Die Tugend des Egoismus. Ayn Rand

Die Tugend des Egoismus - Ayn Rand


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1964

      P.S. Nathaniel Branden steht nicht länger mit mir, meiner Philosophie oder mit The Objectivist (früher: The Objectivist Newsletter) in Verbindung.

       New York, November 1970

      A. R.

      1. Die objektivistische Ethik

      Vortrag von Ayn Rand an der University of Wisconsin beim Symposium „Ethik in unserer Zeitin Madison, Wisconsin, am 9. Februar 1961

      Da ich über die objektivistische Ethik sprechen soll, werde ich zu Anfang ihren besten Vertreter zitieren – John Galt aus „Der Streik“:

      „Jahrhunderte der durch euren Moralkodex heraufbeschworenen Notzeiten und Katastrophen hindurch habt ihr gejammert, euer Kodex sei gebrochen worden und die Notzeiten seien die Strafe dafür, dass die Menschen zu schwach und zu eigennützig sind, das erforderliche Blut zu vergießen. Ihr habt den Menschen verflucht, ihr habt das Dasein verflucht, ihr habt diese Erde verflucht, doch nie habt ihr gewagt, euren Kodex in Frage zu stellen… während ihr weiter gejammert habt, dass euer Kodex gut, die menschliche Natur aber nicht gut genug sei, ihn zu befolgen. Und keiner stand auf und fragte: Gut? Gemessen woran?

      Ihr wolltet wissen, wer John Galt ist. Ich bin der, der diese Frage gestellt hat.

      Ja, dies ist eine Zeit moralischer Krise… Euer Moralkodex hat seinen Höhepunkt erreicht, die Sackgasse, in die er führt. Und wenn ihr weiterleben wollt, dann müsst ihr nicht zurückkehren zur Moral – ihr, die ihr nie eine gekannt habt –, sondern sie entdecken.“1

      Was ist Moral oder Ethik? Ein Wertekodex, der die Handlungen und Entscheidungen des Menschen leiten soll – jene Handlungen und Entscheidungen, die den Zweck und den Lauf seines Lebens bestimmen. Ethik als Wissenschaft befasst sich mit der Entdeckung und der Definition eines solchen Kodexes.

      Als Vorbedingung für die Definierung, die Bewertung und die Akzeptanz eines bestimmten ethischen Systems muss man zuerst die Frage stellen: Warum braucht der Mensch einen Wertekodex?

      Lassen Sie mich das ausführen. Die erste Frage lautet nicht: Welchen bestimmten Wertekodex soll der Mensch annehmen? Die erste Frage lautet: Braucht der Mensch überhaupt Werte – und warum?

      Ist der Begriff von Wert, von „gut oder böse“, eine willkürliche menschliche Erfindung, ohne Bezug auf, ohne Herleitung aus und nicht gestützt auf Tatsachen der Realität – oder basiert er auf einer metaphysischen Tatsache, auf einer unabänderlichen Bedingung des menschlichen Daseins? (Ich benutze das Wort „metaphysisch“ im Sinne von: In Bezug auf die Realität, auf das Wesen der Dinge, auf das Sein.) Verlangt eine willkürliche menschliche Konvention, eine bloße Gewohnheit, dass der Mensch seine Handlungen anhand von Prinzipien leiten muss – oder gibt es eine Tatsache der Realität, die ebendies verlangt? Ist Ethik das Reich von Launen, also von persönlichen Emotionen, gesellschaftlichen Geboten und mystischen Offenbarungen – oder das Reich der Vernunft? Ist Ethik ein subjektiver Luxus – oder eine objektive Notwendigkeit?

      In der traurigen Geschichte der menschlichen Ethik haben die Moralphilosophen – mit wenigen und erfolglosen Ausnahmen – Ethik als das Reich von Launen, des Irrationalen, angesehen. Einige taten es ausdrücklich und absichtlich, andere implizit und durch Unterlassung. Eine „Laune“ ist ein Wunsch, dessen Ursache man nicht kennt und um dessen Herkunft man sich nicht schert.

      Kein Philosoph hat bisher eine rationale, objektiv beweisbare, wissenschaftliche Antwort auf die Frage gegeben, warum der Mensch einen Wertekodex braucht. Solange diese Frage unbeantwortet blieb, konnte kein rationaler, wissenschaftlicher, objektiver Wertekodex entdeckt oder definiert werden. Der größte aller Philosophen, Aristoteles, hielt Ethik nicht für eine exakte Wissenschaft; er gründete sein ethisches System auf Beobachtungen der edlen und weisen Menschen seiner Zeit, ohne die Frage zu beantworten, warum sie sich so verhielten und warum er sie für edel und weise hielt.

