England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage
in der Vine Street begleiten?‹ Ich hatte nichts bemerkt, aber mein Freund sagte mir, dass uns alle angestarrt hätten. Ich war wegen eines Gesetzes aus dem vorigen Jahrhundert dran. Ich erzählte Malcolm, was passiert war, und er sagte: ›Wir tun, was wir können. Wir besorgen dir einen guten Anwalt.‹ Und was passierte? Ein Scheißdreck passierte.
Paul Cook mit SEX-T-Shirt. Im Hintergrund Glen Matlock (© Ray Stevenson)
Ich kam allein vor Gericht, wusste nicht, was ich tun sollte und plädierte am Ende auf schuldig. Wenn mich Malcolm unterstützt hätte, wäre nur eine Geldstrafe herausgekommen.«
Die Nachricht über die Verhaftung von Alan Jones schaffte es bis in die überregionalen Zeitungen. Der Guardian nutzte am 2. August auf Seite 1 die allgemeine moralische Entrüstung, um über den Vorfall zu berichten. Der Skandal fiel mit dem Beginn des Rollbacks gegen die »Freizügigkeit« der 60er Jahre zusammen. Der Labour-Abgeordnete Colin Phipps beschwerte sich, dass die Verhaftung von Jones »bloß ein Aspekt eines konzertierten Angriffs auf eine offene und liberale Sichtweise von Nacktheit und Sex ist.« Aber McLaren hielt die Ansichten solcher Politiker für Heuchelei. Er wollte den Staat provozieren, so wie es die Yippies oder Baader/Meinhof getan hatten, um die wirkliche Unterdrückung aufzudecken, die unter der toleranten Schutzschicht lauerte.
In dieser Woche stattete die Polizei SEX einen Besuch ab und beschlagnahmte einige Gegenstände, einschließlich aller Cowboy-T-Shirts. Am 7. August wurden McLaren und Westwood wegen »öffentlichen Ausstellens unsittlicher Abbildungen« angeklagt. Der Fall wurde Ende November vor Gericht verhandelt. McLaren und Westwood kamen mit einer Geldstrafe davon. Der als Leumundszeuge bestellte Theodore Ramos sagte: »Malcolm experimentierte mit lebenden Subjekten, als wären sie graphische Elemente. Viele seiner Ideen waren irre, aufgeschnappt in der Kunstschule, viele literarisch: Er hatte die Fähigkeit, eine Idee zu verfolgen und umzusetzen. Dann wurde er ein echter Impresario. Ein Katalysator, der Aktionen hervorrufen konnte.«
Die Schrift an der Mauer, The Chippenham, W9., 1975 (© Roger Perry)
9
Aus dem Tagebuch des Autors 2.12.1975: ... Londoner Vorstadt: Sterilität – Zynismus – Langeweile bereit in Gewalt umzuschlagen; beginnender Gegenschlag der Rechten. Scheiß auf London wegen seiner Stumpfheit, auf die Engländer wegen ihrer Kleinmütigkeit und aufs Wetter wegen seiner Kälte und Dunkelheit.
Es fällt schwer, sich sechzehn Jahre später an das Lebensgefühl in England 1975 zu erinnern. Die Medien waren voller apokalyptischer Formulierungen. »Die Aasgeier verdunkeln schon den Himmel«, lautete im Oktober 1974 ein Aufmacher in der Sun. »Der pralle Sommersonnenschein von 1975, könnten Historiker im Jahr 2000 n. Chr. befinden, hat bei den Briten eine fatale Trägheit verursacht«, wetterte die Sunday Times. »Durch den Sommerdunst hindurch wurden undeutlich Gestalten erkennbar, aber sie waren seltsam, unwirklich, abstrakt. Jene, die hinhörten, konnten entfernten Donner vernehmen.« England steckte im Juli 1975 in einer Rezession. Die Arbeitslosenzahlen für diesen Monat waren seit dem Zweiten Weltkrieg nie so hoch gewesen: die Schulabgänger traf es am schlimmsten. Es war nicht nur der Arbeitsertrag geschrumpft, auch die öffentlichen Ausgaben waren auf 45 Prozent des nationalen Einkommens gestiegen und drohten, die gesamte Wirtschaft aus dem Gleichgewicht zu bringen. Im November 1975 präsentierte Kanzler Denis Healey ein Sparpaket über insgesamt drei Milliarden Pfund für die öffentlichen Ausgaben.
