Das offene Versteck. Robert de Taube
Robert de Taube
Das offene Versteck
Bericht eines jüdischen Landwirts aus Ostfriesland, der in Berlin im Versteck der Menge den Deportationen nach Auschwitz entkam
Herausgegeben und eingeleitet
von Hartmut Peters
FUEGO
- Über dieses Buch -
Im Jahre 2018 kamen in Kentucky, USA, drei Audio-Kassetten ans Licht. Auf ihnen schildert der jüdische Landwirt Robert de Taube (1896 – 1982) aus Ostfriesland seine Überlebensgeschichte. Während die Deportationszüge von Berlin nach Auschwitz rollten, fand er Versteck in den Straßen der Reichshauptstadt und den Waggons der Stadtbahn. Er fuhr kreuz und quer durchs Liniennetz bis hin in die Vororte Beelitz und Bernau, handelte mit Gemüse, Obst und Kleidung, arbeitete als Gärtner und wechselte ständig seinen nächtlichen Unterschlupf. Im Villenviertel von Grunewald fand er seine beste Bastion. Eine NS-Funktionärin verliebte sich in ihn. Ohne mutige Helfer hätte er nicht überlebt.
Nach der Befreiung 1945 wollte Robert de Taube sofort zurück auf seinen Gutshof bei Wilhelmshaven, der Kampf um die Wiedererlangung des vom NS-Staat geraubten Eigentums lag vor ihm. Sein Bericht zeugt von Klugheit und Glück in den Zeiten des Holocausts – und vom Preis, die permanente Wachsamkeit vor der SS und das Bleiben im Land der Täter forderten. Robert de Taube hat uns einen einzigartigen Beitrag zum Verstehen von „Heimat“ vermacht.
Hartmut Peters hat das Interview ediert und mit einer Einleitung versehen.
Vorwort
Robert de Taube starb im Alter von 85 Jahren im August 1982. Zu diesem Zeitpunkt war er für alle, die ihn kannten oder nur einmal von ihm gehört hatten, eine lebende Legende. Den ausgefeilten Plänen der nationalsozialistischen Judenmörder entkommen zu sein, im Chaos des Kriegsendes die geraubten Besitztümer zurückgefordert zu haben und inmitten der Täter und Mitläufer den größten Bauernhof weit und breit erneut zu bewirtschaften, machte nur einen Teil seiner Bekanntheit aus. Sein charmantes Charisma stand in einem seltenen Kontrast zu seiner bäuerischen Bodenständigkeit. Aber zum Gespräch machte diesen fast einzigen Holocaust-Überlebenden weit und breit, was er zu Lebzeiten über die Nazi-Zeit erzählte - oder eher nicht erzählte.
Robert de Taube glich in den langen Jahrzehnten des absichtsvollen Verdrängens des Völkermords an den Juden jener sprichwörtlichen Leiche, die fast jeder auch seiner Nachbarn aus der Nazi-Zeit im Keller hatte, die aber ständig die Kellertreppe hochkam. Nur den übelsten Nazis vor Ort trug er etwas nach, obwohl sich unter den Ermordeten sein Bruder Ernst und viele weitere Familienangehörige befanden. Über die kleinen Peiniger der Nachbarschaft schwieg er sich aus und erzählte lieber davon, wie er in Berlin den Deportationen nach Auschwitz unter der Identität „August Schneider, Landschaftsgärtner aus Hamburg“ entkommen war.
Das Gerücht, er habe einen langen Bericht mit den Namen der Täter verfasst, diesen bei einem Rechtsanwalt deponiert und verfügt, dass er erst veröffentlicht werden dürfe, wenn alle Genannten gestorben wären, hielt sich lange.1 Wahr ist, dass Robert de Taube 1971 einem Neffen ein ausführliches Interview gab, der dann das Transkript der Audiokassetten vervielfältigte. Und dass unter den Papieren des Verstorbenen ein später entstandener, fast gleichlautender Bericht aufgefunden wurde, von dem bestimmte Einwohner Neustadtgödens immer Kopien besaßen, die sie aber zurückhielten. Das Gerücht machte den nachwachsenden Generationen zu einem Rätsel, was die Täter und ihre Familien ohnehin wussten und was einmal öffentlich gewesen war: Die Namen aller 24 wegen des Pogroms von 1938 auf dem Horster Grashaus und in Neustadtgödens Angeklagten standen 1949 in der Zeitung und die Durchschläge des Urteils mit allen Namen befanden sich in vielen Haushalten der Nachbarschaft.
