Eigensinn und Bindung. Daniel Hoffmann G.

Eigensinn und Bindung - Daniel Hoffmann G.


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Auflösungsgeschichte fester Identitäten kann derlei beschrieben werden, sondern ebenso begründet als ein Prozess, in dessen Verlauf neue Formen katholischer Lebenswelt entstehen.

      Sinn für Pluralismus bedeutet übrigens nicht, sich vom Widerstreit der Ansichten treiben zu lassen und keine Stellung zu beziehen. Er bestreitet nur, dass es in allen Wirklichkeitsbereichen lediglich eine, dazu noch für alle Zeiten „objektive“ katholische Denkmöglichkeit gibt. Tradition ist ein Schatz, kann aber auch zum Bann werden, wenn sie vor dem Horizont neuer Erfahrungen nicht sinnvoll geöffnet, auch behutsam korrigiert wird. Carlo Maria Martini, einer der klügsten ihrer hohen geistlichen Repräsentanten, empfiehlt im Anschluss an 1 Thess 5, 21 f. seiner Kirche, wie mit der zeitgenössischen Kultur umzugehen sei, und entwirft nebenbei ein Programm katholischer Intellektualität: „Seid nicht überrascht durch Vielfalt. Seid nicht geängstigt durch das, was anders oder neu ist, sondern betrachtet es als etwas, in dem ein Geschenk Gottes zu finden wäre. Stellt unter Beweis, dass ihr Dingen zuhören könnt, die ziemlich verschieden von dem sind, was wir gewöhnlich denken.“18

      Selbstverständlich gibt es im katholischen Bewusstsein legitime Meinungsverschiedenheiten und Richtungsunterschiede, bilden sich differente Strömungen und Herangehensweisen, Bezugspunkte und Identifikationsmöglichkeiten ab. Schlimm wäre allein das Gegenteil. Fragen müssen gestellt und in unterschiedlichem Sinne beantwortet werden können, auch wenn die Ergebnisse, zu denen man gelangt, keineswegs alle oder in allem der jeweiligen amtlichen Agenda entsprechen. Nicht eine Gefahr für die Einheit der Kirche liegt hierin begründet, eher sogar die Bedingung für deren anspruchsvolle Möglichkeit.

      Wie eingeigelt nämlich die konkrete Gestalt des Katholischen in unterschiedlichen Zeitläuften auch (gewesen) sein mag, und ohne religionsphänomenologisch allzu tief zu graben: Von jeher bietet seine zentrale Denkfigur Spielräume, die dem Intellektuellen entgegenkommen – ganz abgesehen davon, dass der Geist des Evangeliums wesentlich einer der Wertschätzung von verantworteter Freiheit ist. Katholisch im Wortsinne bedeutet immer, auch anverwandlungsoffen zu sein, wenn man (wie dies weithin Konsens ist) als sein Grundcharakteristikum ein Wirklichkeitsverhältnis des et – et versteht,19 eines auf Vermittlung ausgerichteten „sowohl – als auch“. Karl Lehmann spricht daher von einer „sehr hohen (...) Integrationskraft“ des Katholischen. In einer „differenzierten Dialektik“ verbinde es „die Freiheit des Gewissens und die Verbindlichkeit von Normen und Weisungen“.20 Eine Polyphonie der einzelnen Positionen macht Hans Urs von Balthasar zufolge den Charme des Begriffs aus.21 In diesem Rahmen ließen sich auch Eigensinn und Kirchlichkeit mit Gewinn aufeinander beziehen. Ein derartiges Verständnis kann sich auf eine Jahrhunderte alte Tradition berufen, die seit der „Gegenreformation“ und besonders während des 19. Jahrhunderts in Abwehr des modernen Freiheitsbewusstseins leider der zunehmenden lehrgesetzlichen Verengung gewichen ist. Unabhängigkeit bedeutet ja nicht Unverbundenheit, und Treue ist weder mit geistiger Trägheit zu verwechseln noch mit allfälligem Schulterschluss. Verankerung in der katholischen Kirche muss prinzipiell keine Einschränkung der Autonomie des Intellektuellen bedeuten. Überdies handelt es sich bei der Parrhesie, dem Freimut, welcher notfalls auch der höchsten Autorität „ins Angesicht widersteht“ (vgl. Gal 2, 11), um eine ur-kirchliche Tugend.

      Solcher inneren Bezüge des Katholischen zu dem, wovon Intellektualität lebt, ungeachtet, und trotz der Tatsache, dass es sich bei einigen seiner hohen Amtsträger wiederholt selbst um Intellektuelle handelt – auch wenn es von dieser Rolle her natürlich Besonderheiten in der Gestaltung des Habitus und des Diskurses gibt –, besteht zwischen kirchlicher Gemeinschaft und den Ansprüchen des Intellektuellen letztlich ein Spannungsverhältnis, das man nicht einebnen sollte. Vielmehr wäre es fruchtbar zu machen. Der katholische Intellektuelle ist daher stets ein Katholik im Spagat zwischen Freiräumen und Gebundenheiten: keine einfache, aber eine reizvolle und wichtige Daseinsform.

