Die Anarchisten. John Henry Mackay
habe auf die von vielen Seiten an mich gerichtete Frage zu antworten: warum ich, um meinen Ideen eine weitere Verbreitung zu geben, nicht agitiere, nicht propagandiere, nicht in den Versammlungen spreche und diskutiere, und vor allem, weshalb ich nicht auf dem einzigen Wege, auf dem die Mehrzahl der Menschen heute allein noch erreichbar ist, dem der Presse, zu ihnen gehe.
Ich erwidere darauf: weil ich es nicht kann; weil ich es nicht könnte, auch wenn ich es wollte. Die Gaben der Menschen sind verschieden. Ich bin ein Künstler; vielleicht nicht »durch und durch«, denn mein Interesse gehört vielem im Leben, doch so manches lastet auf mir, von dem ich mich, ich fühle es, nur befreien kann in dichterischem Schaffen. Die Herausgabe und Leitung einer Zeitung aber würde mich töten, und ein Hervordrängen meiner Person in den lauten, rohen Kampf des Tages und seiner Meinungen wäre mir ebenso unmöglich.
Man erwarte also nichts von mir als »von Zeit zu Zeit ein Buch«. Vielleicht, daß ich die hier begonnene Arbeit direkt wiederaufnehme; aber solange die großen, klaren Grundlinien der Weltanschauung des Anarchismus noch so wenig begriffen worden sind, solange der Boden, auf dem sie sich aufbaut, ein noch so unbetretener ist, solange noch immer wieder anzukämpfen ist gegen das völlige und in seiner Allgemeinheit beispiellose Mißverstehen schon des Wortes an sich - so lange drängt mich nichts zu umfassenderen und begründeteren Darlegungen.
Möge daher vorerst dies Werk noch einmal seine ungeschwächte Kraft erproben und das Bollwerk der Voreingenommenheit von neuem berennen, immer dieselbe Stelle, bis ein Weg sich öffnet.
Ich habe meine letzte Lanze für die Freiheit noch nicht gebrochen. Aber die Wahl meiner Waffen, ich muß sie mir immer vorbehalten.
Das letzte Wort den Freunden der Freiheit: meinen bekannten, meinen unbekannten Freunden ...
Alles, sie mögen davon überzeugt sein, wird auch hier getan werden, wenn die Zeit dazu gekommen ist: mit den rechten Männern werden sich auch die rechten Wege, und dann auch die Mittel, sie zu beschreiten, finden. Nach dem so glänzend gegebenen Beispiel meines großen amerikanischen Freundes, dessen Sein und Wirken allein schon genügen müßte, um keinen Augenblick die Hoffnung sinken zu lassen, wird sich auch hier eine Propaganda entfalten, gewiß aus kleinen Anfängen heraus, aber unternommen und ins Werk gesetzt mit jener aus Wissen, Erkenntnis, Überlegung, Entschlossenheit, Zähigkeit und Mut geborenen Überlegenheit, welche zwar gelangweilt und ermüdet, nicht aber entmutigt und beirrt werden kann, da sie nicht zu überreden, sondern einzig und allein zu überzeugen bestrebt ist.
Dann wird dieses Buch ein Anfang gewesen sein ... Das wünscht keiner heißer als ich.
Nur der versteht die Freiheit, welcher sie liebt. Wer sie aber - und darin liegt alle Zukunft - liebt als die Notwendigkeit seines Lebens, der muß sie auch, durch alle Irrtümer hindurch, verstehen lernen … Aus dem Wirrwarr und dem Widerstreit der Meinungen hebt sich klar, verständlich, siegreich am Ende unseres Jahrhunderts allein die Lehre von der Souveränität des Individuums.
Wer wagt es zu leugnen, daß sie daß Ziel aller menschlichen Entwicklung ist?
Barbarei und Knechtschaft vergangener Zeiten haben uns endlich zu der Erkenntnis gebracht, daß Kultur und Zivilisation erst in jenem Zustand der Gesellschaft ihren höchsten Triumph zu feiern imstande sind, in welchem mit dem letzten Vorrecht auch die Gewalt, die es schützte, der Staat, geschwunden ist: dem Zustande gleicher Freiheit, wo ein verfeinerter und höchstgesteigerter Egoismus auch den Letzten gelehrt hat, daß seine Freiheit wächst und abnimmt mit der Freiheit des anderen, daß er in demselben Maße unabhängiger wird, als er seinem Nächsten erlaubt, unabhängig von ihm zu sein.
Vergebens werden wir weiter versuchen, uns den letzten Konsequenzen zu entziehen, zu denen die Logik des Denkens uns mit unfehlbarer Sicherheit und unaufhaltsamer Kraft treibt. Denn wir dürsten nach Glück, dem Glück auf Erden. Und nicht eher - den trüben Fanatikern des Kommunismus, wie den schwankenden Machthabern der Gewalt gleich zum Trotz - werden wir ruhen, bis wir uns dieses Glück, welches die Freiheit ist, errungen haben.
