufgrund der Ausgestaltung jedoch einem Wertverlust von 70 bis 80 Prozent entsprach.
Manche Politiker waren sich über den Unterschied zwischen Zahlungsunfähigkeit und Insolvenz auch noch nicht im Klaren, als Griechenland schon auf eine Umschuldung hinarbeitete. Noch im Februar 2012 behauptete Peer Steinbrück, der als Finanzexperte gilt und es eigentlich besser wissen müsste, dass eine schnelle Einführung von Eurobonds Zeit schaffen würde, auf eine geordnete Insolvenz Griechenlands hinzuarbeiten. Doch Eurobonds hätten eine Insolvenz eben gerade verhindern sollen.
Wenn die Lage erst einmal stabilisiert ist, besteht kein Grund mehr für eine Insolvenz, denn der wirtschaftliche Druck für einen Schuldenschnitt geht zurück. Steinbrück glaubte, es handle