Die Anarchisten. John Henry Mackay

Die Anarchisten - John Henry Mackay


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Mädchen, welche allabendlich die Bänke der Embankments belegt hatten. »Do not forget me-do not forget me« war der Refrain. Ihre Stimmen klangen hart und schrill. »Do not forget me« - überall konnte man es im Jubilee Year in London hören ... Es war das Lied des Tages.

      Wer das Gesicht des eben über den Brückenrand Gebeugten jetzt beobachtet hätte, dem wäre ein seltsamer Ausdruck von Härte nicht entgangen, der es plötzlich beherrschte. Der Fußgänger hörte nichts mehr von dem verhaltenen, hier gedämpften Lärm und dem trivialen Gesang. Ein Gedanke hatte ihn wieder beim Anblick der gewaltigen Kai-Anlage zu seinen Füßen gepackt: wieviel Menschenleben mochten wohl unter diesen weißen Granitquadern, so sicher und unüberwindlich aufeinandergetürmt, zermalmt sein? Und er dachte wieder jener schweigenden, unbelohnten, vergessenen Arbeit, welche all das Große, das er um sich sah, geschaffen.

      Schweiß und Blut werden abgewaschen, und der Einzelne erhebt sich lebend und bewundert auf den Leichen von Millionen Ungenannt-Vergessener ...

      Als stachele ihn dieser Gedanke auf, schritt Carrard Auban weiter. Indem er die Steinbögen am Ende der Brücke durchmaß, die Überreste der alten Hungerford Suspension Bridge, sah er zu Boden und ging schneller. Wieder, wie immer, lebte er in den Gedanken, denen auch er die Jugend seines Lebens gewidmet hatte, und wieder packte ihn die grenzenlose Größe dieser Bewegung, welche die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrjunderts die »soziale« genannt hat: dorthin Licht zu tragen, wo noch das Dunkel herrscht -in die duldenden, unterdrückten Massen, deren Leiden und langsames Sterben »den anderen« das Leben gibt ...

      Aber als Auban die Brückentreppe niedergestiegen war und sich in Villiers Street, jener merkwürdigen kleinen Straße, die vom Strand nach dem Stadtbahnhof von Charing Cross hinabführt, befand, wurde er wieder von dem ihn umrauschenden Leben gefesselt. Unaufhörlich drängte es sich an ihm vorbei: diese wollten noch den Zug erreichen, der eben jene, welche so eilig dem Strand zueilten - verspätete Theaterbesucher, die sich vielleicht wieder in den Entfernungen Londons geirrt -, ausgespien hatte; hier redete eine Prostituierte auf einen Herrn im Seidenhut ein, den sie mit einem Wort und einem Blick ihrer müden Augen hierher gelockt hatte, um mit ihm über den »Preis« handelseinig zu werden; und dort drängte eine Schar hungriger Gassenkinder ihre schmutzigen Gesichter an die Scheiben eines italienischen Waffelbäckers, gierig jede Bewegung des unermüdlich Arbeitenden verfolgend - Auban sah alles. Er hatte dieselbe Aufmerksamkeit eines im Beobachten geübten Auges für den zehnjährigen Jungen, welcher den Vorübereilenden einen Penny abzubetteln suchte, indem er vor ihnen her auf dem feuchten Straßenpflaster Rad schlug, und für die verkommenen Züge jenes Burschen, welcher sofort, als er stehengeblieben war, sich an ihn drängte und ihm die nächste Nummer der »Matrimonial News« - »für alle unentbehrlich, welche zu heiraten wünschen« - aufzuschwatzen suchte, aber sich sofort dem nächsten zuwandte, als er sah, daß er keine Antwort erhielt.

      Auben ging langsam weiter. Er kannte dieses Leben zu gut, als daß es ihn noch verwirrt und betäubt hätte; und doch packte und fesselte es ihn immer wieder aufs neue mit seiner ganzen Gewalt. Er hatte während dieser Jahre Stunden und Tage seinem Studium gewidmet, und immer und überall fand er es neu und interessant. Und je mehr er ihre Strömungen, ihre Abgründe und ihre Untiefen kennenlernte, desto mehr bewunderte er diese einzige Stadt…

      Seit einiger Zeit war diese Zuneigung, welche mehr war als Anhänglichkeit und weniger eigentlich als Liebe, zu einer leidenschaftlich erregten geworden. London hatte ihm zu viel - weit mehr als dem Bewohner und dem Besucher - gezeigt; und nun wollte er alles sehen. Die Unruhe dieses Wunsches hatte ihn denn auch an dem heutigen Nachmitag hinübergestoßen auf das jenseitige Themse-Ufer, zu stundenlangen Wanderungen in Kennington und Lambeth - jenen Vierteln eines entsetzlichen Elends, um ihn müde und zugleich entmutigt und erbittert zurückkehren zu lassen und ihm jetzt am Strand den Widerschein wie die Kehrseite jenes Lebens zu zeigen.

