Eigensinn und Bindung. Daniel Hoffmann G.

Eigensinn und Bindung - Daniel Hoffmann G.


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auch zu weitgriffig zu erfassen.“29

      Die „Tag- und Nachtbücher“ sind in den vielen „Schreibenächten“ entstanden und waren vielfach der Entdeckung durch die Gestapo ausgesetzt. Was Haecker als unerbittlicher Gegner des Nationalsozialismus zu Papier brachte, war lebensgefährlich. Es handelte sich vorwiegend um „aphoristische Zeitkritik, philosophisch-religiöse Reflektion, polemisches Notat, Selbstbesinnung und Selbstbestimmung in einsamem Selbstgespräch, Dialog, Diatribe und Gebet.“30

      Irene Haecker hat die „Tag- und Nachtbücher“ auf ihre Weise gerettet. Oft erzählte sie davon, und Nachlebende berichten darüber:

      „In ihrer hohen Sensibilität kommt sie, von innerer Unruhe getrieben, gerade in dem Moment zu hause an, als ihr Vater einer Hausdurchsuchung ausgeliefert ist, täuscht große Eile vor und kann auf diese Weise als Klaviernoten getarnt, das Manuskript der ,Tag- und Nachtbücher‘ bei Pfarrer Max Blumenschein sicherstellen. Wie wenn nichts wäre, kommt sie wirklich mit Klaviernoten zurück, die dann tatsächlich überprüft werden. Das ist die Rettung ihres Vaters!“31

      Lese- und Diskussionsabende im Kreis von Studenten und Mentoren

      Lese- und Diskussionsabende mit Theodor Haecker gehörten, wie Richard Seewald in seinen „Lebenserinnerungen“ berichtet, schon seit 1911 zum Münchener Geistesleben. Jahrzehnte später fanden sie auch im Hörerkreis der Studenten der später so benannten Widerstandsgruppe „Weiße Rose“32 statt.

      Dabei ein literarisches Interesse überschreitend, schuf Otl Aicher aus dem Freundeskreis der Geschwister Scholl in den Jahren 1940/41 über Karl Muth die erste direkte Verbindung zu Theodor Haecker. Dazu schreibt er 1942/43:

      „Vor zwei Jahren hatte ich Carl Muth kennen gelernt, später Haecker. Nun war auch für Hans und Sophie eine enge Verbindung daraus geworden. Hans hatte Muths Bibliothek geordnet, Sophie wohnte gelegentlich bei ihm. Es gab Vorleseabende mit Haecker und weiteren Freunden von Muth, um außerhalb der Öffentlichkeit in Zirkeln dafür zu sorgen, dass die Gegner dieses Staates nicht auseinander dividiert und in die Isolierung gedrängt werden.“33

      Diese Umschreibung enthält Hinweise auf die beflügelnden Leseabende und auch auf deren dezidierte Zielsetzung, die Gegner des NS-Staates zu versammeln, zu solidarisieren und durch „geistige Nahrung“ moralisch zu stärken.

      Für Otl Aicher und die Geschwister Scholl waren Leseabende nichts Neues: Schon 1938 hatten sie solche im Haus der Familie Scholl in Ulm veranstaltet und ein Theaterstück von Henry von Heiseler mit verteilten Rollen, philosophische Texte des russischen Glaubensverteidigers, Dichters und Religionsphilosophen Wladimir Solowjew (1853 – 1900) und des ebenfalls russischen Philosophen Nikolai Berdjajew (1874 – 1948) gelesen. Letzterer vertrat seit 1911 eine „Philosophie der Freiheit“ und hatte nach seiner Abkehr vom Marxismus die religionsphilosophische Zeitschrift „Der Weg“ herausgegeben.

      Die Studenten aus diesem Kreis waren auch mit älteren Freunden und Mentoren in Kontakt, die teilweise ebenfalls die Leseabende besuchten. Dazu gehörten Schriftsteller, Wissenschaftler, Buchhändler, Architekten, Journalisten und Maler, Persönlichkeiten wie Karl Muth, Theodor Haecker, Kurt Huber (1893 – 1943), Alfred von Martin (1882 – 1979), Werner Bergengruen (1892 – 1964), Sigismund von Radecki (1891 – 1970), Josef Furtmeier (1887 – 1969), Josef Söhngen (1894 – 1970), Heinrich Ellermann, Harald Dohrn (1885 – 1945), Manfred Eickemeyer und Wilhelm Geyer (1900 – 1968).

