Die Tugend des Egoismus. Ayn Rand

Die Tugend des Egoismus - Ayn Rand


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Ethik besteht darin, ihn zu lehren, wie man als Mensch lebt.

      Die objektivistische Ethik betrachtet das Leben des Menschen als den Wertmaßstab – und das eigene Leben als den ethischen Zweck eines jeden individuellen Menschen.

      Der Unterschied zwischen „Maßstab“ und „Zweck“ in diesem Kontext ist folgender: Ein „Maßstab“ ist ein abstraktes Prinzip, das als Eichstrich dient, um die Entscheidungen beim Erlangen eines spezifischen Zwecks zu leiten.

      „Das, was für das Überleben des Menschen qua Mensch erforderlich ist“, ist ein abstraktes Prinzip, das für jeden individuellen Menschen gilt. Die Aufgabe, dieses Prinzip auf einen konkreten, spezifischen Zweck anzuwenden – den Zweck des für ein rationales Wesen angemessenen Lebens –, gilt für jeden individuellen Menschen, und das Leben, das er leben muss, ist sein eigenes.

      Der Mensch muss seine Handlungen, Werte und Ziele nach einem Maßstab wählen, der auf den Menschen passt – um den ultimativen Wert, den Selbstzweck, zu erreichen, zu erlangen, zu erfüllen und zu genießen: das eigene Leben.

      Ein Wert ist das, was man erlangen und/oder erhalten will – Tugend ist die Handlung, durch die man ihn erlangt und/oder erhält. Die drei Kardinalwerte der objektivistischen Ethik, die drei Werte, die zusammen die Verwirklichung des ultimativen Wertes – des eigenen Lebens – und die Mittel dazu sind, lauten: Vernunft, Zielstrebigkeit und Selbstachtung, mit ihren drei dazugehörigen Tugenden: Rationalität, Produktivität und Stolz.

      Produktive Arbeit ist der zentrale Zweck im Leben eines rationalen Menschen, der zentrale Wert, der die Hierarchie aller seiner sonstigen Werte integriert und bestimmt. Vernunft ist die Quelle, die Voraussetzung seiner produktiven Arbeit – Stolz ist das Resultat.

      Rationalität ist die Grundtugend des Menschen, die Quelle all seiner anderen Tugenden. Das Grundübel des Menschen, die Quelle all seiner Übel, ist der Akt, den Fokus seines Geistes auszuschalten – die Aussetzung seines Bewusstseins, was nicht Blindheit ist, sondern die Weigerung, etwas sehen zu wollen, nicht Unwissenheit, sondern die Weigerung, etwas wissen zu wollen. Irrationalität ist die Ablehnung des Mittels zum Überleben und ist daher der Weg zu blinder Zerstörung: Das, was verstandesfeindlich ist, ist lebensfeindlich.

      Die Tugend der Rationalität bedeutet, dass man den Verstand als einzige Wissensquelle, als einzigen Richter über Werte und als einzige Handlungsanleitung akzeptiert. Rationalität bedeutet die Verpflichtung zu einem Zustand der vollen, bewussten Aufmerksamkeit, der Aufrechterhaltung des vollen geistigen Fokus in allen Bereichen, in allen Entscheidungen und zu jeder Zeit. Sie bedeutet eine Verpflichtung zur vollen Wahrnehmung der Realität im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und zur ständigen, aktiven Erweiterung der eigenen Wahrnehmung, d.h. des eigenen Wissens. Sie bedeutet eine Verpflichtung zur Realität der eigenen Existenz, d.h. zu dem Prinzip, dass alle Ziele, Werte und Handlungen in der Realität stattfinden und dass man daher nie einen Wert oder einen Gedanken über die eigene Wahrnehmung der Realität stellen darf. Sie bedeutet eine Verpflichtung zu dem Prinzip, dass alle Überzeugungen, Werte, Ziele, Wünsche und Handlungen auf einem Denkprozess basieren, von ihm abgeleitet, durch ihn gewählt und durch ihn belegt werden müssen – einem so präzisen und gewissenhaften Denkprozess, einer so unnachgiebigen Anwendung von Logik, wie die eigenen Fähigkeiten es erlauben. Rationalität bedeutet, dass man die Verantwortung für die Bildung eigener Urteile übernimmt und man durch die Arbeit des eigenen Verstandes lebt (was die Tugend der Unabhängigkeit ist). Sie bedeutet, dass man die eigenen Überzeugungen niemals den Meinungen oder Wünschen anderer opfern darf (was die Tugend der Integrität ist), dass man nie versuchen darf, die Wirklichkeit in irgendeiner Form zu verdrängen (was die Tugend der Ehrlichkeit ist), dass man nie das Unverdiente suchen oder gewähren darf, weder materiell noch geistig (was die Tugend der Gerechtigkeit ist). Sie bedeutet, dass man sich nie Wirkungen ohne Ursachen wünschen darf und dass man nie etwas verursachen darf, ohne die volle Verantwortung für die Folgen zu übernehmen, dass man nie wie ein Zombie, d.h. ohne Kenntnis der eigenen Ziele und Motive handeln darf, dass man nie außerhalb eines Kontextes Entscheidungen treffen, Überzeugungen bilden oder Werte suchen darf, d.h. außerhalb von oder im Widerspruch zur integrierten Gesamtsumme des eigenen Wissens, und dass man vor allem niemals versuchen darf, mit Widersprüchen durchzukommen. Rationalität bedeutet die Ablehnung aller Formen des Mystizismus, d.h. jeder Inanspruchnahme irgendeiner nichtsinnlichen, nichtrationalen, undefinierbaren übernatürlichen Wissensquelle. Sie bedeutet eine Verpflichtung zur Vernunft, nicht als sporadische Laune in Einzelfällen oder speziellen Notlagen, sondern als permanente Lebensweise.