      Die meisten Philosophen hielten die Existenz der Ethik für selbstverständlich, für eine gegebene historische Tatsache, und beschäftigten sich nicht mit der Entdeckung ihrer metaphysischen Ursache oder ihrer objektiven Stichhaltigkeit. Viele von ihnen versuchten das traditionelle Monopol des Mystizismus im Bereich der Ethik zu brechen und eine angeblich rationale, wissenschaftliche, nichtreligiöse Moral zu definieren. Doch ihre Versuche bestanden darin, sie aus gesellschaftlichen Gründen zu rechtfertigen und Gott lediglich durch Gesellschaft zu ersetzen.

      Die bekennenden Mystiker hielten den willkürlichen, unergründlichen „Willen Gottes“ für den Maßstab des Guten und den Beweis ihrer Ethik. Die Neomystiker ersetzten ihn durch „das Wohl der Gesellschaft“ und endeten daher mit einer Zirkelschlussdefinition wie „der Maßstab des Guten ist das, was gut für die Allgemeinheit ist.“ Dies bedeutet als logische Folge – und heute in weltweiter Praxis – dass „die Gesellschaft“ über allen ethischen Prinzipien steht, da sie die Quelle, der Maßstab und das Kriterium für Moral ist, da „das Gute“ das ist, was sie will und was immer sie als ihr Wohlergehen und Vergnügen ausgibt. Dies würde bedeuten, dass „die Gesellschaft“ tun dürfte, was sie wollte, da „das Gute“ das ist, was immer sie will, weil sie es will. Und da es eine solche Entität wie „Gesellschaft“ nicht gibt, da eine Gesellschaft nur aus einer Anzahl individueller Menschen besteht, würde dies bedeuten, dass einige Menschen (die Mehrheit oder eine Gang, die sich als deren Sprecher ausgibt) ethisch dazu berechtigt wären, irgendwelchen Launen (oder Gräueltaten) nachzugehen, während andere moralisch dazu verpflichtet wären, lebenslang den Wünschen dieser Gang zu dienen.

      Dies kann man kaum rational nennen, und doch haben die meisten Philosophen erklärt, dass die Vernunft gescheitert sei, dass Ethik außerhalb der Macht der Vernunft stehe, dass man keine rationale Ethik definieren könne, und dass der Mensch im Bereich der Ethik – in der Wahl seiner Werte, seiner Handlungen, seines Strebens und seiner Lebensziele – von etwas anderem als Vernunft geleitet werden müsse. Wovon? Glaube, Instinkt, Intuition, Offenbarung, Gefühl, Geschmack, Trieb, Wunsch, Laune. Heute wie damals stimmen die meisten Philosophen darin überein, dass der ultimative Maßstab der Ethik die Laune sei (sie nennen es „willkürliches Postulat“ oder „subjektive Entscheidung“ oder „gefühlsmäßige Verpflichtung“) – und es geht nur um wessen Laune? Die eigene oder die der Gesellschaft oder die des Diktators oder die Gottes?“ Worüber auch sonst sie sich uneinig sein mögen, die heutigen Moralphilosophen sind sich einig, dass Ethik ein subjektives Thema ist und dass die drei daraus ausgeschlossenen Sachen Vernunft, Verstand und Realität sind.

      Wenn Sie sich wundern, warum die Welt heute immer mehr zur Hölle wird, so ist dies der Grund.

      Wenn Sie die Zivilisation retten wollen, dann müssen Sie diese Prämisse der modernen – aber eigentlich urzeitlichen – Ethik bekämpfen.

      Um die Grundprämisse einer Disziplin zu bekämpfen, muss man am Anfang beginnen. In der Ethik muss man mit der Frage beginnen: Was sind Werte? Und warum braucht der Mensch Werte?

      Ein „Wert“ ist das, was man erlangen und/oder bewahren will. Der Begriff „Wert“ ist kein Grundsatz; er setzt eine Antwort auf die Frage „von Wert für wen und wofür?“ voraus. Er setzt eine Entität voraus, die in der Lage ist, ein Ziel angesichts einer Alternative zu erlangen. Wo es keine Alternative gibt, sind keine Ziele und Werte möglich.

      Ich zitiere aus Galts Rede:

      „Es gibt nur eine fundamentale Alternative im Universum: Sein oder Nichtsein – und sie gilt nur für eine einzige Art von Entitäten: Für lebende Organismen. Die Existenz von unbelebter Materie ist unbedingt, die Existenz von Leben ist es nicht; es hängt ab von einer bestimmten Handlungsweise. Materie ist unzerstörbar – ihre Form ändert sich, doch sie kann nicht aufhören zu existieren. Nur ein lebendiger Organismus sieht sich einer ständigen Alternative gegenüber: Leben oder Tod. Leben ist ein Prozess selbsterhaltenden und selbsterzeugten Handelns. Wenn ein Organismus dabei versagt, stirbt er; seine chemischen Bestandteile bleiben, doch das Leben hört auf zu existieren. Erst


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