Mycrofts Auftrag. Beate Baum

Mycrofts Auftrag - Beate Baum


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      Baum

      Mycrofts Auftrag

      Beate Baum

      Mycrofts Auftrag

      Ein Sherlock-Holmes-Roman

      © 2017 Oktober Verlag, Roland Tauber

      Am Hawerkamp 31, 48155 Münster

       www.oktoberverlag.de

      Alle Rechte vorbehalten

      Satz und Umschlag: Tom van Endert

      Umschlagfoto: Christina Holm unter Verwendung eines Fotos von Beate Baum

      ISBN eBook: 978-3-946938-39-2

      eBook-Herstellung und Auslieferung:

       readbox publishing, Dortmund

       www.readbox.net

      1. Kapitel

      Den hageren Mann mit dem seltsamen Hut, der Pelerine und der Pfeife hatte er vermisst! Absichtlich hatte John den Hauptausgang des U-Bahnhofs gewählt, obwohl der seitliche ihn schneller zu seinem Ziel geführt hätte. Aber er wollte einen Blick auf die geschäftige Marylebone Road werfen – und auf dieses Denkmal.

      Um das ausladende Gebäude herum ging es rechts in die Baker Street hinein; bis zur Nummer 221 B waren es nur gut 100 Meter. Wie oft war er früher dieses Stück gelaufen! Immer dann, wenn er allein unterwegs war, auf dem Weg zu einem Vertretungsjob in einer Klinik oder Arztpraxis, einem Einkauf im Supermarkt, einer Verabredung. Mit Sherlock war das Verkehrsmittel der Wahl nahezu immer das Taxi gewesen. Sherlock war zu ungeduldig für die gute alte Tube. Eine Anzeige wie »Metropolitan Linie 5 Minuten« konnte ihn in den Wahnsinn treiben, auch wenn er bei logischer Überlegung häufig zugeben musste, dass es schneller gegangen wäre, als sich mit einem Taxi in den Londoner Stau zu begeben. Auch der genialste Detektiv aller Zeiten war eben kein durch und durch rationales Wesen.

      Seit dem unverhofften Wiederauftauchen des Freundes vor drei Wochen war John erst einmal wieder in der Wohnung gewesen. Nach wie vor tat er sich schwer mit der Art und Weise, wie Sherlock in sein Gespräch mit dem Church-Street-Buchhändler hineingeplatzt war: überzeugt, dass John ihm um den Hals fallen würde vor Freude – nein, das doch eher nicht, Sherlock Holmes mochte keine Berührungen und in den zwei Jahren ihres Zusammenlebens hatte es niemals so etwas wie eine Umarmung gegeben – und ihm das Vortäuschen seines Todes auf der Stelle vergeben würde. Als wenn er die drei Jahre Trauer einfach vergessen könnte, vor allem aber es akzeptieren, dass Sherlock andere Menschen eingeweiht hatte, ihm jedoch in all diesen Tagen, Wochen und Monaten kein einziges Zeichen hatte zukommen lassen, dass er noch unter den Lebenden weilte. Keinen noch so winzigen Hinweis.

      Wieder fühlte John die Wut in sich aufsteigen, als er den bronzenen Türklopfer betätigte. Es war spät, bereits kurz vor elf, nach dem hellen Sommertag war die Dunkelheit hereingebrochen, und die kleine, zierliche Mrs Hudson kam in einem Bademantel an die Tür.

      »John!« Der misstrauische Ausdruck verschwand aus dem Gesicht der Hausbesitzerin, sobald sie ihn erkannte. »Das ist ja eine nette Überraschung. Sind Sie mit Sherlock verabredet? Ich hätte gedacht, er schläft schon, ich habe seit einiger Zeit keine Geräusche von oben gehört.«

      »Nein, wir …«, er räusperte sich. »Das ist wirklich so etwas wie ein Überraschungsbesuch. Mary, also meine Verlobte, wurde von einer Freundin angerufen, der es schlecht geht, und da dachte ich …« Es war eine blöde Idee gewesen. Nun tat auch er so, als könnte er nach all der Zeit einfach wieder in das alte Leben eintauchen.

      »Da dachten Sie, Sie könnten auch einen Freund besuchen. Natürlich!« Die alte Dame öffnete die Haustür noch ein Stück weiter. »Kommen Sie.«

      John war froh, dass sie ihm die Erklärung ersparte, wie absurd lange die Fahrt von Hounslow, wo er seit einigen Monaten mit Mary lebte, bis in die Innenstadt dauerte. Es war schön gewesen, hier in Marylebone zu wohnen, dachte er, während er die steile Treppe hochstieg. Mittendrin in der pulsierenden Stadt.

