Die Tugend des Egoismus. Ayn Rand

Die Tugend des Egoismus - Ayn Rand


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nie gekommen. Und weder sie noch irgendjemand wird darauf kommen, solange wie der Begriff „rational“ aus dem Kontext von „Werten“, „Wünschen“, „Selbstinteresse“ und Ethik ausgelassen wird.

      Die objektivistische Ethik vertritt stolz den rationalen Egoismus – was bedeutet: Die Werte, die für das menschliche Überleben als Mensch erforderlich sind – nicht die Werte, die von den Sehnsüchten, Gefühlen, Wünschen oder Bedürfnissen irrationaler Wilder produziert werden, die nie über die urzeitliche Praxis von Menschenopfern hinausgewachsen sind, nie eine Industriegesellschaft entdeckt haben und sich kein anderes Eigeninteresse vorstellen können, als sich alles zu greifen, was gerade nicht niet- und nagelfest ist.

      Die objektivistische Ethik besagt, dass das menschliche Wohl keine Menschenopfer erfordert und nicht dadurch erreicht werden kann, dass irgendjemand geopfert wird. Sie besagt, dass die rationalen Interessen der Menschen nicht kollidieren – dass es keinen Interessenkonflikt zwischen Menschen gibt, die nicht das Unverdiente suchen, die weder Opfer bringen noch annehmen, die miteinander als Händler umgehen und Werte austauschen.

      Das Prinzip des Handels ist das einzige rationale moralische Prinzip für alle menschlichen Beziehungen, ob nun persönlich oder gesellschaftlich, privat oder öffentlich, geistig oder materiell. Es ist das Prinzip der Gerechtigkeit.

      Ein Händler ist ein Mensch, der verdient, was er bekommt und das Unverdiente weder gibt noch annimmt. Er behandelt Menschen nicht als Herren oder Sklaven, sondern als unabhängige ebenbürtige Entitäten. Er handelt mit Menschen durch freien, freiwilligen, ungezwungenen Austausch – ein Austausch, der beiden Parteien nach ihrem unabhängigen Urteil Nutzen bringt. Ein Händler erwartet nicht, für seine Fehler, sondern nur für seine Leistungen bezahlt zu werden. Er lädt anderen nicht die Last seiner Fehler auf und er verpfändet sein Leben nicht dadurch, dass er sich an die Fehler anderer bindet.

      Im geistigen Bereich (mit „geistig“ meine ich: Das menschliche Bewusstsein betreffend) sieht das Medium oder die Währung anders aus, aber das Prinzip ist dasselbe. Liebe, Freundschaft, Respekt und Bewunderung sind die emotionalen Antworten eines Menschen auf die Tugenden eines anderen, die geistige Bezahlung im Austausch für die persönliche, eigennützige Freude, die ein Mensch aus den charakterlichen Tugenden eines anderen zieht. Nur ein Untier oder ein Altruist würden behaupten, dass die Wertschätzung der Tugenden einer Person ein Akt der Selbstlosigkeit ist, dass es in Bezug auf das eigene egoistische Interesse keinen Unterschied macht, ob man es mit einem Genie oder einem Idioten zu tun hat, ob man sich mit einem Vorbild oder einen Nichtsnutz abgibt, ob man eine ideale Frau oder eine Schlampe heiratet. Im geistigen Bereich ist ein Händler ein Mensch, der nicht danach strebt, für seine Schwächen oder seine Fehler geliebt zu werden, sondern nur für seine Tugenden, und der seine Liebe nicht den Schwächen oder Fehlern anderer zuteilwerden lässt, sondern nur ihren Tugenden.

      Lieben heißt schätzen. Nur ein rational egoistischer Mensch, ein Mensch mit Selbstachtung, ist zu Liebe fähig – weil er der einzige Mensch ist, der feste, beständige, kompromisslose, unverfälschte Werte vertreten kann. Wer sich selbst nicht schätzt, kann nichts und niemanden schätzen.

      Nur auf der Basis des rationalen Egoismus – auf der Basis der Gerechtigkeit – können Menschen in einer freien, friedlichen, wohlhabenden, wohlwollenden und rationalen Gesellschaft zusammenleben.

      Kann der Mensch aus dem Leben in einer menschlichen Gesellschaft persönlichen Nutzen ziehen? Ja, falls es eine humane Gesellschaft ist. Die zwei großen Werte, die man aus dem Leben in einer Gesellschaft ziehen kann, sind Wissen und Handel. Der Mensch ist die einzige Spezies, die ihren Vorrat an Wissen von einer Generation zur nächsten übermitteln und erweitern kann; das Wissen, das dem Menschen potentiell zur Verfügung steht, ist größer als das Wissen, das ein Einzelner in seinem Leben je erwerben könnte; jeder Mensch zieht einen unermesslichen Nutzen aus dem Wissen, das andere entdeckt haben. Der zweite große Nutzen ist die Arbeitsteilung: Sie ermöglicht es dem Menschen, seine Anstrengungen einem bestimmten Arbeitsbereich zu widmen und mit anderen zu tauschen, die sich auf andere Bereiche spezialisieren. Diese Form der Kooperation erlaubt es den Menschen, die daran teilhaben, größeres Wissen, größere Fähigkeiten und einen größeren produktiven Ertrag aus ihren Anstrengungen zu bekommen, als wenn jeder von ihnen alles, was er braucht, selbst zu produzieren hätte, sei es auf einer einsamen Insel oder einer selbstversorgenden Farm.