Die nun gedruckt vorliegenden, abenteuerlichen Schilderungen Robert de Taubes der Jahre von 1933 bis 1973 nennen auch Namen, sie geben aber vor allem ein beredtes Zeugnis seiner Klugheit und situativen Spontanität, seiner Menschenkenntnis, seines Witzes und seines Glücks beim Kampf um das Überleben. Auf ihren letzten Seiten sprechen sie auch vom Preis, den dieser Mann zahlen musste für seine lebensnotwendige, permanente Wachsamkeit vor den SS-Schergen und Denunzianten und nach 1945 für seine Entscheidung, nicht aus Deutschland zu weichen. Sie berichten von Schlaflosigkeit, Herzproblemen und dem auf Gewissheit begründeten Misstrauen, dass ein Jude für viele auch nach dem Ende der NS-Diktatur ein „Fremder“ war und bleiben sollte. Daran konnten seine Volkstümlichkeit und Großzügigkeit nichts ändern.
Robert de Taube legt mit seinem unbeirrten Verhalten ein Beispiel dafür ab, was „Heimat“ eigentlich ist: Sie liegt im Auge des Betrachters und entspringt der freien Wahl des Individuums. Obwohl dieser deutsche, von den Nazis zum Juden gemachte Landwirt von den meisten „Deutschen“ seiner Zeit und auch von vielen danach nicht gewollt wurde, hat er der Region, die er liebte, seinen Stempel aufgedrückt. „Diese Gegend hat mich kaputt gemacht, und ich bleibe solange, bis man ihr das anmerkt.“ (Herbert Achternbusch) Mit seinen Erinnerungen hat sich Robert de Taube in seine Heimat hineingeschrieben - in das so friedlich scheinende Horster Grashaus und die umgebende fruchtbare Marsch.
Robert de Taube zum Zeitpunkt des Interviews durch Walter John Pohl im Mai 1971
(© Sammlung Pohl, Lexington, Kentucky)
I. Die Familie de Taube in Neustadtgödens und Wilhelmshaven
Wer den Scheitelpunkt der jüdischen Emanzipationsgeschichte in Wilhelmshaven und Umgebung sucht, wird ihn im Aufstieg der Familie de Taube finden. 1918 schienen die de Taubes zu den etablierten Familien einer Marinestadt zu gehören, die existentielle Bedeutung für das Wohl und Wehe des gesamten Kaiserreichs besaß. Zu derselben Zeit, im Inneren der antisemitischen Offizierskaste, arbeitete der Marine-Ingenieur Gottlieb Magnus (1883 – 1942) im Vorstand des Konstruktionsbüros für Torpedos und U-Boote der Kaiserlichen Werft. Magnus wohnte wie die de Taubes im Offiziersviertel der Stadt. Solche Emanzipationserfolge waren jedoch illusionäre Momentaufnahmen. Die Nationalsozialisten entfernten den Juden Magnus 1936 aus dem Dienst, 1942 deportierten sie ihn und seine Familie nach Auschwitz. Die de Taubes wurden beraubt, ermordet oder in alle Welt vertrieben, nur Robert de Taube kehrte in seine Heimat zurück.
Rosa und Samuel de Taube an ihrem 50. Hochzeitstag im Jahre 1936
(© Sammlung Pohl, Lexington, Kentucky)
Robert de Taube wurde am 16. November 1896 im damals ostfriesisch-preußischen Neustadtgödens in eine zu diesem Zeitpunkt bereits wohlsituierte jüdische Familie geboren. Er war das vierte von insgesamt acht Kindern des Ehepaars Samuel (1855 – 1949) und Rosa de Taube, geb. Weinberg (1861 – 1948), das 1886 geheiratet hatte. Die de Taubes waren seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hier ansässig und über die Generationen überwiegend als Schlachter und Viehhändler tätig, während die Mutter Rosa aus Leer stammte. Bereits der 1820 geborene Großvater Calmer de Taube war im Viehhandel erfolgreich gewesen und hinterließ, als er 1905 starb, seinen Kindern 20 Hektar Land und vier Häuser.2 Die Berufe des Viehhändlers und Landwirts lagen naturgemäß nahe beieinander, denn zum Viehhandel gehörte der Besitz von Ländereien und Stallungen. Sogar die Viehzucht befand sich im Bereich der beruflichen Möglichkeiten, wenn genug Land, Gebäude und – am wichtigsten - Kenntnisse zur Verfügung standen.
Postkarte von Neustadtgödens ca. 1935. Das Geburtshaus von Robert de Taube ist unten links, ganz rechts, abgebildet. Unten rechts: Schloss Gödens
(© Sammlung Peters, Wilhelmshaven)
Neustadtgödens war ein Dorf mit kleinstädtisch anmutenden Straßen