Mycrofts Auftrag. Beate Baum
zu holen, und als sie endlich in der Piccadilly-Linie saßen, gab er seinem Schlafbedürfnis nach und reagierte erst wieder auf die Ankündigung der wohlklingenden Frauenstimme, dass der nächste Halt Hounslow West sei. Mittlerweile waren außer ihnen nur noch ein paar Reisende mit Koffern in dem Abteil; wenige Kilometer entfernt begann das Gebiet des Flughafens Heathrow.
Schweigend gingen die beiden Männer nebeneinander durch die tristen Vorortstraßen, während über ihnen ein Flugzeug im Landeanflug eine Schleife zog. Vor dem schmalen Haus in der Basildene Road holte Mary gerade vollgepackte Einkaufstaschen aus dem Kofferraum ihres Autos. John beschleunigte seinen Schritt, um ihr zu helfen – und sie unter vier Augen zu informieren, dass Sherlock vorerst bei ihnen bleiben würde.
»Natürlich, kein Problem!« Sie gab ihm einen schnellen Kuss und strahlte dem herankommenden Detektiv entgegen.
»Du wirst etwas Großstadtflair in unser beschauliches Leben bringen.«
Verliebt registrierte John das breite Lächeln seiner Verlobten, die Herzlichkeit, mit der sie versuchte, Sherlock sein offensichtliches Unbehagen an der Situation zu nehmen.
»Gleich kommen noch zwei Gäste. Charlene ist eine Kollegin von mir, sie wollte unbedingt unser Haus sehen, zumal ihr Freund Immobilienmakler ist.« Sie drückte Sherlock die letzte Plastiktüte in die Hand. »Wir sitzen nur ein bisschen im Garten zusammen und grillen.« Lachend fügte sie an: »Was man so Garten nennt.«
»Immobilienmakler. Interessant«, war Sherlocks einziger Kommentar, während John sich selbst verfluchte, dass er die Verabredung vergessen hatte. Mit Sherlock Holmes und Bekannten beim Essen zusammensitzen und plaudern – wie sollte das funktionieren?
Gemeinsam trugen sie die Einkäufe in die Küche, dann zeigte John dem Freund das kleine Zimmer im ersten Stock, das sie vermutlich später einmal als Kinderzimmer nutzen würden. Aktuell war es mit einer alten Schlafcouch und einem Regal voll aussortierter Bücher eher lieblos eingerichtet.
»Es ist nicht gerade groß.« John zuckte die Schultern. »Und um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, ob man auf dem Sofa schlafen kann, ohne sich die Wirbelsäule zu verrenken.«
»Ich weiß zu schätzen, was du hier machst«, antwortete Sherlock. »Wirklich. Was ihr macht.«
Er sah aus, als sei er kurz davor, sich komplett in sein Inneres, in seine Gedankenwelt, zurückzuziehen. Vermutlich das Beste, was er tun konnte, dachte John.
»Du musst an diesem Grillen nicht teilnehmen«, sagte er. »Wenn du willst, bleib einfach hier oben.«
»Meinst du nicht, das würde ein wenig seltsam aussehen? Mary zeigt euren Gästen das Haus und sagt dann: Hinter dieser Tür erholt sich Johns Freund gerade von einem kleinen Drogen-Exzess.« Seine Lippen verzogen sich zu einem kaum sichtbaren Lächeln.
»Hast du jetzt eigentlich …«, begann John, als Mary von unten nach ihm rief. »Egal. Später. Das Bad ist direkt gegenüber, komm einfach zu uns, wenn du magst.«
*
»Ich denke, da habt ihr einen sehr, sehr guten Griff gemacht«, beurteilte Gilbert Johns und Marys Kauf. »Die Lage ist absolut im Trend, in spätestens zwei Jahren ist das hier das Doppelte wert.«
Nach der Hausbesichtigung, die schnell erledigt war, auch wenn sie von Charlene mit kleinen entzückten Schreien und von Gilbert mit sachkundigen Fragen und Kommentaren unterbrochen worden war, saßen sie zu fünft um den runden Kunststofftisch auf dem Rasen, neben ihnen der Grill sowie ein Hocker, auf dem der Teller mit dem Fleisch und ein Weinkühler standen. Damit war die Fläche des Gartens fast komplett belegt.
Sherlock hatte während des Rundgangs durch das Haus nichts gesagt, und auf Charlenes Äußerung ›Der berühmte Sherlock Holmes!‹ bei der Vorstellung befremdet reagiert. Er trank nichts von dem vermutlich sündhaft teuren Moselriesling, den die beiden mitgebracht hatten, sondern beschränkte sich auf Wasser.
»Verstehe, ein Detektiv muss immer einen klaren Kopf behalten, nicht wahr?«, fragte Gilbert.
