Die Tugend des Egoismus. Ayn Rand
geboren; doch sind beide bei Geburt „Tabula rasa“. Das Erkenntnisvermögen des Menschen, sein Geist, bestimmt den Inhalt beider. Der emotionale Mechanismus des Menschen ist wie ein Computer, den der Verstand programmieren muss – und das Programm besteht aus den Werten, die sein Geist wählt.
Aber da die Arbeit des Geistes nicht automatisch ist, sind die Werte des Menschen – wie all seine Prämissen – entweder das Produkt seines Denkens oder seiner Unterlassung: Der Mensch wählt seine Werte durch einen bewussten Denkprozess – oder akzeptiert sie durch dessen Unterlassung, durch unterbewusste Assoziationen, durch Glaube, durch jemandes Autorität, durch eine Form gesellschaftlicher Osmose oder blinder Imitation. Die Gefühle eines Menschen werden durch seine Prämissen produziert, seien sie nun bewusst oder unterbewusst, explizit oder implizit.
Die Fähigkeit, zu fühlen, dass etwas gut oder böse für ihn ist, unterliegt nicht der Entscheidungsfreiheit des Menschen – doch was er für gut oder böse halten wird, was ihm Freude oder Schmerz geben wird, was er lieben oder hassen, begehren oder fürchten wird, hängt von seinem Wertmaßstab ab. Wenn er irrationale Werte wählt, verwandelt er seinen emotionalen Mechanismus von seinem Beschützer zu seinem Zerstörer. Das Irrationale ist das Unmögliche; es widerspricht den Tatsachen der Realität; Tatsachen können nicht durch einen Wunsch verändert werden, doch sie können den Wünschenden zerstören. Wenn ein Mensch Widersprüche wünscht und verfolgt – wenn er seinen Kuchen behalten und ihn gleichzeitig essen will – löst er sein Bewusstsein auf; er verwandelt sein Innenleben zu einem Bürgerkrieg blinder Mächte, die in dunklen, unzusammenhängenden, sinnlosen Konflikten verstrickt sind (was heute bezeichnenderweise der innere Zustand der meisten Menschen ist).
Glück ist der Bewusstseinszustand, der aus der Erlangung der eigenen Werte folgt. Wenn ein Mensch produktive Arbeit wertschätzt, ist sein Glück der Maßstab seines Erfolges im Dienste seines Lebens. Aber wenn ein Mensch Zerstörung wertschätzt, wie ein Sadist, oder Selbstzerstörung, wie ein Masochist, oder Leben jenseits des Grabes, wie ein Mystiker, oder sinnlose „Kicks“, wie der Fahrer eines Rennwagens, so ist sein angebliches Glück der Maßstab seines Erfolges im Dienste der eigenen Zerstörung. Ergänzend muss hier gesagt werden, dass man den emotionalen Zustand all dieser Irrationalisten nicht wirklich als Glück oder Freude ansehen kann: Es ist bloß ein Moment der Erleichterung von ihrem chronischen Angstzustand.
Weder Leben noch Glück können durch das Streben nach irrationalen Launen erlangt werden. Genau wie es dem Menschen freigestellt ist, durch zufällige Mittel überleben zu wollen, sei es als Schmarotzer, als Schnorrer oder als Räuber, es ihm aber nicht freigestellt ist, damit über die Dauer des Augenblickes Erfolg zu haben, genauso ist es ihm freigestellt, sein Glück in irrationalen Betrügereien, in Launen, Trugschlüssen oder hirnlosen Ausflüchten vor der Wirklichkeit zu suchen, aber nicht freigestellt, damit über die Dauer des Augenblickes hinaus Erfolg zu haben oder den Konsequenzen zu entkommen. Ich zitiere aus Galts Rede: „Glück ist widerspruchsfreie Freude; Freude ohne Schuld und Reue; Freude, die nicht unvereinbar ist mit euren Werten und die nicht eurer Zerstörung dient… Glück ist nur möglich für einen rationalen Menschen, einen Menschen, der nur rationale Ziele erstrebt, nur rationale Werte sucht und seine Freude nur in rationalem Handeln findet.“
Die Aufrechterhaltung des Lebens und das Streben nach Glück sind nicht zwei separate Bereiche. Das eigene Leben als höchsten Wert und das eigene Glück als höchsten Zweck anzusehen, sind zwei Aspekte der gleichen Leistung. Existenziell gesehen ist das Streben nach rationalen Zielen die Aufrechterhaltung des eigenen Lebens; psychologisch gesehen ist das Resultat, die Belohnung und seine Begleiterscheinung ein Zustand des Glücks. Durch das Empfinden von Glück lebt man sein Leben, in jeder Stunde, jedem Jahr, der gesamten Lebensspanne. Und wenn man den Zustand des reinen Glücks erfährt, der ein Selbstzweck ist – der Zustand, der einen denken lässt: „Dafür lohnt es sich zu leben“ – dann begrüßt und bejaht man emotional die metaphysische Tatsache, dass das Leben ein Selbstzweck ist.
