Die Tugend des Egoismus. Ayn Rand

Die Tugend des Egoismus - Ayn Rand


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sind nicht einzelne, direkte Antworten auf einzelne, separate Reize, sondern werden geleitet von einem integrierten Erkennen der wahrnehmbaren Realität, die es konfrontiert. Es kann die unmittelbar anwesenden wahrnehmbaren Gegenstände begreifen und automatische Wahrnehmungsverknüpfungen bilden – doch kann es nicht darüber hinausgehen. Es kann bestimmte Fähigkeiten für spezifische Situationen lernen, etwa zu jagen oder sich zu verstecken, was die Eltern höherer Tiere ihren Jungen beibringen. Doch ein Tier hat keine Wahl in Bezug auf das Wissen und die Fähigkeiten, die es erwirbt; es kann sie nur Generation für Generation wiederholen. Außerdem hat ein Tier keine Wahl in Bezug auf den Wertmaßstab, der seine Handlungen leitet: Seine Sinne stellen ihm einen automatischen Wertekanon zur Verfügung, ein automatisches Wissen darüber, was gut oder böse ist, was seinem Leben nützt oder es gefährdet. Ein Tier hat nicht die Fähigkeit, sein Wissen zu erweitern oder ihm auszuweichen. In Situationen, in denen sein Wissen unzureichend ist, stirbt es – wie z.B. ein Tier, das wie gelähmt vor einem herannahenden Zug auf den Schienen stehen bleibt. Doch solange es lebt, handelt ein Tier nach seinem Wissen, mit automatischer Gewissheit und ohne Entscheidungsfreiheit: Es kann sein eigenes Bewusstsein nicht aussetzen, es kann sich nicht entscheiden, nicht wahrzunehmen, es kann seinen Wahrnehmungen nicht ausweichen, es kann sein eigenes Wohl nicht ignorieren, es kann sich nicht entscheiden, das Böse zu wählen und als sein eigener Zerstörer zu handeln.

      Der Mensch hat keinen automatischen Überlebenskodex. Er hat keine automatische Handlungsanleitung, keinen automatischen Wertekanon. Seine Sinne sagen ihm nicht automatisch, was gut oder böse für ihn ist, was sein Leben fördert oder es gefährdet, welche Ziele er verfolgen soll und durch welche Mittel sie erreicht werden können, von welchen Werten sein Leben abhängt oder welches Vorgehen es benötigt. Sein eigenes Bewusstsein muss die Antworten auf all diese Fragen entdecken – doch sein Bewusstsein funktioniert nicht automatisch. Der Mensch, die am höchsten entwickelte lebende Spezies auf Erden – das Wesen, dessen Bewusstsein eine grenzenlose Kapazität für den Erwerb von Wissen hat – der Mensch ist die einzige lebende Entität, die ohne Garantie geboren wird, bewusst zu bleiben. Der besondere Unterschied zu allen anderen lebenden Spezies ist die Tatsache, dass sein Bewusstsein willentlich ist.

      Genauso wie die automatischen Werte, die die Funktionen einer Pflanze leiten, ausreichend für ihr Überleben sind, jedoch nicht für das eines Tieres, genauso sind die automatischen Werte, die ein sinnlich-wahrnehmender Bewusstseinsmechanismus einem Tier gibt, ausreichend, um ein Tier zu leiten – aber nicht ausreichend, um den Menschen zu leiten. Die Handlungen des Menschen und sein Überleben brauchen die Leitung durch begriffliche Werte, abgeleitet von begrifflichem Wissen. Doch begriffliches Wissen erwirbt man nicht automatisch.

      Ein „Begriff“ ist eine geistige Integration von zwei oder mehr wahrgenommenen Gegenständen, welche durch einen Prozess der Abstraktion isoliert und mittels einer spezifischen Definition vereint werden. Jedes Wort der menschlichen Sprache (mit der Ausnahme von Eigennamen) bezeichnet einen Begriff, eine Abstraktion, die für eine unbegrenzte Anzahl von Gegenständen einer spezifischen Art steht. Durch die Organisation seines wahrgenommenen Materials in Begriffe, und dieser Begriffe in weitere und weitere Begriffe ist der Mensch fähig, eine unbegrenzte Menge an Wissen zu begreifen, abzuspeichern, zu identifizieren und zu integrieren – ein Wissen, das über die unmittelbaren Wahrnehmungen eines bestimmten, unmittelbaren Momentes hinausreicht. Die Sinnesorgane des Menschen funktionieren automatisch; das Gehirn des Menschen integriert seine Sinnesdaten automatisch in Wahrnehmungen; doch der Prozess, seine Wahrnehmungen in Begriffe zu integrieren – der Prozess der Abstraktion und der Begriffsbildung – ist nicht automatisch.