      Doch genau diese Vorteile zeigen, begrenzen und definieren, welche Menschen füreinander von Wert sind und in welcher Art von Gesellschaft: Nur rationale, produktive, unabhängige Menschen in einer rationalen, produktiven, freien Gesellschaft. Schmarotzer, Schnorrer, Räuber, Untiere und Gangster können für einen Menschen nicht von Vorteil sein – wie er auch keinen Nutzen aus dem Leben in einer Gesellschaft ziehen kann, die nach deren Bedürfnissen, deren Forderungen und zu deren Schutz aufgebaut ist, eine Gesellschaft, die ihn als Opfertier behandelt, ihn für seine Tugenden bestraft und sie für deren Laster belohnt, was bedeutet: Eine Gesellschaft basierend auf der Ethik des Altruismus. Keine Gesellschaft kann für das Leben des Menschen von Wert sein, wenn der Preis dafür die Aufgabe seines Rechts auf das eigene Leben ist.

      Das politische Grundprinzip der objektivistischen Ethik lautet: Niemand darf die Anwendung körperlicher Gewalt gegen andere initiieren. Kein Mensch (und auch keine Gruppe, keine Gesellschaft und kein Staat) hat das Recht, die Rolle eines Kriminellen einzunehmen und die Anwendung körperlicher Gewalt gegen einen Menschen zu initiieren. Der Mensch hat das Recht, körperliche Gewalt nur als Vergeltung und nur gegen die anzuwenden, die ihre Anwendung initiieren. Das hierin enthaltene ethische Prinzip ist klar und deutlich: Es ist der Unterschied zwischen Mord und Selbstverteidigung. Ein Räuber will einen Wert (Reichtum) erlangen, indem er sein Opfer tötet; das Opfer wird nicht dadurch reicher, dass es einen Räuber tötet. Das Prinzip lautet: Niemand darf irgendeinen Wert von anderen erlangen, indem er zu körperlicher Gewalt greift.

      Der einzig legitime, moralische Zweck einer Regierung besteht darin, die Rechte des Menschen zu schützen, d.h. ihn vor körperlicher Gewalt zu schützen – sein Recht auf sein Leben, auf seine Freiheit, auf sein Eigentum und auf sein Streben nach Glück zu schützen. Ohne Eigentumsrechte sind keine anderen Rechte möglich.

      Ich werde nicht versuchen, in diesem kurzen Vortrag die politische Theorie des Objektivismus zu diskutieren. Wer daran interessiert ist, findet sie ausführlich in „Der Streik“ dargelegt. Ich möchte nur sagen, dass jedes politische System auf einer ethischen Theorie basiert und von ihr abgeleitet ist, und dass die objektivistische Ethik von dem politisch-ökonomischen System benötigt wird, welches heute auf der ganzen Welt zerstört wird, und zwar genau aus Mangel an einer moralischen, philosophischen Verteidigung und Gültigkeitserklärung: Das ursprüngliche amerikanische System, Kapitalismus. Wenn es zugrunde geht, wird es durch Unterlassung untergehen, und zwar unentdeckt und unidentifiziert: Kein anderes System ist je so verzerrt, verfälscht und verleumdet worden. Wenige Leute wissen heute, was Kapitalismus ist, wie er funktioniert und wie seine eigentliche Geschichte aussieht.

      Wenn ich „Kapitalismus“ sage, meine ich vollen, reinen, unkontrollierten, unregulierten Laissez-faire-Kapitalismus – mit einer Trennung von Staat und Wirtschaft, in gleicher Weise und aus den gleichen Gründen wie die Trennung von Staat und Kirche. Ein reines kapitalistisches System hat bis jetzt noch nie existiert, nicht einmal in Amerika; verschiedene Abstufungen von staatlicher Kontrolle haben es von Anfang an untergraben und verzerrt. Kapitalismus ist nicht das System der Vergangenheit. Es ist das System der Zukunft – wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll.

      Wer sich für die Geschichte und die psychologischen Ursachen des Verrats der Philosophen am Kapitalismus interessiert, der findet sie im Titelessay meines Buches „Für die Neuen Intellektuellen“.

      Dieser Vortrag beschränkt sich auf das Thema Ethik. Ich habe die nötigsten Grundsätze meines Systems präsentiert, doch sind sie ausreichend um anzudeuten, in welcher Weise die objektivistische Ethik die Moral des Lebens ist, im Gegensatz zu den drei ethischen Hauptrichtungen – der mystischen, der gesellschaftlichen und der subjektiven – welche die Welt in ihren gegenwärtigen Zustand gebracht haben und die die Moral des Todes repräsentieren.

      Diese


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