Mycrofts Auftrag. Beate Baum

Mycrofts Auftrag - Beate Baum


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      *

      »Du weißt, dass ich Moriartys Komplizen aufgespürt und eliminiert habe, während ich«, mit hochgehobenen Händen deutete Sherlock Anführungszeichen an, »tot war.«

      Das Viertel wurde dominiert von dem riesigen Komplex des Smithfield-Markts, wo werktags am frühen Morgen gewaltige Mengen Fleisch umgeschlagen wurden. Nun lagen die Hallen ebenso still da wie die Pubs, in denen Ärzte und Schwestern des Barts sich gern ein Feierabendbier gönnten. Auf dem Gehweg kam ihnen eine alte Frau mit ihrem Dackel entgegen.

      John murmelte Zustimmung. Noch immer schmerzte es, an das Verschwinden des Freundes zu denken.

      »Ich hatte nie Probleme, mit mir allein zu sein. Auch wenn unsere Zusammenarbeit in der Vergangenheit«, Sherlock zeigte sein ironisches Lächeln, »erstaunlich gut funktioniert hat.«

      »Danke«, entgegnete John trocken.

      Sie hatten die breite Newgate Street erreicht, auf der bereits einige Autos in Richtung der innerstädtischen Einkaufszentren unterwegs waren. Nachdem sie sie überquert hatten, passierten sie das Gerichtsgebäude Old Bailey. Die säulengeschmückte Vorderseite lag im Schatten, der helle Stein wirkte fast düster. John wartete darauf, dass der Freund fortfuhr. Sherlock schwieg jedoch; ganz leicht, kaum merklich, begann er zu zittern. John deutete auf die Bank an einer Bushaltestelle und sie setzten sich. Sherlock schlang beide Arme um den Oberkörper und atmete ein paarmal tief ein und aus, bevor er endlich neu ansetzte:

      »Gefahr hat mich noch nie abgeschreckt und in Schwierigkeiten bin ich oft genug geraten. Aber manche Situation während dieser drei Jahre war extrem. Ich will nicht ins Detail gehen, aber ich habe Albträume bekommen.«

      »Und daraus resultierend die Schlafprobleme«, vermutete John, der an seine eigenen Kriegserfahrungen denken musste.

      »Genau. Jetzt kommt ein kleiner Exkurs zu meiner Drogenkarriere – oder ziehst du als Mediziner etwas wie zunehmende Toleranz gegenüber Betäubungsmitteln vor?«

      »Wir können gern Klartext reden.«

      »Gut.«

      Wieder ein Versuch zu provozieren, registrierte John, als der Freund ihm ins Gesicht sah und trotz des anhaltenden Tremors ohne Pause fortfuhr.

      »Früher habe ich vorwiegend mit Kokain experimentiert – ich wollte die geistige Wendigkeit meines Bruders erlangen, aber alles, was ich erreicht habe, war, dass er es mitbekommen hat und mich gezwungen hat, es zu lassen. Mehrere Male.«

      John nickte. Die Rivalität zwischen den beiden hochintelligenten Brüdern konnte Sherlock in der Gegenwart zu Höchstleistungen anspornen, für den Heranwachsenden musste sie eine Qual gewesen sein. Mycroft hatte seine Überlegenheit garantiert genussvoll ausgespielt.

      »Einmal dann, ich war schon in Cambridge, habe ich auch Heroin ausprobiert. Ich hatte gelesen, es sei gut zum Runterkommen vom Koks. Da bin ich ernsthaft kollabiert. Danach hat Mycroft mich für mehrere Wochen in eine dieser Kliniken sperren lassen.«

      Zwei Jahre hatten sie zusammengewohnt, ohne dass Sherlock einmal über diese Dinge gesprochen hatte. John fragte sich, warum er es jetzt tat. Weil er seine Hilfe brauchte? Weil Mycroft auch heute noch eine Möglichkeit finden würde, ihn zur Rehabilitation zu zwingen – auch wenn er zweifelsohne wusste, dass eine Maßnahme unter solchen Umständen nicht erfolgreich sein konnte?

      »Ich habe ihn gehasst dafür, natürlich, und gedacht, er macht das nur, damit seine Karriere nicht gefährdet wird. Er war damals ein junger, vielversprechender Politiker – für sein Image wäre ein drogensüchtiger Bruder gar nicht gut gewesen.«

      Langsam rollte der 23er-Bus an die Haltestelle heran, als keiner der beiden Männer reagierte, beschleunigte der Fahrer wieder und fuhr weiter in Richtung des ehemaligen Zeitungsviertels Fleet Street.

      »Und dir ist nie der Gedanke gekommen, dass er sich ernsthaft Sorgen um dich macht?« John musste zugeben, dass Mycroft Holmes selbst alles tat, um diesen Eindruck zu vermeiden. Was war überhaupt mit den Eltern gewesen?