Aber die Beziehung von Ursache und Wirkung kann nicht umgekehrt werden. Nur wenn man „menschliches Leben“ als Grundsatz vertritt und nach den rationalen Werten strebt, die dafür nötig sind, kann man Glück erreichen – nicht wenn man „Glück“ als undefinierten, unreduzierbaren Grundsatz vertritt und dann versucht, nach dessen Führung zu leben. Wenn du das erreichst, was nach einem rationalen Wertmaßstab gut ist, wird es dich zwangsläufig glücklich machen; aber das, was dich nach einem undefinierten emotionalen Maßstab glücklich macht, ist nicht zwangsläufig das Gute. Wenn man „das, was dich glücklich macht“ als Handlungsanleitung hat, bedeutet das, nur durch die eigenen emotionalen Launen geleitet zu werden. Gefühle sind keine Werkzeuge der Wahrnehmung; von Launen geleitet zu werden – von Wünschen, deren Ursprung, Wesen und Bedeutung man nicht kennt – bedeutet, sich zu einem blinden Roboter zu machen, der von unerkennbaren Dämonen (den eigenen Ausflüchten) betrieben wird – zu einem Roboter, der mit seinem Kopf durch die Wand will, die er sich zu sehen weigert.
Dies ist der Trugschluss im Hedonismus – in jeder Variante des ethischen Hedonismus, sei er persönlich oder gesellschaftlich, individuell oder kollektiv. „Glück“ kann nur der Zweck der Ethik sein, aber nicht der Maßstab. Die Aufgabe der Ethik besteht darin, den richtigen Wertekanon des Menschen zu definieren und ihm somit die Mittel in die Hand zu geben, Glück zu erreichen. Die Aussage der hedonistischen Ethik, „der richtige Wert ist das, was immer dir Freude bereitet“, ist identisch mit „der richtige Wert ist, was immer dir beliebt“ – was ein Akt intellektueller und philosophischer Abdankung ist, der bloß die Überflüssigkeit der Ethik proklamiert und alle Menschen einlädt, die Sau rauszulassen.
Die Philosophen, die versuchten, einen angeblich rationalen Moralkodex zu definieren, ließen dem Menschen nur eine Wahl zwischen Launen: Das „egoistische“ Streben nach den eigenen Launen (wie die Ethik Nietzsches) oder „selbstloser“ Dienst an den Launen anderer (wie die Ethik von Bentham, Mill, Comte und allen gesellschaftlichen Hedonisten, ob sie dem Menschen nun erlauben, seine eigenen Launen denen Millionen anderer anzuschließen oder ihm anrieten, sich in einen völlig selbstlosen „Shmoo“ zu verwandeln, der gerne von anderen gefressen werden möchte).3
Wenn man einen „Wunsch“ ungeachtet seiner Natur oder seiner Ursache als ethischen Grundsatz und die Befriedigung jedweder Wünsche als ethisches Ziel akzeptiert (wie etwa „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“), gibt es für Menschen keine andere Wahl als einander zu hassen, zu fürchten und zu bekämpfen, weil ihre Wünsche und Interessen zwangsläufig kollidieren. Wenn „Wunsch“ der ethische Maßstab ist, ist der Wunsch des einen, zu produzieren und der Wunsch eines anderen, ihn auszurauben, von gleicher ethischer Gültigkeit; dann ist der Wunsch des einen, frei zu sein und der Wunsch eines anderen, ihn zu versklaven, von gleicher ethischer Gültigkeit; ebenso der Wunsch des einen, für seine Tugenden geliebt und bewundert zu werden, und der Wunsch eines anderen nach unverdienter Liebe und unverdienter Bewunderung. Und falls die Nichterfüllung irgendeines Wunsches ein Opfer darstellt, dann wird ein Mann, der ein Auto besitzt und dessen beraubt wird, geopfert, genauso wie der Mann, der ein Auto will oder „erstrebt“, das der Eigentümer ihm nicht geben will – und diese beiden „Opfer“ haben dann den gleichen ethischen Status. Wenn dem so ist, dann hat der Mensch nur die Wahl, zu rauben oder beraubt zu werden, zu zerstören oder zerstört zu werden, andere seinen Wünschen zu opfern oder sich selbst den Wünschen anderer zu opfern; dann besteht die einzige Alternative für den Menschen darin, ein Sadist oder ein Masochist zu sein.
Der moralische Kannibalismus aller hedonistischen und altruistischen Lehren liegt in der Prämisse, dass das Glück des Einen das Leid des anderen bedingt.
Heute halten die meisten Menschen diese Prämisse für etwas Absolutes, das nicht hinterfragt werden darf. Und wenn man vom Recht des Menschen spricht, nur für sich selbst, für sein eigenes rationales Selbstinteresse zu leben, nehmen die meisten Leute automatisch an, dass dieser von seinem Recht spräche, andere zu opfern. Solch eine Annahme ist ein Bekenntnis ihres eigenen Glaubens, dass es im Eigeninteresse eines Menschen läge, andere zu verletzen, zu versklaven, auszurauben oder zu ermorden – weshalb man diesem Eigeninteresse selbstlos entsagen müsse. Auf die Idee, dass dem Selbstinteresse des Menschen nur durch eine Beziehung