Moderne Tauchmedizin. Kay Tetzlaff
„Lung-packing“ oder „buccal pumping“
Eine weitere Möglichkeit, an der Tiefenschraube zu drehen, stellen Veränderungen auf der anderen Seite der Gleichung dar, nämlich Veränderungen an der TLC. Dies ist in sehr engen Grenzen durch eine Verbesserung der Thoraxelastizität möglich, oder durch das so genannte „lung-packing“ bzw. auch „buccal pumping“. Es handelt sich hierbei um eine besondere Einatemtechnik, die es dem Kundigen erlaubt, nach einer maximalen Einatmung noch (ebenfalls nachgewiesen) bis zu 3 l Luft in die Lunge zu pressen.
Kompaktinformation
Lung-packing. Beim „lung-packing“ bzw. auch „buccal pumping“, Nachdrücken oder Karpfen genannt, handelt es sich um eine besondere Einatemtechnik, die es dem Kundigen erlaubt, nach einer maximalen Einatmung noch (nachgewiesen) bis zu 2 bis 3 Liter Luft in die Lunge zu pressen. Es sei hier bemerkt, dass nicht bekannt ist, was das Maximum des Möglichen darstellt, und dass es sich dabei um eine willentlich herbeigeführte Überblähung der Lunge handelt. Derzeit ist aber noch unklar, ob und inwieweit dies auf Dauer möglicherweise negative Folgen für das Lungengewebe haben kann.
Es sei angemerkt, dass auch hier nicht bekannt ist, was das Maximum des Möglichen darstellt. Es handelt sich hier also um eine willentlich herbeigeführte Überblähung der Lunge, von der derzeit nicht bekannt ist, ob dies langfristig negative Folgen für das Lungengewebe haben kann. Obwohl diese Technik von den Tauchmedizinern durchaus mit einer gewissen Sorge betrachtet wird, bietet sie dem Athleten die Möglichkeit, deutlich größere Tiefen zu erreichen.
Betrachtet man die obige Rechnung unter diesem Aspekt erneut, so ergibt sich für Pipin (der als einer der wenigen Top-Athleten diese Technik für sich nicht benutzt) bei zusätzlicher TLC-Vergrößerung durch „lung-packing“ um 2 l (= Durchschnittswert, der von jedem geübten „Packer“ erreicht wird):
was einer Tauchtiefe von nun 163 m entspricht und dem ebenfalls zwischenzeitlich von ihm erreichten Rekord von 162 m schon sehr nahe kommt.
9.4.4 Reversal-Packing, „Forced expiration“
Mit dem oben Beschriebenen sind die möglichen Einflussnahmen auf die nun hinlänglich bekannte Gleichung noch nicht erschöpft. Durch das oben beschriebene spezielle Atemtraining, und hier besonders auch das Zwerchfelltraining, ist es den Athleten möglich, bei der Lungenfunktionsprüfung durch ein extrem tiefes Ausatmen („forced expiration“) ihr Residualvolumen messbar (im Bereich von ein paar hundert Millilitern) zu reduzieren. Um genau diese Werte kann es demnach auch beim Tieftauchen zusätzlich schrumpfen, weil andere Strukturen (Zwerchfell) hier nachgeben. Und obwohl es sich um die kleinsten bislang aufgelisteten Veränderungen handelt, sind die Folgen erheblich bei einer zusätzlichen Reduzierung des Residualvolumens um nur 100 ml (entspricht dem Durchschnittswert, der von jedem geübten Apnoeisten erreicht wird):
was einer Tauchtiefe von nun 193 m entspricht!
Mit den bis an dieser Stelle dargestellten Veränderungen sind zumindest rein mechanistisch die unglaublichen Tiefen erklärbar, die bislang erreicht worden sind. Doch damit stellt sich ein weiteres mindestens ebenso wichtiges Problem – und dieses Problem verbietet theoretisch sogar ein Abtauchen bis auf „nur“ 10 m Tiefe. Tatsächlich ist es aber sogar dem weniger Geübten problemlos möglich, diese Tiefe zu erreichen. Es stellt sich das folgende Problem:
9.4.5 Mysterium Kohlendioxid
Wie erwähnt, kommt es beim Abtauchen in Apnoe zu einer Kompression der Alveolen – und damit der Atemgase in den Alveolen. Das wiederum hat zur Folge, dass der Partialdruck der Atemgase mit zunehmender Tiefe steigt und z. B. in 10 m Tiefe doppelt so hoch ist wie an der Wasseroberfläche. Dies betrifft auch das CO2, das durch den hohen pCO2 in der Alveole und eine Umkehr der Diffusionsrichtung für CO2 vermehrt ins Blut diffundiert. Das Problem ist: CO2 stellt den stärksten Atemreizgeber dar und der Grenzwert liegt bei etwa 50 mmHg, denn hier wird der Atemreiz übermächtig. Ein Normalwert liegt bei etwa 35 mmHg, was im Falle der Druckverdoppelung (10 m Tauchtiefe) aber einen Partialdruck von nun schon 70 mmHg ausmacht und damit deutlich höher als die Atemreizschwelle liegt.