      Der Prozess der Begriffsbildung besteht nicht bloß aus dem Begreifen von wenigen simplen Abstraktionen, wie „Stuhl“, „Tisch“, „heiß“, „kalt“ und aus dem Erlernen von Sprache. Er besteht aus einer Methode, sein Bewusstsein zu benutzen, die man am besten mit dem Wort „Begriffsbildung“ ausdrücken kann. Dies ist nicht der passive Zustand des Registrierens zufälliger Eindrücke. Es ist ein aktiv unterstützter Prozess der begrifflichen Identifizierung der eigenen Eindrücke, des Integrierens aller Ereignisse und aller Beobachtungen in einen begrifflichen Kontext, des Begreifens von Zusammenhängen, Unterschieden und Gemeinsamkeiten im eigenen Sinnesmaterial und des Abstrahierens dieser in neue Begriffe, des Herleitens, des Beobachtens, des Schlussfolgerns, des Stellens neuer Fragen, des Entdeckens neuer Antworten und der Erweiterung des Wissens in eine ständig wachsende Summe. Die Fähigkeit, die diesen Prozess leitet, das Vermögen, das mittels Begriffen arbeitet, ist der Verstand. Der Prozess ist das Denken.

      Die Vernunft ist das Vermögen, das das Sinnesmaterial identifiziert und integriert. Sie ist eine Fähigkeit, zu deren Ausübung sich der Mensch entscheiden muss. Denken ist keine automatische Funktion. In jeder Stunde und jedem Bereich seines Lebens kann der Mensch denken oder dieser Anstrengung ausweichen. Denken erfordert einen Zustand der voll fokussierten Aufmerksamkeit. Die Handlung, sein Bewusstsein zu fokussieren, ist willentlich. Der Mensch kann seinen Geist aktiv und zielgerichtet auf die Realität fokussieren – oder er kann diesen Fokus aussetzen, in einem halbbewussten Dämmerzustand treiben, bloß auf irgendeinen Reiz des unmittelbaren Moments reagieren und der Gnade seines ungerichteten sinnlich-wahrnehmenden Mechanismus und zufälliger Assoziationen ausgeliefert sein.

      Wenn der Mensch den Fokus seines Verstandes ausschaltet, kann man ihn in einem nichtmenschlichen Sinn des Wortes bewusst nennen, da er ja Sinnesdaten und Wahrnehmungen erlebt. Doch im Sinn des Wortes, wie es auf Menschen anwendbar ist – im Sinne eines Bewusstseins, welches sich der Realität bewusst ist und mit ihr umzugehen weiß, eines Bewusstseins, das fähig ist, die Handlungen für das Überleben eines menschlichen Wesens zu leiten – ist ein unfokussierter Geist nicht bewusst.

      Psychologisch gesehen ist die Entscheidung „denken oder nicht“ die Wahl zwischen „fokussieren oder nicht“. Existentiell gesehen ist die Entscheidung „fokussieren oder nicht“ die Wahl zwischen „bewusst sein oder nicht“. Metaphysisch gesehen ist die Entscheidung „bewusst sein oder nicht“ die Wahl zwischen Leben oder Tod.

      Bewusstsein ist für die Organismen, die es besitzen, die Überlebensgrundlage. Für den Menschen ist die Überlebensgrundlage der Verstand. Der Mensch kann nicht wie ein Tier durch die Leitung bloßer Wahrnehmungen überleben. Das Gefühl von Hunger wird ihm sagen, dass er Nahrung benötigt (falls er gelernt hat, es als „Hunger“ zu identifizieren), doch es wird ihm nicht sagen, wie er seine Nahrung erlangen kann oder welche Nahrung gut oder giftig für ihn ist. Ohne einen Denkprozess kann er nicht einmal seine simpelsten physischen Bedürfnisse befriedigen. Er braucht einen Denkprozess, um zu entdecken, wie man pflanzt und sein Essen anbaut oder wie man Waffen für die Jagd herstellt. Seine Wahrnehmung führt ihn vielleicht zu einer Höhle, wenn es eine gibt – doch um den simpelsten Unterschlupf zu bauen, braucht er einen Denkprozess. Weder Wahrnehmungen noch „Instinkte“ werden ihm sagen wie man Feuer macht, Stoff webt, Werkzeuge schmiedet, ein Rad oder ein Flugzeug baut, eine Blinddarmoperation durchführt, eine elektrische Glühbirne, eine Elektronenröhre oder einen Teilchenbeschleuniger baut oder eine Schachtel Streichhölzer produziert. Und doch hängt sein Leben von solchem Wissen ab – und nur ein willentlicher Akt seines Bewusstseins, ein Denkprozess, kann das leisten.

      Aber die Verantwortung des Menschen geht noch weiter: Ein Denkprozess ist weder automatisch, noch „instinktiv“, noch unwillkürlich – noch unfehlbar. Der Mensch muss ihn initiieren, ihn aufrechterhalten und die Verantwortung für seine Ergebnisse tragen. Er muss entdecken, wie man zwischen wahr oder falsch unterscheiden und die eigenen Fehler korrigieren kann; er muss entdecken, wie er die Stichhaltigkeit seiner Begriffe, seiner Feststellungen und seines Wissens erkennen kann; er muss die Regeln des Denkens, die Gesetze der Logik, entdecken um damit sein Denken zu leiten. Die Natur gibt ihm keine automatische Garantie für die Wirksamkeit seiner geistigen Anstrengung.

      Nichts ist dem Menschen auf der Erde gegeben, außer einem Potential und dem Material um es zu realisieren. Das Potential besteht aus einer überragenden Maschine: Seinem Bewusstsein; doch es ist eine Maschine ohne Zündkerze, eine Maschine deren eigener Wille ihre Zündkerze, ihr Anlasser und Fahrer sein muss; der Mensch muss entdecken, wie man sie benutzt und er selbst muss sie in ständiger Aktion halten. Das Material ist das gesamte


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