John, der am Grill stand, konnte sich ein bitteres Verziehen der Mundwinkel nicht verkneifen. Mary nahm den Fleischteller und trat neben ihn, murmelte leise. »Das wird schon, mach dir nicht solche Sorgen.«
Vielleicht hatte sie ja Recht. Momentan bemerkte er keinerlei Entzugserscheinungen bei seinem Freund, der Gilbert ohne zu zögern zustimmte. »Ein Makler sollte hingegen eher trinkfest sein, wenn es um die großen Geschäfte geht, nehme ich an.«
»Da sagen Sie etwas!« Der Mittdreißiger brach in lautes Lachen aus. Wie seine Freundin trug er betont legere Freizeitkleidung. John sah Sherlock an, dass er das gestreifte Hemd, die helle Jeans und die überdimensionale Sonnenbrille taxierte und erwartete jeden Moment einen Kommentar, der dazu führen würde, dass die beiden niemals wieder zu Besuch kämen. Womit er leben könnte; er wusste jedoch nicht, wie viel Mary an ihrer Kollegin lag. Wieder dröhnte ein Flugzeug über ihre Köpfe hinweg, zwei Weingläser klirrten aneinander.
»Neulich ging es um einen Abschluss in Shepherd’s Bush.« Gilbert schaute Charlene an, die wissend nickte. »Ein alter Gutshof, ein absoluter Traum, so etwas mitten in London.«
»Mitten in London?«, unterbrach John ihn irritiert.
»Aber selbstverständlich! Du bist in weniger als einer halben Stunde am Piccadilly Circus. Das ist mitten in London. Eigentlich seid ihr doch hier auch noch mitten in London.«
Sherlock hatte sein Smartphone aus der Hosentasche gezogen und tippte etwas ein. Er benutzte es viel seltener als vor seinem Verschwinden. Eine weitere Angewohnheit aus den vergangenen drei Jahren, vermutete John. In jener Zeit hatte er garantiert fast vollständig darauf verzichtet, um nicht aufgespürt oder abgehört zu werden.
»Bei diesem Gutshof war in einer Kirchengruft die Leiche der letzten Besitzerin gefunden worden.« Sherlock schaute auf. »Ich erinnere mich. Interessante Geschichte. Sie war eines natürlichen Todes gestorben, aber ihr Bruder, der auf ihre Kosten gelebt hat, musste ihren Tod so lange geheim halten, bis sein Pferd beim Grand National laufen konnte und erwartungsgemäß gewonnen hat. Danach ging das Pferd wie alles andere an ihre Erben. Aber er hatte das Preisgeld.«
»Beeindruckend! Haben Sie das in der Schnelligkeit online recherchiert?«, fragte Charlene, die neben Sherlock saß.
»Was? Nein. Ich sagte doch, ich erinnere mich. Also hat diese Geschichte den Preis gedrückt oder stehen die Leute auf so etwas?« Er war nicht wirklich interessiert, das sahen nun vermutlich auch die beiden.
Gilbert holte aus zu erklären, wie man solch eine Historie vermarkten müsse, damit potentielle Käufer bereit waren, dafür zu bezahlen, was für ein unglaubliches Objekt der Gutshof gewesen sei und dass er von solchen Anwesen in jeder Woche zehn an wohlhabende Russen oder Araber verkaufen könnte. »Die stehen ja Schlange. Kaufen alles, zu jedem Preis.«
John nickte. Das bekam jeder zu spüren, der in London ein Haus kaufen oder auch nur eine Wohnung mieten wollte. Die Wohnung in der Baker Street war schon vor Jahren eine absolute Ausnahme gewesen. Ob Mrs Hudson Sherlock noch einmal einen Mietnachlass gewährt hatte, jetzt, da er allein dort lebte?
»Ja, das ist alles sehr, sehr spannend«, murmelte der Detektiv und sprang auf einmal auf, steckte das Handy zurück in die Hosentasche. »Kommst du, John?«
»Was? Wohin?« John warf einen Blick auf das Grillfleisch, das gerade perfekt gebräunt war.
»In die Stadt. Eine Wohnung besichtigen. Vielleicht ist es ja etwas für euch. Damit ihr nicht länger in dieser Vororthölle leben müsst.« Unter den irritierten Blicken von Charlene und Gilbert ging er mit ausholenden Schritten in Richtung Haus und verkündete: »Das Spiel geht los!«
»Aber Mary gefällt es hier«, protestierte John und schaute seine Verlobte entschuldigend an.
»Tut es nicht!«, rief der Detektiv über die Schulter und stieß schwungvoll die Terrassentür auf.
Nein, das lag nicht an den fehlenden Drogen, das war ganz und gar der alte Sherlock, dachte John grimmig, während er hinter ihm herlief, ihn in der Küche