      Vermerke Willi Grafs in seinem Tagebuch weisen auf die Leseabende hin. Er selbst wurde aller Wahrscheinlichkeit nach im Anschluss an eine Lesung Theodor Haeckers aus „Der Christ und die Geschichte“ in den engsten Kreis der Weißen Rose einbezogen.34

      Um existenzielle Fragen ging es ab 1941 auch bei den Leseabenden der Münchener Studentengruppe und ihrer Mentoren, die Haecker zwar mitgestaltete, in deren Aktionen er aber nicht eingeweiht war. Die Orientierung am Vorbild Haeckers geht aus Schriften, Briefen, Tagebüchern und Flugblättern hervor. Otl Aicher drückt diese Verbindung später so aus: „ermutigt durch hinweise haeckers, hatten wir begonnen, kierkegaard zu lesen35 und zu begreifen, was man neuerdings mit existenz meinte.

      sophie hatte nicht unrecht, wenn sie darauf hinwies, daß heute die philosophie geneigt ist, kierkegaard mit seiner inneren erfahrung mehr recht zu geben als einer systemphilosophie der ,äußeren‘ seinskategorien, einer philosophie als wissenschaft.

      (...) in einer diktatur tritt in der tat die frage nach der wahrheit, die eigentliche frage der philosophie in den hintergrund. es geht nicht mehr um die erkenntnis als erkenntnis, sondern um das jetzt richtige, um das für mich richtige. das subjekt kommt ins spiel. (...)

      wo die wahrheit aber zum ereignis wird, wo sie in konstellationen auftritt, wo ihr kriterium die richtigkeit ist, wird philosophie zum handeln. zu einem handeln, das erkenntnisse freigibt.“36

      Haeckers Einfluss hinsichtlich der Frage nach der Existenz wird auch von der Schriftstellerin Ilse Aichinger hervorgehoben: „So wie in Frankreich der Existenzialismus die Philosophie des Widerstandes war, so gab es auch bei uns einen christlichen Existenzialismus, der stark beeinflusst war von Søren Kierkegaard und Theodor Haecker.“37

      Für die widerständigen Studenten stellte sich oftmals die Frage nach dem richtigen Weg: „Wohin sollen wir denn gehen?“ Theodor Haecker seinerseits setzte auf die Jugend, noch bevor er den Studenten in den Leseabenden begegnet war:

      „Wenn man mir sagt, daß die heutige deutsche Jugend, die offizielle, von den 2500 Jahren christlicher (...) Geschichte nichts weiß, nichts wissen will und keineswegs begeistert werden kann, so weiß ich das und es macht mich traurig. Wenn man mir aber sagt, daß unter ihr überhaupt keiner sei, der im Innersten davon berührt werde, dann werde ich heiter, denn das glaube ich nicht, denn das ist nicht wahr. Es gibt solche, und sie sind der Adel der deutschen Jugend. Sie werden unter einer Wolke leben, wie ich auch. Sie werden aber im Glanze eines unsterblichen Lichtes stehen, wie ich auch. Und sie werden das wissen, wie ich auch.“ (Mai 1940)

      Auf die andere Frage: „Was sollen wir tun in dieser schweren Zeit?“, rät Haecker seinen Gesinnungsfreunden im „Dialog über Europa“:

      „In solcher Zeit, o meine Freunde, wollen wir beizeiten überlegen, was wir mitnehmen sollen aus den Greueln der Verwüstung. Wie Äneas zuerst die Penaten, so wir das Kreuz, das wir immer noch schlagen können, ehe es uns erschlägt. Und dann: nun, was einer am heißesten liebt. Wir aber wollen nicht vergessen unsern Vergil, der in eine Rocktasche geht.“38

      Haecker hatte der Kunsthändlerin Grete Volle diese Sätze aus Bremen als Widmung in ihr Exemplar von „Was ist der Mensch?“ geschrieben. Sie charakterisieren seine christliche Position. Rückblickend geht auch Otl Aicher auf dieses Buch ein, um damit die „Unangepasstheit“ Haeckers einmal mehr zu beweisen.

      Haeckers Menschenbild und dessen Zusammenhang mit der „Weißen Rose“, um das es hier geht, kommt in vielen seiner Texte zum Ausdruck. Dabei sieht er den Menschen auf christlicher Grundlage, als einen, der sich um Gerechtigkeit bemüht, nach Wahrheit strebt, frei ist von Überheblichkeit und Machtanmaßung. Deshalb gewahrte er umso intensiver auch das Gegenbild seiner Vorstellung vom Menschen. Enthalten ist darin auch eine umfangreiche Passage über das „Reich“.

      Am 4. Februar 1943, kurz vor den letzten verzweifelten Aktionen der „Weißen Rose“, ist in Willi Grafs Tagebuch ein nochmaliges Treffen vermerkt:

      „Um 16 Uhr treffen wir uns: Häcker liest den ersten Teil aus seinem ,Schöpfer und Schöpfung‘. Über zwei Stunden spricht er, ich habe manches Besondere verstanden und gehört.“39

      Bei dieser Lesung, die im Atelier Eickemeyer stattfand, waren etwa 25 Freunde und Bekannte anwesend, darunter aus dem engsten Kreis der „Weißen Rose“ Hans und Sophie Scholl sowie Willi Graf. Sophie Scholl berichtete über Haeckers Lesung in einem Brief an ihren Freund Fritz Hartnagel:

      „Seine Worte fallen langsam wie Tropfen, die man schon vorher sich ansammeln sieht, und die in diese Erwartung hinein


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