      Die Tugend der Produktivität ist die Anerkennung der Tatsache, dass produktive Arbeit der Prozess ist, durch den der Verstand das Leben des Menschen aufrechterhält, der Prozess, der den Menschen von der Notwendigkeit befreit, sich wie ein Tier an seine Umwelt anzupassen und ihm die Macht gibt, seine Umwelt an sich anzupassen. Produktive Arbeit ist der Weg zu unbegrenztem Erfolg und verlangt die höchsten Charaktereigenschaften des Menschen: Seinen Schöpfergeist, seinen Ehrgeiz, sein Durchsetzungsvermögen, seine Weigerung, Fehlschläge hinzunehmen und seine Entschlossenheit, die Erde nach dem Bild seiner Werte neu zu gestalten. „Produktive Arbeit“ bedeutet nicht die gedankenlose Ausführung irgendeines Berufs. Sie bedeutet das bewusst gewählte Streben nach einer produktiven Laufbahn in einer rationalen Unternehmung, groß oder bescheiden, auf jeder Stufe der Leistungsfähigkeit. Nicht der Grad der Fähigkeit oder der Umfang der Arbeit sind hier ethisch relevant, sondern die vollste und zweckmäßigste Ausübung des eigenen Verstandes.

      Die Tugend des Stolzes ist die Anerkennung der Tatsache, dass „der Mensch die charakterlichen Werte, die sein Leben erhaltenswert machen, ebenso schaffen muss wie die physischen Werte, die er zum Erhalt seines Lebens benötigt; dass der Mensch seine Seele ebenso wie seinen Reichtum aus eigener Kraft erschaffen muss“ („Der Streik“). Die Tugend des Stolzes kann am besten mit dem Begriff „moralischer Ehrgeiz“ beschrieben werden. Sie bedeutet, dass man sich das Recht verdienen muss, sich selbst durch Erreichen der eigenen moralischen Vollkommenheit als höchsten Wert anzusehen – was man dadurch erreicht, dass man nie einen Kodex irrationaler Werte annimmt, der unmöglich zu praktizieren ist und man es niemals unterlassen darf, die Werte zu praktizieren, die man als rational erkannt hat; dass man niemals eine unverdiente Schuld annehmen oder eine verdienen sollte, oder, wenn man sie verdient hat, sie niemals unberichtigt lässt; dass man sich nie passiv seinen Charakterfehlern hingibt; dass man niemals eine Sache, einen Wunsch, eine Angst oder eine augenblickliche Laune über die Wirklichkeit der eigenen Selbstachtung stellt. Und vor allem bedeutet sie die Zurückweisung der Rolle eines Opfertieres, die Zurückweisung jeder Lehre, die Selbstopferung als moralische Tugend oder Pflicht predigt.

      Das gesellschaftliche Grundprinzip der objektivistischen Ethik lautet, dass, so wie das Leben ein Selbstzweck ist, jeder lebende Mensch ein Selbstzweck und nicht das Mittel für die Zwecke oder das Wohlergehen anderer ist. Es bedeutet somit, dass der Mensch um seiner selbst willen leben muss und weder sich selbst für andere noch andere für sich opfert. Um seiner selbst willen leben bedeutet, dass das eigene Glück der höchste moralische Zweck des Menschen ist.

      In psychologischer Hinsicht wird das Bewusstsein mit der Frage des Überlebens nicht in Form von „Leben oder Tod“ konfrontiert, sondern in Form von „Freude oder Leid“. Freude ist der Zustand erfolgreichen Lebens. Leid ist das Warnsignal des Scheiterns und des Todes. So wie der Freude-Schmerz-Mechanismus des Körpers ein automatischer Indikator des Wohles oder des Schmerzes ist, ein Barometer der grundlegenden Alternative von Leben oder Tod, so ist der emotionale Mechanismus des Bewusstseins darauf geeicht, dieselbe Funktion auszuführen – wie ein Barometer, das die gleiche Alternative mittels zweier Gefühle registriert: Freude oder Leid. Gefühle sind die automatischen Resultate der vom Unterbewusstsein integrierten Werturteile des Menschen; Gefühle sind Einschätzungen dessen, was die Werte des Menschen fördert oder bedroht, was für oder gegen ihn ist – Blitzrechner, die ihm die Summe seines Gewinns oder Verlustes ausgeben.

      Doch während der auf dem physischen Freude-Schmerz-Mechanismus operierende Wertmaßstab des Menschen automatisch und angeboren und durch die Natur seines Körpers bestimmt ist, ist es der den emotionalen Mechanismus leitende Wertmaßstab nicht. Da der Mensch kein automatisches Wissen besitzt, kann er


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