Es schien keine vorübergehende Krise zu sein, sondern die Spitze des Eisbergs eines langsamen Niedergangs. Um »den Krieg zu gewinnen« hatte Großbritannien einen schrecklichen Preis bezahlt. Dieser erste tatsächlich globale Krieg hatte das Kräfteverhältnis verkehrt, und Großbritannien war keine Weltmacht mehr. Es war lediglich eine kleine Insel, die strategisch wie ökonomisch im Schatten der USA stand. Als die USA das Leih-Pacht-Gesetz drei Tage nach ihrem Sieg über Japan aufhoben, stand Großbritannien bereits mit drei Milliarden Pfund in der Kreide. Es gab eine kollektive Weigerung, den Tatsachen ins Auge zu sehen. »Der Niedergang Großbritanniens nach dem Krieg hatte noch mit den Träumen der Briten in Kriegszeiten begonnen«, schreibt Correlli Barnett in Audit of War. »Die Folge war, dass sich die Briten niemals der Wirklichkeit stellten, was sie und ihren künftigen Platz in der Welt anging.« Schon vom »Jahr Null« an überholten Deutschland und Japan die britischen Fertigungsindustrien, damals der Motor des Kapitalismus.
Das Land hatte einen Pyrrhus-Sieg errungen und nun die ganze psychische Last zu tragen. Trotz der Machtübernahme durch die Sozialisten, blieb der Status quo über den Krieg hinaus erhalten. Die Filme, die gedreht wurden, um das Durchhaltevermögen und den Sieg Englands zu feiern, standen in direktem Verhältnis zur Weigerung der Bevölkerung, die Notwendigkeit von Veränderung zu sehen. England war selbstgefällig, statisch und steckte voller Herrschaftsansprüche, selbst in Bereichen wie der Verherrlichung des weltweiten Siegeszugs der Beatles nach 1964 – einer der wenigen Erfolge des Landes. Pop war eine bislang unentdeckte und schnell sprudelnde Kapitalquelle.
Die ganze Idee des »Konsens«, die die Politik und das soziale Leben beherrscht hatte, löste sich in Nichts auf: es war, als würde sich das Nachkriegsideal der Freiheit des Massenkonsumenten, das die Premierminister beider Parteien gefördert hatten, als Schwindel herausstellen. Die leuchtenden Farben, die »Klassenlosigkeit« und besonders der Optimismus der 60er Jahre, erschienen nun wie ein Trugbild. So wie die Pop-Kultur Mitte der 70er Jahre in kleine Segmente zerbrochen war, so schien sich der soziale Alltag in widerstreitende Fraktionen aufzulösen.
»Fool your friends and fool yourself, the choice is crystal clear«, hatte Richard Thompson in seinem phantastischen »Roll Over Vaughn [sic] Williams« gesungen: »Live in fear, live in fear.« Dort waren die inneren Feinde. Die Boulevardpresse, die allmählich ihre Macht entdeckte, suchte sich viele Angriffsziele. Die Sun war in den wenigen Jahren nach der Übernahme durch Rupert Murdoch einigermaßen links geblieben, aber ab 1972 entwickelte sie eine neue Sprache der Angst und des Schreckens, sie begann das bislang Unaussprechliche auszusprechen.
Nach den Sensationsberichten über die »schrecklichen Überfälle« von 1972-73, die sich gegen Westinder richtete, gab es Paniknachrichten über Pornografie, das Bildungswesen, Vandalismus und Sexualität. Unter dem Schlagwort »Freizügigkeit« wurde mit dem Liberalismus der 60er Jahre abgerechnet. Die Paniknachrichten schürten eine tiefsitzende, verständliche Furcht und ließen sie zu einem apokalyptischen Angstschrei anwachsen. Es schien vielen, als würde das Land selbst angegriffen, von innen und von außen: 1974 brachte die IRA mit den schlimmsten Bombenanschlägen seit 1945 ihren Krieg aufs Festland.
4.10.75: Graffiti – TORIES WOLLEN KRIEG. Das beunruhigende an Thatcher ist, dass sie ihrer eigenen Rechtschaffenheit, die viele Anhänger anziehend finden, blind vertraut. Sicherheit in einem Zeitalter der Unmöglichkeit von (echter) Sicherheit. Zurück zum Golf Club Image – im Endeffekt zurück zu den 50er Jahren.
Mit der Ausbreitung krankhafter Symptome konfrontiert, hatte ein beträchtlicher Teil der Mittelklasse das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen: Aus Angst und aus Rache begann sie wild um sich zu schlagen. Im November 1975 wurde die kompromisslose National Association for Freedom (NAFF) gegründet. Eine Woche vorher wurde einer ihrer Gründer Ross McWhirter – der Mann, der eine Klage gegen den Warhol-Dokumentarfilm von 1972 eingereicht hatte – von der INLA (Irish National Liberation Army) ermordet.
Gerade als Tony Benn die Labour Party im Parlament nach links gedrängt hatte, entstand eine entsprechende Bewegung auf der rechten Seite, und Mrs Thatcher wurde zur Geheimwaffe der Mittelklasse: 1977 hielt sie die Eröffnungsrede zum Dinner für Mitglieder der National Association for Freedom. Nach den beiden Wahlniederlagen von Edward Heath 1974 wurde die Außenseiterin in der Partei und Abgeordnete für Finchley