Berlin, im Frühjahr 1893
Erstes Kapitel: Im Herzen der Weltstadt
Über London hin begann sich ein naßkalter Oktoberabend zu breiten. Es war der Oktober desselben Jahres, in welchem noch nicht fünf Monate vorher jene albernen Feierlichkeiten der fünfzigjährigen Regierungszeit einer Frau, welche sich »Königin von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien« nennen ließ, in Szene gesetzt waren, nach denen das Jahr 1887 »Jubilee Year« genannt wurde.
An diesem Abend - es war der letzte einer Woche - suchte sich durch wirre, enge und fast leere Gassen ein Mann aus der Richtung von Waterloo Station her nach der Eisenbahnbrücke von Charing Cross seinen Weg. Als er langsam, wie ermüdet von einem stundenweiten Gange, die Holztreppe, welche zu dem schmalen, neben den Schienen sich hinziehenden Fußgängerpfad der Brücke führt, hinaufgestiegen und ungefähr über der Mitte des Flusses angelangt war, trat er in eine der runden Ausbuchtungen nach der Wasserseite hin und stand dort eine Weile, während er die Menschen hinter sich vorbeitreiben fühlte. Es war mehr eine Gewohnheit als eigentliche Ermattung, die ihn haltmachen und die Themse hinunterblicken ließ. Da er trotz seines bereits dreijährigen Aufenthaltes in London nur selten »jenseits der Themse« gewesen war, so versäumte er nie, bei Überschreitung einer der Brücken den großartigen
Anblick, den London von einer jeden unter ihnen bietet, wieder in sich aufzufrischen.
Es war noch eben hell genug, daß er bis nach Waterloo Bridge hin zu seiner Rechten die dunklen Massen der Lagerhäuser und auf dem Spiegel der Themse zu seinen Füßen die Reihen der aneinandergekoppelten weitbauchigen Frachtkähne und Flöße erkennen konnte, doch flammten bereits überall die Lichter des Abends in das dunkle, gähnende Chaos dieser ungeheuren Stadt hinein. Wie parallele Linien zogen sich die beiden Latemenreihen auf Waterloo Bridge hin, und jedes der Lichter warf seinen scharfen, flimmernden Schein tief und lang nieder in die zitternde, dunkle Flut, während zur Linken in terrassenförmigem Aufstieg die ungezählten kleinen Flammen, welche die Embankments und den Strand mit seiner Umgebung allabendlich erhellten, aufzuleuchten begannen. Der ruhig Dastehende sah drüben auf der Brücke die vorüberhuschenden Lichter der Cabs; er hörte hinter sich die Züge der Südostbahn rasselnd und dröhnend in die Halle von Charing Cross hineinrasen und wieder hinaus; sah unter sich die trägen Wellen der Themse mit fast unhörbarem Plätschern an der sich tief herabziehenden dunkelschwarzen Schlammasse lecken, und indem er sich zum Weitergehen wandte, öffnete sich vor ihm - von weißen Fluten des elektrischen Lichtes taghell durchleuchtet - die Riesenhalle des Bahnhofs von Charing Cross, dieser Mittelpunkt eines Tag und Nacht nicht rastenden Getriebes ...
Er dachte an Paris, seine Heimatstadt, als er langsam weiterschritt. Welcher Unterschied zwischen den breiten, flachen und hellen Ufern der Seine und diesen starren, ragenden Massen, auf welche selbst die Sonne keinen Schimmer von Freude zu zaubern vermochte!
Er sehnte sich zurück nach der Stadt seiner Jugend. Aber er hatte London lieben gelernt mit der leidenschaftlichen, eifersüchtigen liebe des Trotzes.
Denn man liebt London entweder, oder man haßt es ...
Wieder blieb der Wanderer stehen. So hell war die riesige Halle erleuchtet, daß er die Uhr an ihrem Ende deutlich erkennen konnte. Die Zeiger standen zwischen der siebenten und der achten Stunde. Das Leben auf dem Fußweg schien sich verstärkt zu haben, als ob eine Menschenwelle von diesseits nach jenseits hinüber gespült würde. Es war, als ob der Zögemde sich nicht losreißen könne. Er betrachtete einen Augenblick das unablässige Spiel der Signalarme an dem Einfahrtspunkte der Halle; dann versuchte er, über die Schienen hinweg und durch das Gewirr von Eisenpfosten und Waggons Westminster Abbey mit seinen Blicken zu erreichen; aber er konnte nichts als das schimmernde Zifferblatt am Turm von Parliament House erkennen und die dunklen Umrisse gigantischer Steinmassen, welche sich drüben erhoben. Und überall hingewirrt die tausend und abertausend Lichter ...
Wieder wandte er sich nach der freien Seite, an welcher er vorher gestanden hatte. Unter seinen Füßen rollten dumpfbrausend die Züge der Metropolitan Railway hin; die ganze Weite des Victoria Embankment lag bis Waterloo Bridge halbhell erleuchtet unter ihm.