Neuere Untersuchungen ebenso wie eigene Befunde zeigen jedoch, dass der Anstieg des arteriellen pCO2, der sich theoretisch ergeben würde, erheblich gemildert wird (Abb 9.6): Auf Grund der hohen Löslichkeit von CO2 im Blut kommt es durch die beschriebene Zunahme des Blutvolumens in den Lungengefäßen mit vermehrter Lungendurchblutung zu einer Umverteilung von CO2 in die Gewebe des Organismus mit einer akut erhöhten CO2-Speicherkapazität. Beim Auftauchen sinken der alveoläre pO2 und pCO2 ständig ab, so dass für CO2 die normale Flussrichtung wiederhergestellt wird. Gefährlich hohe arterielle pCO2-Werte zum Ende der Apnoe hin werden zudem durch den so genannten „Haldane-Effekt“ verhindert: die Löslichkeit von CO2 ist in sauerstoffarmem Blut deutlich höher als in mit O2 praktisch gesättigtem Blut, d. h., in desoxygenierten Blut ist der pCO2 bei gleichem CO2-Gehalt niedriger. Der dekompressionsbedingte Abfall des arteriellen pO2 führt zur Desoxygenierung mit sehr niedrigen, quasi-venösen pO2-Werten im arteriellen Blut mit entsprechend erhöhter CO2-Löslichkeit, so dass der zu erwartende Anstieg des pCO2 ausbleibt. Neben diesem Mechanismus wird bei Elite-Apnoetauchern oft eine erhöhte CO2-Toleranz beobachtet, wobei bislang unklar ist, ob es sich um ein adaptatives Phänomen handelt.
Abb. 9.6: Das Verhalten der Blutgase beim Tieftauchen in Apnoe (mod. nach Muth et al. 2003)
An dieser Stelle sollten v. a. die physiologischen Hintergründe erläutert werden, die zum Verständnis der beschriebenen faszinierenden Leistungen im Apnoetauchen nötig sind. Allerdings sollten dabei nie die natürlichen Grenzen vergessen werden.
9.5 Apnoetauchen – Risiken und Grenzen
Apnoetauchen als Hochleistungssport ist auch mit Risiken verbunden und mancher Topathlet hat seinen Rekord mit seiner Gesundheit oder mit dem Leben bezahlen müssen, trotz sehr guter Vorbereitung und einem in der Regel sehr guten Wissen über die Physiologie des Apnoetauchens. Die Probleme sind dabei vielfältig.
9.5.1 Flachwasserohnmacht
Am bekanntesten ist selbst Laien sicher die Flachwasserohnmacht, die nach Tieftauchversuchen kurz vor Erreichen der Oberfläche oder sehr bald danach auftreten kann (Abb 9.7). Es wird ungern laut gesagt, aber die Vorstufe dieser Bewusstlosigkeit, ein Zustand eingeschränkten Bewusstseins, der auch „Samba“ genannt wird, wird relativ häufig bei Athleten in Wettkämpfen beobachtet. Der Mechanismus: Beim Abtauchen ohne Gerät wird die Lunge komprimiert, was eine Erhöhung der Partialdrücke der Atemgase zur Folge hat. Es kommt zu einem verstärktem Übertritt von z. B. Sauerstoff ins Blut, so dass dem Körper quasi eine „Luxusversorgung“ vorgegaukelt wird, doch wird in dieser Phase natürlich auch Sauerstoff verbraucht. Zu einer Hypoxie, also einem Sauerstoffmangel, kommt es unter diesen Bedingungen in der Tiefe nicht, da der Sauerstoffpartialdruck ja erhöht ist. Irgendwann zwingt der Atemreiz dann zum Auftauchen. Hierbei fallen die Partialdrücke der Atemgase in der Lunge rasch ab. Besonders der Abfall des Sauerstoffpartialdruckes ist dabei dramatisch, weil von diesem Gas reichlich verbraucht wurde. Kurz vor oder unmittelbar nach Erreichen der Oberfläche kann der Sauerstoffpartialdruck dann so niedrig werden, dass die Sauerstoffversorgung des Gehirns nicht mehr ausreichend ist. In der Folge verliert der Taucher das Bewusstsein und kann dadurch ohnmächtig wieder absinken und ertrinken. Aus diesem Grunde werden bei Wettkämpfen die Taucher durch Sicherungstaucher vor allem auch an der Oberfläche gut abgesichert. Die Gefahr der Flachwasserohnmacht potenziert sich übrigens durch eine vorhergehende Hyperventilation, d. h. einem Abatmen von CO2.
Abb. 9.7: Mechanismen der Flachwasserohnmacht: Beim Tieftauchen