      Stets wäre jedenfalls an einen umfassenden Begriff von Katholizität zu erinnern, der keine Konfessionsbezeichnung meint, nichts partikular sich Abschließendes, sondern, wo immer möglich, auf Berührung und Teilhabe gerichtet ist. Er kann, ja soll auf eine reflexiv begründete Weite zielen, die manchmal sogar scheinbare Gegensätze zu umfassen vermag. Katholische Intellektualität leistet daher per se einen Beitrag zum Stand der gesamtchristlichen Diskussion. Intellektuelle beider Kirchen waren es ja, der protestantischen und der katholischen, die in Deutschland während der NS-Zeit Anfänge eines freundschaftlichen Miteinanders praktizierten. Hier wäre ein verpflichtendes Erbe zu wahren, das inhaltlich in hohem Maße legitimierbar ist. Auf beiden Seiten wächst zuletzt freilich wieder das Bedürfnis nach „Profil“ – wie man sich in ökonomisch dominierten Zeiten unter Wettbewerbern auf einem gemeinsamen Markt, hier: der spirituellen und Sinn-Ressourcen, eben gern auf die Suche nach dem Alleinstellungsmerkmal macht.

      Auch wenn es unterschiedliche Denkformen und Lehrtraditionen geben mag, unterschiedliche Stile und Ausformungen des kulturellen Gedächtnisses, teilweise auch der fortwirkenden Sozialisation, sollte man „eine vielleicht vorhandene Differenz“ sicher nicht „unangemessen fixieren und auf diese Weise zu einem Unterscheidungsmerkmal hochsteigern, das es in Wirklichkeit gar nicht ist“.22 So steht bei inhaltlichen Eigentümlichkeiten katholischer Intellektualität, die teilweise angeführt werden,23 am Ende, geht man den Spuren nur genau genug nach, oft ein interkonfessioneller Transfer. Dass es bis in die Gegenwart hinein fortbestehende Ressentiments gegenüber Protestanten auch bei katholischen Intellektuellen gibt, ist leider eine andere Sache.

      Statt mehr oder weniger ergebnisarme Kultivierung historisch gewachsener Unterschiede zu betreiben, muss der katholische Intellektuelle seine Identität jedenfalls nicht konstruieren, indem er sich von anderen christlichen Bekenntnissen schroff abgrenzt. Es reicht, wenn er sich auf seine Traditionen – im Plural ausdrücklich! – beruft, und oft genug wird er die Entdeckung machen, dass das, was kontroverstheologisch überbetont wurde und wird, in schönster Nachbarschaft beieinander liegt. Ohnehin scheinen – wenigstens bei der jüngeren Generation – wirklich lebensprägende Differenzen längst nicht mehr zwischen Protestanten und Katholiken zu bestehen, sondern zwischen den christlich Ansprechbaren und den Gleichgültigen.

      Katholisch-Sein als Heimat ohne vorschnelle Abgrenzung also. Religionen sind heute mit Recht vielen gerade deswegen suspekt, weil sie Mauern errichten, die Menschen voneinander trennen. Das katholische Prinzip ist demgegenüber das einer bisweilen paradoxen Koexistenz. Daher ist ihm implizit eine große Ökumene eingeschrieben, auf die gegen alle Erstarrungen und Verengungen in seinem Namen zu bestehen wäre.

      Für eine besonnene Moderne

      Dies alles ist natürlich nach innen gesprochen, mit Blick auf die Kirche, jenen der beiden Pole katholischer Intellektualität, der sich bei der Verteidigung des Eigensinns in der Bindung immer wieder als der konfliktträchtigere herausstellt. Der andere, eigentlich gewichtigere, befindet sich jenseits der Binnenperspektive (die im Übrigen oft Gefahr läuft, zur Nabelschau zu geraten) und wird durch die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeiten der Gegenwart bezeichnet. Dort herrscht das Paradigma der vorangeschrittenen Moderne. Wenn es gilt, ihr Verhältnis zu diesem zu bestimmen, werden von katholischen Intellektuellen durchaus unterschiedliche Signale ausgesendet. Die extremsten Ausschläge bewegen sich zwischen der Fortschreibung entschiedener Gegnerschaft zur Moderne und einer Selbstsäkularisierung zugunsten von Fortschrittsdenken oder der Ethik einer Zivilreligion. Dazwischen gibt es zahllose Anschlussfähigkeiten und Problematisierungen im Detail, mag manches sich auch als transitär erweisen.

      Bestehende Schwierigkeiten vieler Intellektueller mit dem kircheninternen Klima wiederholen sich auf dem anderen Feld in gewisser Weise. Die säkulare Gesellschaft ist keineswegs frei von Abwehrgesten einem Denken gegenüber, das religiös bezogen ist. Katholische Intellektuelle mögen somit zuweilen Fremdlinge im doppelten Sinne bleiben. Sie argumentieren quer zu den Linien. Daraus sich ergebende Gemengelagen sind niemals auf einen Nenner zu bringen.

      Habituelle Schwermut bei manchen Vertretern katholischer Intellektualität verweist auf eine Versehrtheit, die eines der wertvollsten Zeugnisse dieses Typus darstellt. Es sind Tragiker, welche die Versöhnung mit der Realität verweigern und damit an ihre naturwüchsige Erlösungsbedürftigkeit erinnern:


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