      Als hätte er die Frage laut gestellt, sagte Sherlock. »Damals nicht, nein. Heute weiß ich, dass er auch wegen unserer Mutter beunruhigt war. Deswegen hat er alles komplett allein organisiert. Mich von der Uni beurlauben lassen – aus familiären Gründen –, die Klinik weit weg von London, in Shropshire, ausgesucht und bezahlt und den Eltern erzählt, ich sei sehr beschäftigt mit meinem Studium und würde einige Wochen nicht nach Hause kommen.«

      »Perfektionist«, murmelte John.

      »Mycroft«, meinte Sherlock. »Die Klinik war ein schlechter Witz. Lauter Mitglieder des englischen Establishments oder ihre Familienangehörigen, die in Gesprächskreisen herumsaßen und sich einander offenbarten.«

      Erstaunt rutschte John auf der unbequemen Bank ein Stück zur Seite, um sein Gesicht besser sehen zu können.

      »Ich nicht, bewahre! Aber ich habe schnell festgestellt, dass ich erst wieder rauskomme, wenn ich etwas erzähle, und habe ihnen gesagt, was sie hören wollten.«

      War das genau der Grund, weshalb Sherlock jetzt mit ihm sprach?

      »Nichtsdestotrotz habe ich begriffen, dass ich mit den Drogen aufpassen sollte. Und sei es nur, um nie wieder in so eine absurde Situation zu geraten.« Er zuckte die Schultern, als wollte er sagen: Und nun stehe ich wieder kurz davor. »Danach war ich sehr, sehr vorsichtig.«

      Sollte das heißen, er hatte durchaus Drogen genommen, während sie zusammenwohnten?

      »Aber als ich Moriartys Komplizen in Afghanistan verfolgte, konnte ich überhaupt nicht mehr schlafen. Wenn ich doch einmal quasi zusammenbrach, kamen die allerschrecklichsten Träume. Und ich wusste, ich muss schlafen, um zu funktionieren. Sonst erwischen sie mich und dann ist der schlimmste Albtraum nichts gegen die Wirklichkeit.« Sherlock löste die Arme, mit denen er die ganze Zeit seinen Oberkörper gehalten hatte und schaute seinen Freund an. »Da habe ich mit kleinen Dosen Heroin angefangen. Es ist dort sehr rein und man kann schlafen. Tief und fest schlafen. Du weißt das natürlich. Du hast es bei Soldaten in deinem Regiment mitbekommen.«

      John nickte. Der Drogenmissbrauch bei den Truppen wurde immer geleugnet, war jedoch im Afghanistan-Krieg überall Alltag gewesen.

      »Ich habe aufgepasst. Einen Druck vor dem Einschlafen, wenn ich an einem sicheren Platz war, mehr nicht. Schließlich war es lebenswichtig, dass ich tagsüber komplett wach und im Vollbesitz meiner Fähigkeiten war.« Er presste die Fingerspitzen an die Ränder der Augenhöhlen.

      »Aber die Angewohnheit hast du beibehalten, als du zurück warst«, schloss John. Er überlegte, ob die Drogen vielleicht auch für das seltsame Verhalten des Freundes bei ihrem Wiedertreffen verantwortlich waren.

      »Ja. Die Albträume und die Schlaflosigkeit blieben, auch wenn mein Verstand mir sagte, dass ich hier in Sicherheit bin. Deshalb habe ich damit weitergemacht. Aber als ich dann diesen Fall angenommen habe, sind die Dinge wohl etwas außer Kontrolle geraten.«

      Er hatte während des letzten Satzes starr geradeaus geschaut. Mehr würde er dazu nicht sagen, und das musste er auch nicht.

      »Es handelt sich hier nicht um Mycrofts Auftrag, nehme ich an«, fragte John, obwohl er sich da ziemlich sicher war. Nach dem, was Sherlock gerade erzählt hatte, würde sein Bruder ihn kaum dieser Nähe zu Drogen aussetzen.

      »Nein«, bestätigte der Freund.

      »Also wirst du den Fall auch abgeben«, beschloss John. In dem Umfeld konnte Sherlock keinesfalls weiter agieren. »Alles weitere werden wir sehen. Du wohnst die ersten Tage bei Mary und mir in Hounslow. Genau dorthin setzen wir uns jetzt in die U-Bahn, dann kann ich für eine Dreiviertelstunde die Augen zumachen.« Er registrierte, dass Sherlock ihn nicht begeistert, aber auch nicht komplett ablehnend ansah und stellte eine letzte Regel auf: »Alle zwei Tage nimmt Ettie einen Drogentest vor.«

      3. Kapitel

      John hatte vergessen, dass sie Besuch erwarteten. Auf dem Weg zur U-Bahn-Station St. Paul’s hatte er versucht, Mary anzurufen, sie jedoch nicht erreicht. In Holborn, wo


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