      In dem großen Wohnraum, den man direkt vom Hausflur aus betrat, war kein Licht eingeschaltet. Vermutlich hatte Mrs Hudson recht und Sherlock schlief bereits. Bei ihm wusste man nie, in welchem Rhythmus er gerade lebte. Als sie zusammenwohnten, war er manchmal schon vor den Zehn-Uhr-Nachrichten zu Bett gegangen, dann wieder erst im Morgengrauen. Wie auch immer, John würde nicht an seine Schlafzimmertür klopfen. Wenn Sherlock nicht hier oder in der angrenzenden Küche war, würde er sich wieder auf den Rückweg in den Vorort begeben.

      Erst als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah er, dass der Detektiv in seinem gewohnten Sessel saß. Nein, hing. Die langen, dünnen Beine in Pyjamahosen ausgestreckt, der Oberkörper verdreht auf der Seitenlehne liegend, der Kopf vornübergesackt, sodass nur die dunklen Haare zu sehen waren. Der linke Ärmel seines burgunderroten Hausmantels war hochgeschoben und in der Armbeuge steckte eine Spritze.

      Mit zwei großen Schritten erreichte John den Sessel. »Sherlock!« Vorsichtig zog er die Nadel aus der Vene, registrierte trotz des schwachen Lichts die vielen Einstichstellen, hob den Kopf des Freundes an.

      Der gab ein Geräusch von sich und öffnete die Augen einen Spalt weit. »John?«, murmelte er.

      Er war bei Bewusstsein. John schaltete in den Arzt-Modus. Zwei Jahre hatte er in der Notaufnahme gearbeitet, er wusste, was zu tun war. Der Puls war sehr schwach, aber tastbar. Die Augen reagierten auf das Licht, das er mit Hilfe der Standleuchte in der Ecke in sie hineinfallen ließ, wenn auch die Pupillen kaum sichtbar waren.

      Es war nicht lebensbedrohlich, sie brauchten keinen Krankenwagen, aber professionelle Unterstützung.

      »Hoch mir dir.« Ohne einen Gedanken an Kleidung oder Schuhe zu verschwenden, schleifte er den jüngeren Mann aus der Wohnung und an der erschrocken im Flur auftauchenden Mrs Hudson vorbei auf die Straße.

      *

      »Wo sind wir?« Erst in der Pathologie des St Bartholomew’s Hospitals schien Sherlock seine Umwelt wieder wahrzunehmen.

      »Da, wo Sie eines Tages als Leiche auf meinem Tisch liegen werden, wenn Sie so weitermachen«, sagte Ethel Schafter, deren deutscher Akzent in der Erregung stärker zu hören war als sonst. »Hier!« Mit einer brüsken Bewegung hielt sie Sherlock einen Plastikbecher hin. »Urinprobe.«

      Der erste heftige Rausch war vorbei und John konnte förmlich sehen, wie Sherlocks gewohntes Selbstbewusstsein zurückkehrte, als er sich mit einem noch etwas gezwungen charmanten Lächeln an ihn wandte. »Das ist nicht euer Ernst, oder? Ich leide unter Schlafstörungen, deswegen die Selbstmedikation.«

      John verkniff sich eine Bemerkung. Er würde dem Freund jetzt keinen Vortrag halten; nichts davon würde bei ihm ankommen. »Keine Diskussion«, sagte er und deutete auf den Becher. Er war froh, dass die attraktive Kollegin in der Abgeschiedenheit der Pathologie die Untersuchung vornahm. Im Charing Cross Hospital, wo er arbeitete, hätte sein Auftauchen mit Sherlock Holmes in diesem Zustand bestimmt für Aufsehen gesorgt.

      Sherlock seufzte pathetisch auf, nahm Ethel das Gefäß ab und verschwand in Richtung WC. Nach einem kurzen Moment folgte John ihm. Wenngleich es äußerst unwahrscheinlich war, dass Sherlock eine Möglichkeit fand, in der Pathologie-Toilette des Barts seinen Urin auszutauschen oder zu verändern, wollte er lieber auf Nummer sicher gehen.

      Sherlocks ironisches Grinsen, als er ihn bemerkte, zeigte, dass er seine Gedankengänge nachvollzogen hatte.

      »Und der Ausbau des Dachstuhls gestaltet sich also schwieriger als erwartet?«, fragte er in lockerem Plauderton, während Ethel die Urinprobe einem ersten Test unterzog.

      »Das Spiel spielen wir jetzt nicht!«, gab John zurück, auch wenn er gern gewusst hätte, woher diese Schlussfolgerung kam. Er war sich sicher, dass auch Mary Sherlock nichts von ihren Plänen erzählt hatte, das winzige Reihenhaus auszubauen.

      »Gut, womit wollen wir uns dann die Zeit vertreiben?«


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