      Er stand nun an dem Eingang des dunklen und öden Tunnels, welcher unter Charing Cross durch auf Northumberland Avenue zuläuft. Die schrillen und zitternden Töne eines Banjo drangen an sein Ohr; eine Gruppe von Vorübergehenden hatte sich zusammengescharrt: in ihrer Mitte schlug ein Knabe in zerrissenem Karikaturkostüm und mit überrußtem Gesicht sein Instrument - wer hat die bizarren Gestalten dieser »Neger-Komödianten« nicht schon an den Straßenecken Londons ihre lärmenden Singtänze aufführen sehen? -, während zu seinen Klängen ein Mädchen mit jener mechanischen Gleichgültigkeit tanzte, die keine Ermüdung zu kennen scheint. Auban warf, indem er sich vorbeidrängte, auch in das Gesicht dieses Kindes einen Blick: Gleichgültigkeit und doch zugleich eine gewisse Ungeduld lag auf ihm.

      »Sie ernähren ihre ganze Familie, die Armen«, murmelte er. In der nächsten Minute hatte sich die Menge zerstreut und das kleine Paar sich zur nächsten Straßenecke durchgedrängt, dort Spiel und Tanz von neuem zu beginnen, bis der Policeman sie forttrieb, der gehaßte, der gefürchtete.

      Auban durchschritt den Tunnel, dessen Steinboden von Schmutz übersät war, und aus dessen Ecken eine verpestete Luft aufstieg. Er war fast leer; nur hin und wieder schlich eine unerkennbare Gestalt an den Wänden hin und an ihm vorüber. Auch Auban wußte, daß an naßkalten Tagen und Nächten hier, so gut wie an Hunderten anderer Durchgänge, ganze Reihen von Unglücklichen lagen, dicht aneinander und gegen die kalten Wände gepreßt, und immer gewärtig, im nächsten Augenblick von dem »Arm des Gesetzes« auseinandergetrieben zu werden: Haufen von Kot und Lumpen, verkommen in Hunger und Schmutz, die »Parias« der Gesellschaft, die in Wahrheit Heimatlosen ...

      Und während er die Stufen am Ende des düsteren Ganges emporstieg, stand vor ihm plötzlich wieder jene Szene, welche er vor etwa einem Jahre an diesem Ort erlebt hatte, mit einer so erschreckenden Deutlichkeit, daß er unwillkürlich stehen blieb und sich umsah, als müsse sie sich leibhaftig vor seinen Augen wiederholen -:

      Es war an einem feuchtkalten Abend, gegen Mitternacht, die Stadt in Nebel und Rauch wie in einen undurchsichtigen Schleier gehüllt. Er war hierhergegangen, um einzelnen der Obdachlosen die wenigen Kupferstücke zu geben, welche sie brauchten, um die Nacht über in einem Lodginghouse, statt in der eisigen Kälte der Nacht, zu verbringen. Als er die Stufen niedergeschritten war - der Tunnel war überfüllt mit Menschen, die, nach allen Stadien des Elends, am letzten angelangt waren -, sah er vor sich ein Gesicht auftauchen, welches er nie wieder vergessen hatte: die von Aussatz und blutigen Geschwüren entsetzlich entstellten Züge eines Weibes, welches - an der Brust einen Säugling - ein etwa vierzehnjähriges Mädchen an der Hand nach sich schleppte, während ein drittes Kind, ein Junge, sich an ihren Rock anklammerte. - Zwei Shilling nur, Gentleman, zwei Shilling nur! - Er war stehen geblieben, um sie zu fragen. - Zwei Shilling nur! Sie ist noch so jung, aber sie wird alles tun, was Sie wollen... und dabei zog sie das Mädchen näher, welches sich zitternd und weinend abwendete.

      Ein Schauder überlief ihn. Aber die flehende Stimme des Weibes ertönte weiter:

      Bitte, nehmen Sie sie doch mit. Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir draußen schlafen; - nur zwei Shilling, Gentleman, nur zwei Shilling, sehen Sie nur, sie ist so hübsch... und wieder riß sie das Kind an sich.

      Auban fühlte, wie das Entsetzen ihn überschlich. Er wandte sich - unfähig, ein Wort hervorzubringen - zum Gehen.

      Aber er hatte noch keinen Schritt getan, als sich das Weib plötzlich schreiend vor ihm auf den Boden hinwarf, das Mädchen mit sich riß und sich an ihn anklammerte.

      Gehen Sie nicht fort! Gehen Sie nicht fort! schrie sie in entsetzlicher Verzweiflung. - Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir verhungern - nehmen Sie sie mit - hierher kommt sonst niemand mehr, und auf den Strand dürfen wir nicht - tun Sie es doch - tun Sie es doch!...

      Aber, als er sich, ohne es zu wollen, umsah, sprang die vor ihm Liegende plötzlich auf.

      Rufen Sie keinen Policeman! Nein, rufen Sie keinen Policeman! rief sie ängstlich-schnell.

      Da, als sie aufstand, gewann Auban seine Ruhe wieder. Er griff wortlos in die Tasche und reichte ihr hin, was er an Geld erfaßte. Das Weib stieß einen Freudenschrei aus. Wieder nahm sie das Mädchen am Arm und stellte es vor ihn hin.

      Sie wird mit Ihnen gehen, Gentleman - sie wird alles tun, was Sie wollen... fügte sie flüsternd hinzu. Auban wandte sich ab


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